Osnabrück - Mit den Toten reden können. Und sie antworten Dir. Also nicht nur in Deiner Phantasie, sondern in echt - Du bekommst eine tatsächlich gesprochene Rückantwort auf das, was Du gesagt hast, und es bezieht sich auf Dein Gesagtes. Du kannst die Toten auch sehen. Bis vor wenigen Jahren war das Zukunftsmusik, jetzt ist es bereits Realität. "Digital Afterlife" heißt diese sich entwickelnde Branche. Zum Einsatz kommen aus alten Videos und Fotos destillierte Bilder und ein mit der Stimme des toten Menschen programmierter Chatbot, also ein computerisiertes Sprachsystem, gekoppelt an eine künstliche Intelligenz. Aber wie wird sich das auf die Menschheit auswirken, wenn die Sehnsucht nach den Gestorbenen nicht mehr länger unstillbar bleiben muss? Wie wird es die Trauer verändern? Und wie das, was ich anbiete - also die Trauerbegleitung?
Mit das Quälendste, das die Trauer uns bringen kann, ist diese enorme Sehnsucht nach dem oder den gestorbenen Menschen. Eine so starke Sehnsucht, dass sie sich manchmal sogar in Form eines Nachsterbenwollens manifestieren kann, weil wir der Idee verfallen können, dort sein zu wollen, wo die Gestorbenen jetzt sind. Diese Sehnsucht ist unstillbar und gerade deswegen so quälend. Und eben weil sie so gewaltig sein kann, ist sie auch ein phantastisches Geschäftsmodell. Kein Wunder also, dass manche Menschen gerade daran arbeiten, diese Unstillbarkeit abzuschaffen. Werfen wir einen Blick in Richtung Südkorea und einen zweiten Blick in Richtung Kalifornien/USA, stoßen wir bereits auf die ersten Techniken, die das ermöglichen. Die Süddeutsche Zeitung hat in ihrer Samstagsausgabe vom 15./16. Mai 2021 zusammengefasst, wie weit diese Technologien schon fortgeschritten sind - in einem ebenso erschreckenden wie erhellenden Artikel.
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(Foto: Pixabay.com, CC-0-Lizenz) |
Man stelle sich das vor: Beim Bestatter wird nach der Auswahl des Sargs und des passenden Ritualgestalters für die Trauerfeier auch direkt ausgesucht, in welcher Form der gestorbene Mensch zu uns zurückkehren könnte. Reicht es auf dem Smartphone oder sollte es besser in der Virtual Realitiy sein? Was die TV-Serie "Upload" auf dem Streamingportal Amazon Prime derzeit komödiantisch durchspielt, könnte in gar nicht allzu ferner Zeit zum erweiterten Standardangebot eines jeden Bestatters gehören: Dass wir von den gestorbenen Menschen digitale Kopien anfertigen können und mit ihnen interagieren können. Das mag verrückt klingen, aber es hat bereits einen Namen und mehrere Anbieter: unter dem Stichwort "Digital Afterlife" kannst Du Dir bei einer Firma Deine Toten lebendig werden lassen. Jetzt schon. Was Du dafür brauchst, ist lediglich eine gute Portion an digitalem Material, das den gestorbenen Menschen zeigt - Videos, vor allem, aber auch Fotos, Sprachaufnahmen, Audionachrichten aus Whatsapp etc. -, die Du einer Firma zur Verfügung stellst. Und diese Firma macht daraus einen Avatar, dem Du in der Virtual Realitiy (VR) begegnen und mit dem Du interagieren kannst. Einfach die VR-Brille aufgesetzt, schon sitzt Dein Toter wieder neben Dir auf dem Sofa. Ach, hallo, wieder da...?
Weltbekannt: Die wiederbelebte gestorbene Tochter
Der gestorbene Mensch könnte Dir einen Witz erzählen. Oder ein Lied singen. Alles kein Problem. Das bislang wohl bekannteste Beispiel für eine solche digitale Wiederbelebung ist im Februar 2020 um die ganze Welt gegangen: Die siebenjährige Na Yeon, die an einer seltenen Krankheit gestorben war, wurde für ihre Mutter von der Firma "Vive Studios" als Avatar in die virtuelle Realität zurückgeholt. Wie realistisch das Kind aussieht, lässt sich anhand einiger auch in Deutschland in Nachrichtenmagazinen gezeigten Videos eindrucksvoll selbst erleben (z. B. über die Website des Spiegels unter diesem Link). Überhaupt, die Sehnsucht nach den gestorbenen Kindern - in den Männergruppen mit verwaisten Vätern, die ich selbst erleben durfte, war das immer wieder ein großes Thema. Aber ist es auch gut, wenn diese Sehnsucht erfüllt werden kann? Werden die Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise das als hilfreich erleben, als tröstend - oder wird die Realität dadurch nur noch unaushaltbarer?
