Lieber mir unbekannter Mensch,
(oder vielleicht kennen wir uns auch schon persönlich, dann ist ja umso besser...): Hast Du Dich in jüngster Zeit immer mal wieder gefragt, ob Du noch richtig bei Verstand bist, weil Du in Deiner Trauer auf einmal Dinge tust, die Dir vorher mehr als merkwürdig vorgekommen wären? Also zum Beispiel sowas wie: Mit den Toten zu sprechen. Sich vorwiegend dort aufzuhalten, wo der gestorbene Mensch sich gerne aufgehalten hat. Die Nähe zu dem gestorbenen Menschen zu suchen, zum Beispiel am Grab oder an einem anderen markanten Ort. Die Gegenstände zu befühlen, die von dem gestorbenen Menschen geblieben sind. Sich von diesen Gegenständen, oder auch von der Kleidung des gestorbenen Menschen, einfach nicht trennen zu können. Sich zum Schlafen in das Bett des gestorbenen Menschen zu legen. Die Präsenz eines gestorbenen Menschen zu spüren, auch wenn Du vorher niemals an sowas geglaubt hättest. Manchmal das Gefühl zu haben, dass die Toten Dir irgendwie auf Deine Fragen antworten. Und, und, und... Ich könnte hier noch eine ganze Reihe von Beispielen auflisten, von denen mir Menschen während einer Trauerbegleitung erzählt haben. Aber darum geht es nicht. Der Punkt ist der:
Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation tun so etwas, tun ganz vieles, was sie sich niemals hätten vorstellen können. Und trotzdem tut es ihnen gut. Dir vielleicht auch? Klar, Du kommst Dir vielleicht komisch dabei vor, jedenfalls ein Teil von Dir, während ein anderer Teil von Dir sich wirklich gut dabei fühlt. Da entsteht vielleicht so eine Art Bruch in Dir drin? Naja, da siehst Du mal wieder, aus wievielen verschiedenen Facetten unser Innenleben zusammengesetzt sein kann. Durchaus auch aus Facetten, die so gar nicht zusammenzupassen scheinen. Das ist wie bei einem Puzzle mit ganz vielen Teilen: Das eine Teilchen ist ganz weit links oben, das andere ist ganz unten rechts, betrachtest Du die Teile einzeln, bleiben sie unverständlich, aber erst im Gesamtbild macht es Sinn, dass es beide Teile gibt.
Ist Dir schon einmal aufgefallen, was die Menschen einen fragen, wenn man Dinge tut, die sie nicht verstehen? Sie fragen: Bist Du noch ganz bei Trost? Siehst Du, darauf gibt es eine ganz klare Antwort: Nein, Du bist nicht bei Trost. Du hast einen Menschen verloren und bist in Trauer - und wer in Trauer ist, der bleibt meistens ungetröstet. Oft und viel und ganz lange, immer ungetröstet. Daran lässt sich leider nichts ändern, das gehört dazu. Also bist Du nicht bei Trost und kannst es gar nicht sein. Also darfst Du auch Dinge tun, die scheinbar, aber auch wirklich nur scheinbar, merkwürdig sind.
In meinen Vorträgen benutze ich gerne die Formulierung: Menschen in einer Verlustkrise sind innenraumgreifend von ihrer Trauer ausgefüllt. Ihre Trauer ist für sie das alles beherrschende Thema, da ist oft kein Raum mehr für irgendwas anderes. Das kann andere Menschen schnell mal nerven, aber es ist nun einmal so, auch daran lässt sich nichts ändern. Vielleicht hast Du selbst oft das Gefühl, auf der Stelle zu treten, das Gefühl, dass sich nichts tut, dass es scheinbar gar nicht weitergeht. Ich kann Dich nur dazu ermutigen, dass Du mit Dir selbst am geduldigsten sein darfst. Es ist Deine Krise! Nimm Dir die Zeit, die sie von Dir verlangt. Vielleicht wird Dir manchmal einfach alles zuviel. Selbst Kleinigkeiten können Dich dann kolossal überfordern. Die Spülmaschine müsste vielleicht mal ausgeräumt werden - darf einem für sowas die Kraft fehlen? Ist das noch normal?
Ja, ich glaube, das ist es, jedenfalls zu Beginn. Und immer mal wieder zwischendurch auch. Und vielleicht hast Du dann rasch ein schlechtes Gewissen, weil Du nicht so richtig "funktionierst". Weil es Dir vielleicht auch schwer fällt, Deine Arbeit zu tun. Ich möchte Dich gerne ermutigen: Du darfst jetzt wirklich egoistisch sein. Du darfst nur auf Dich selbst hören und auf Dich selbst aufpassen. Du darfst sehr feinfühlig auf Dein Innenleben achten. Ganz viele Menschen, die in einer seelischen Krise feststecken, können in ihrem Inneren durchaus erspüren, was ihnen jetzt gut täte und was nicht - sie trauen sich bloß nicht immer, das dann auch in die Tat umzusetzen. Aber nochmal: Das alles, was sich da jetzt gerade in Deinem Inneren tut, gehört zu Dir. Es sind Facetten Deines Lebens, Facetten Deiner Krise. Facetten Deines Seins. Es sind Puzzlestücke, die zum Gesamtbild dazugehören. Das ganze Bild zu sehen, fällt uns Menschen immer schwer, unser ganzes Leben lang - aber es fällt uns umso schwerer, je tiefer wir gerade in einer Krise stecken. Da hocken wir mit einzelnen Puzzleteilen, auf die wir ständig starren müssen, weil sie so wichtig geworden sind, und haben gar keinen Blick mehr für die anderen Teile. Selbst wenn sie noch da sind.
Das ist okay so, das darf so sein. Nach vielen Gesprächen, die ich mit Menschen in diesen Situationen geführt habe, glaube ich eines sagen zu dürfen: Je mehr wir uns trauen, unsere Krisengefühle wirklich ausleben zu können, desto besser es ist oft für uns. Also sprich mit Deinen Toten, wenn Dir danach ist. Viele Trauernde sprechen mit ihren Toten. Oder nutze die Gegenstände, die noch dageblieben sind, wenn Du das Gefühl hast, dass es Dir gut tut. Versuch einfach das zu machen, was Dir gut tut.
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