Donnerstag, 27. April 2023

Eine Mutter verliert ihren erwachsenen Sohn - wie sie diesen Verlust literarisch verarbeitet, ist ergreifend und lesenswert - kein Werk hat mich in jüngster Zeit mehr bewegt als "Carls Buch" von Naja Marie Aidt - "Mein Schmerz war zu groß, um ihn in Worte zu fassen"

Hat der Tod Dir etwas genommen, dann gib es zurück. Mit diesem Satz auf dem Umschlagtitel hat mich das Buch direkt gepackt. Was uns die dänische Autorin Naja Marie Aidt nach dem tragischen Tod ihres 25-jährigen Sohnes zurückgibt, ist ein kleines Buch mit gar nicht so vielen Seiten - aber jede Zeile darin ist mit soviel Bedacht und Sorgfalt geschrieben, dass sich dieser wenige Text zu einem Destillat verdichtet, das Trauer begreifbar macht. Dieses Buch tut weh beim Lesen - und das ist gut so. Ein eindrucksvolles Werk, das mich genau zum richtigen Zeitpunkt angetroffen hat. 

Ich war - passenderweise, könnte man sagen - auf dem Weg zu den verwaisten Eltern, zu ihrem Jahreskongress in Leipzig 2022, als ich das Buch gelesen habe. Nur unterbrochen von meinem Workshop dort und dem Tagesaufenthalt in Leipzig, habe ich das Werk in zwei Zugfahrten nicht einfach nur gelesen, sondern förmlich in mich aufgesogen. "Das Schreiben gab mir die Möglichkeit, etwas Sinnvolles aus etwas Sinnlosem zu schaffen", hatte die Autorin Naja Marie Aidt der Süddeutschen Zeitung zu Beginn 2022 im Interview gesagt (SZ Nr. 303, Silvester und Neujahr 2022, Seite 52 - Link zum Text, allerdings Paywall). Sinnvoll ist das Werk geworden, wie wahr. Weil es Naja Marie Aidt gelungen ist, trotz aller Sprachlosigkeit exakt zu fixieren, wie Trauer sich anfühlen kann. 



Vor einigen Jahren hatte die Literatin ihren 25-jährigen Sohn Carl verloren. Er war nach der Einnahme von halluzinogenen Pilzen aus einem Fenster gesprungen. Aus dem vierten Stock. Die Einlieferung ins Krankenhaus, die bangen Stunden der Ungewissheit, sein Tod wenige Tage später, all das erleben wir in "Carls Buch" ganz unmittelbar aus der Perspektive seiner Mutter mit. Geschrieben in einer Mischung aus Tagebuchskizzen, literarischen Verdichtungen und teilweise Passagen in einem einzigen ungestoppten Bewusstseinsstrom ("stream of consciousness"), werden wir Zeuge dieses Prozesses. 

Gebrochenes Herz - medizinisch attestiert

Gleichermaßen macht Aidt auf einer zweite Ebene zum Thema, wie unfähig die Sprache doch ist, diesem Schmerz einen adäquaten Ausdruck verleihen zu können.Marie Aidt wird im Verlauf ihres Prozesses das "Broken Heart Syndrome" attestiert, eine besonders schwere Form der Trauer und, wie alles im Kontext von Tod und Sterben, zwar vorübergehend, aber lange anhaltend und tief in die Seele schneidend.


Alles beginnt mit einem Telefonanruf, der in mehreren Wiederholungen wieder aufgegriffen wird und sich dabei immer weiter fortspinnt. Alleine diese literarische Technik ist bemerkenswert, spiegelt sie doch die Unfähigkeit, überhaupt begreifen zu können, was geschehen ist. Eine Unfähigkeit, von der mir manche Trauernde bei unseren Begleitungen berichtet haben. Diese literarische Ebene, das gekonnte Spiel mit Sprache als Werkzeug, ist das Besondere, was dieses Buch aus der immer größer werdenden Masse der "Mein-Trauererlebnis-Berichte" heraushebt.  