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(Foto: Pixabay.com, CC-0-Lizenz) |
Eine der Grundfrage, die wir dann ebenfalls neu denken müssen: Braucht Sehnsucht die Unerfüllbarkeit? Ist diese Unerfüllbarkeit nicht im Grunde die Definition von Sehnsucht? Braucht es also für die Hinterbliebenen die Gnadenlosigkeit des Todes, damit sie sich wirklich einem Begreifen annähern können? Denn dieses Begreifen ist von einer enormen Bedeutung für den Trauerprozess. Eines der überzeugendsten Trauermodelle, das es gibt und das ich immer wieder gern zitiere, stammt von dem amerikanischen Forscher und Psychologen Dr. William J. Worden, der sein Modell als "Die Aufgaben der Trauer" - The Tasks Of Mourning - beschreibt (ich habe an anderer Stelle bereits ausführlicher darüber geschrieben). Worden sagt, dass uns die Trauer in Wahrheit vor Aufgaben stellt, die wir zu absolvieren haben. Und die erste und zugleich die schwierigste Aufgabe, sagt Worden, ist das Begreifen. Was genau heißt das?
Als Trauerbegleiter in den virtuellen Raum einsteigen
Es geht darum, die Tragweite des Verlusts zu akzeptieren, diesen als neue Realität anerkennen zu lernen. Der oder die Gestorbene ist tot, wird nicht wiederkehren, das muss erstmal verinnerlicht werden. Oft geht das nur in ganz kleinen Stücken oder ganz kleinen Schritten, oft berichten Trauernde, dass der Verstand dort weiter ist als das Herz es jemals sein könnte. Es ist ein enorm wichtiger, aber enorm schwieriger Prozess - für den aber die Abwesenheit der gestorbenen Menschen, die Endlichkeit des Lebens, die entscheidende Grundzutat ist. Was aber geschieht mit uns, wenn diese Abwesenheit wiederum, sagen wir, "aufgeweicht" werden kann? Wird es den Prozess des Begreifens verzögern? Wird es ein wirkliches Begreifen vielleicht gar verhindern? Oder wird es keine Rolle spielen, weil wir im Inneren doch irgendwie wissen, dass der Avatar des gestorbenen Menschen ja gar nicht echt ist? Zumal die Technik sich immer weiter entwickeln wird, sprich: Die technisch neu erzeugten Menschen werden in naher Zukunft immer besser wie echte Wiederbelebte wirken und agieren können. Das wiederum bedeutet - für die Trauer:
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(Foto: Pixabay.com, CC-0-Lizenz) |
Ich glaube, wir werden das Phänomen der Trauer in Teilen neu definieren müssen und neu denken müssen, wenn sich die virtuelle Wiederbelebung einmal durchgesetzt haben sollte. Zum Beispiel könnte es denkbar sein (und, in Teilen, vielleicht auch sinnvoll) eine Trauerbegleitung direkt in diesen virtuellen Raum zu verlagern. Sich als Trauerbegleiter in manche der Kontakte zwischen dem toten Menschen und dem leben Menschen mit einzuschalten, vielleicht als eine Art Scharnierfunktion oder um den Übergang vom digitalen in den echten Raum mitgestalten zu können - aber natürlich nur, wenn der zu begleitende Mensch dem zugestimmt hat, es handelt sich ja trotz aller Digitalität immerhin um etwas sehr Intimes - und zutiefst Menschliches. Jede Menge Pixel und Datenvolumen, aber alle vollgesogen von Menschlichkeit. Eine merkwürdige Welt kommt auf uns zu.
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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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Auf Youtube ansehen: Vortrag "Männer trauern anders" aus dem Forum St. Peter in Oldenburg (Nidersachsen) aus dem Juni 2021 - Link zum Video
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