Dienstag, 9. Juni 2020

Denn wir sind auf dem Weg in die Sterbegesellschaft: Warum es so wichtig ist, als moderne Gesellschaft noch viel mehr und viel öfter über die Themen Tod, Trauer und Sterben sprechen zu können - Eine Studie hat herausgefunden, wie wir sterben wollen - warum es Zeit wird, in Deutschland eine neue "Sorgekultur" zu etablieren

Berlin - Wir brauchen in unserer Gesellschaft noch viel mehr Austausch über die Themen Tod, Trauer und Sterben und neue Gesprächsräume dafür. Raus aus der Nische und rein ins pralle Leben, das ist eine der Empfehlungen einer neuen Studie, die im Frühjahr 2020 veröffentlicht worden ist und die nachdenklich macht. Denn was die Studie ganz klar aufzeigt: Wir sind auf dem Weg in ein großes Sterbe-Zeitalter. Schon in der nahen, aber vor allem in der mittelfristigen Zukunft wird das Sterben in Deutschland und Europa massiv zunehmen. Oder anders formuliert: Beerdigungen werden die Regel werden, Geburten dagegen die Ausnahme. Schuld ist der demografische Wandel, der die Alters- und Bevölkerungsstruktur massiv durcheinanderwirbeln wird. 

Perspektivwechsel. Beginnen wir unsere Reise zu den Endfragen des Lebens einfach mal dort, wo sein Beginn noch so nahe ist: In den Kindergärten. "Fragen Sie mal in Kindergärten nach Bilderbüchern über den Tod... Denn es gibt großartige Bilderbücher über das Thema - und fast jeder Kindergarten hat die auch. Und dann fragen Sie mal: Wo stehen die denn? Dann kriegen sie sowas zu hören wie: Ja, die sind in der Kiste dahinten, wenn es mal schwierig wird, dann holen wir die auch raus. So erfahren Kinder aber nicht, dass der Tod auch Normalität ist, und damit wird es sofort zu diesem schwierigen, großen Thema - und da müssen wir von weg!" Es war der Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Heiner Melching, der in einer offiziellen Youtube-Pressekonferenz über die neue Studie diese Worte sagte. 

Über den Tod sprechen? Ach nee, lieber nicht...   (Alle Fotos: Thomas Achenbach)

Über Youtube hatte die Konferenz ausgestrahlt werden müssen, weil die lange geplante Vorstellung der Studie plötzlich mitten in die erste Lockdown-/Corona- und Angstphase hineingeraten war. Was vermutlich einer der Gründe dafür ist, dass die vorgestellte Studie bislang noch nicht die große mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommen hat, die sie meiner Meinung nach verdient hätte. Deswegen ist genau jetzt ein guter Zeitpunkt, um noch einmal darauf hinzuweisen und die Studie noch einmal genauer vorzustellen, jetzt, wo sich gerade alles ein bisschen beruhigt hat und die Menschen wieder Kapazitäten haben für andere Themen als Corona. 


Realität 2035: Eine Geburt macht vier Beerdigungen



Vor allem, was das Sterben und den Tod angeht, sollten wir auf den demografischen Wandel noch besser vorbereitet sein. Das ist eine der Kernthesen der Studie mit dem Titel „Auf ein Sterbenswort – wie die alternde Gesellschaft dem Tod begegnen will, die das „Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung“ u. a. in Kooperation mit dem Allensbacher Institut für Demoskopie durchgeführt hat. "Das, was jetzt noch normal ist, wird sich alleine schon demografisch bedingt verändern", so fasst Doris Kreinhöfer von der die Studie ebenfalls begleitenden Körber-Stiftung in einer Video-Pressekonferenz zusammen, worum es geht (abrufbar über Youtube, Links dazu am Ende dieses Artikels). „In einigen Landkreisen dürften im Jahr 2035 auf eine Geburt über vier Beerdigungen kommen – heute liegt das Verhältnis bei eins zu zwei“, heißt es in der Studie. Und: "Die Alterung fordert somit unseren Umgang mit dem Sterben heraus". Passend dazu hat sich die Körber-Stiftung dieses Themas angenommen, denn diese Stiftung hat sich der Erforschung des gesellschaftlichen Wandels verschrieben.


Und der wird kommen, was das Thema Sterben angeht. Aktuell bilden die über 80-Jährigen noch rund sechs Prozent der Bevölkerung. Doch schon bald wird unsere Gesellschaft immer älter werden – und zudem immer zerfaserter: Immer mehr junge Menschen verlassen die Dörfer und versuchen sich in den Großstädten. Ein von Angehörigen begleitetes Sterben werde alleine dadurch erschwert. Doch bleibt das Sterben in Begleitung weiterhin einer der größten Wünsche der Menschen für das Ende ihres Lebens, auch das zeigt die Studie recht eindeutig.