"Mein Schmerz war zu groß..." - und doch ging es


Es war die Süddeutsche Zeitung mit dem oben bereits erwähnten Samstagsinterview - übrigens eine meiner absoluten Lieblingsseiten in der Wochenendausgabe -, die mich auf das Buch hat aufmerksam werden lassen. Darin beschreibt Naja Marie Aidt ebenfalls, wie sehr sie sich von der Sprache im Stich gelassen fühlte: "Ich habe immer geglaubt, dass mich Sprache retten kann", sagt sie. Aber in der Trauer funktionierte der Mechanismus nicht: "Mein Schmerz war zu groß, um ihn in Worte zu fassen". Umso lesenswerter dieses Destillat, das ihr trotz allem geglückt ist

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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Ist Trauerbegleitung ein echter Beruf? Kann man von Trauerbegleitung leben? Und wie werde ich überhaupt Trauerbegleiter?  

Ebenfalls auf diesem Blog: Macht es die Hinterbliebenen nicht noch trauriger, wenn wir sie auf ihren Verlust ansprechen? - Impulse bei großer Unsicherheit 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum die Formulierung "Mein Beileid" immer noch das Beste ist, was Du einem Menschen mit einem Verlust sagen kannst

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie lange darf Trauer dauern? Ist es normal, wenn es jahrelang weh tut? Und ab wann wird trauern krankhaft?

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde alles so vermeintlich "Merkwürdiges" tun und warum das nicht peinlich ist

Ebenfalls auf diesem Blog: Das Trauerzitat des Monats - bemerkenswerte Sätze aus Literatur und Interviews - Auftakt der neuen Serie auf diesem Blog

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Montag, 17. April 2023

Das Trauer-Zitat des Monats - #April 2023 - bemerkenswerte Sätze über Trauer, Tod und Sterben aus Literatur, Interviews und Zeitschriften, Teil 4

 

 

"Leid ist ein menschlicher Zustand, kein medizinischer. (...) Leidtragende sind nicht deprimiert, sondern nur gebührend, angemessen, mathematisch genau traurig - es tut exakt so weh, wie es die Sache verdient."

Julian Barnes, Lebensstufen

(btb, München, 2014, Seite 88)


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Das Trauerzitat des Vormonats: Bitte hier klicken 

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Samstag, 8. April 2023

Mein Trauer-Fundstück im April 2023... Am 22. April findet in Mühlheim ein Thementag rund um Trauer, Tod und Sterben statt - lobenswerte Initiative regt zum Nachahmen an - noch herrscht ein Mangel an interessierten Männern

Mühlheim - Es geht darum, die Themen Trauer, Tod und Sterben aus der Tabuzone herauszuholen - das ist das Anliegen eines Arbeitskreises aus Mühlheim, über den die Neue Ruhr-Zeitung kürzlich berichtete: Am 22. April 2023 wird das "Ökomenische Trauernetz Mühlheim" einen ganzen Thementag gestalten, an dem Bestatter und Trauerredner ebenso beteiligt sein werden wie Pfarrer, Trauerbegleiter, Psychologen, verwaiste Eltern und in der Hospizarbeit engagierte Menschen. Mein Trauern-Fundstück des Monats (siehe auch den Onlinebericht aus der NRZ).

Satttfinden werde der Thementag den Angaben zufolge an verschiedenen Orten auf dem Kirchenhügel und geplant seien Vorträge, Workshops und ein Markt der Möglichkeiten. 

Gefunden: Das Trauer-Fundstück des Monats (Foto: Achenbach).

Als konkrete Tagungsorte werden das Petrikirchenhaus, die Petrikirche, die Marienkirche und das katholische Stadthaus genannt. Start ist um 9.30 Uhr - und bis 16.15 Uhr soll es dann verschiedene Angebote geben. Angesprochen sind der NRZ zufolge Menschen, die sich mit diesen Themen beruflich, ehrenamtlich, persönlich und interessehalber beschäftigen.

Wie die NRZ weiter berichtet, hätten sich bislang vor allem Frauen für den Thementag angemeldet, weswegen die Veranstalter auch auf männliche Teilnehmer hofften (der Artikel aus der NWZ findet sich unter diesem Link).


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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Ein neuer Raum und neue Möglichkeiten - wo ich in Osnabrück jetzt Trauerbegleitung anbieten darf (weiterhin auch als Spaziergang)  

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum die Formulierung "Mein Beileid" immer noch das Beste ist, was Du einem Menschen mit einem Verlust sagen kannst

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie aus Trauer Liebe und Dankbarkeit werden kann - ein Buch gibt Impulse und Anregungen für Menschen in einer Verlustsituation

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

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