Die Sterberealität wird durch Corona noch brutaler


In Umfragen und Leitfadeninterviews haben die Autoren herausgefunden, dass die Menschen „schmerzfrei, nah am Gewohnten, selbstbestimmt, sozial eingebunden und gut versorgt sterben“ möchten. Dieses Idealbild hätten Frauen wie Männer, Junge wie Alte, Arme wie Reiche, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, heißt es. Doch spätestens die Coronakrise hat uns klargemacht, wie sehr diesese Idealbild mit der Realität des Sterbens unvereinbar (geworden) ist - und es vielleicht schon vorher war. Rund 50 Prozent der Deutschen sind bereits vor Ausbruch der Krise im Krankenhaus gestorben (ca. 43 Prozent, so benennt es die Studie), durch das Coronavirus könnten sich diese Zahlen erhöht haben. Aber was viel schlimmer ist: Das Sterben ist dadurch oftmals zu einem einsamen Akt geworden, der auf Isolierstationen ohne Besuchsmöglichkeiten stattfinden muss. Auch ohne Coronakrise sahen schon 73 Prozent der für die Studie Befragten einen einsamen Tod zu sterben als weit verbreitetes Problem an. 



Umso wichtiger wird es da für jeden Einzelnen, sich schon frühzeitig mit seinem eigenen Sterben auseinanderzusetzen und sich zu fragen, wo die persönlichen Grenzen lägen, empfehlen die Autoren der Studie (Adrián Carrasco Heiermann, Tanja Kiziak und Catherina Hinz): „Ohne Auseinandersetzung kann der Einzelne nicht zu eigenen Vorstellungen und Wünschen kommen, ohne Auseinandersetzung wissen seine Nächsten nicht, wie und wo er sterben möchte, ohne Auseinandersetzung wissen wir nicht, welche Strukturen wir benötigen, um gutes Sterben zu ermöglichen“, schreiben sie. Immerhin drei von vier Menschen sähen es als einen Missstand an, dass das Thema Sterben häufig verdrängt wird, schreiben die Macher der Studie weiterhin.


Handlungsempfehlungen und gute Vorschläge


Dementsprechend haben die Autoren der Studie ein paar Handlungsempfehlungen formuliert, die ich hier gerne auszugsweise veröffentlichen und denen ich mich gerne mit vollem Herzen anschließen möchte:



1.) Es wird immer wichtiger, Informationen über das Sterben vermitteln: Viele Angehörige oder Freunde sind unsicher, wie sie einen Sterbenden begleiten sollen. Das ist einer der am meisten genannten Missstände. Das ist insofern spannend, als dass die Studie ebenfalls aufzeigen kann, dass es eine durchaus hohe Bereitschaft zur Hilfe oder gar Begleitung gibt, vor allem unter jenen Menschen, die schon einmal mit dem Sterben eines Menschen konfrontiert waren. 


2.) Es muss mehr Veranstaltungen über das Sterben geben, diese müssen niedrigschwellig und leicht zugänglich sein - und es muss gar nichts Großes sein. Schon eine Bücherei könne einen Abend über das Sterben anbieten. Weil aber 23 Prozent der Befragten angegeben hatten, dasss sie persönlich Angst vor dem Tod haben, ist es umso wichtig, dass die Veranstaltungen sehr einladend und niedrigschwellig angeboten werden. In die Einladung hineinzuschreiben, dass auch stille Teilnehmer genauso herzlich willkommen sind und dass sich nicht jeder aktiv beteiligen müsse, könnte eine gute Idee sein, sagten die Autoren der Studie bei ihrer Youtube-Pressekonferenz. Und es böten sich viele Anknüpfungspunkte an: "Die Themenfülle ist groß, es geht bei gutem Sterben um mehr als nur Patientenverfügungen", sagte Tanja Kizik als stellvertretende Direktorin des Berlin-Instituts dazu in ihrer Vorstellung der Studienergebnisse.


3.) Wir brauchen einen neuen Vereinbarkeitsbegriff im Kontext des Sterbens: 
Gemeint ist damit die Vereinbarkeit von Sterbebegleitung und Arbeitsleben, also eine Ausweitung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zum Kontext des Sterbens. Und weil die familiäre Begleitung zunehmend schwieriger werden dürfte, alleine schon wegen weit entfernt wohnender Angehöriger, ist auch über die gesellschaftliche Ausweitung von Sterbebegleitung auf Nachbarschaften und Freundeskreise nachzudenken. Auf diesem Weg könnte sich auch das entwickeln, was zu etablieren den Autoren der Studie zufolge unsere neue gesellschaftliche Aufgabe werden wird: Eine neue "Sorgekultur" zu entwickeln.

Und hier noch, wie versprochen, die Linksammlung der in diesem Artikel benutzten Informationen und Fakten:

1.) Die Studie zum Herunterladen: Die Studie lässt sich herunterladen oder bestellen über diese Internetseite (bitte hier klicken)

2.) Die Online-Pressekonferenz, in der die Studie vorgestellt wird, lässt sich über Youtube finden und dort ansehen (bitte hier klicken)

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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