Osnabrück - Es sind zwei große Todesanzeigen und sie stehen direkt
untereinander. Die untere, geschaltet von der Firma, rühmt die
Loyalität und Verbindlichkeit des gestorbenen 63-Jährigen, seine stete Treue zum
Unternehmen, seine unermüdliche Einsatzbereitschaft. Der oberen der beiden, geschaltet von der
Familie, reichen zwei Sätze, um die ganze Tiefe der Bestürzung hineinzulegen: "Er hätte so gerne noch gelebt - wir hätten so gerne noch Zeit mit ihm gehabt". Das Spannungsfeld, dass zwischen diesen beiden Anzeigen
liegt, ist gewaltig – und so facettenreich wie das Leben. Und heute, während
ich diese Zeilen schreibe, ist der perfekte Tag um sich das bewusst zu machen.
Und um sich alle Fragen einmal selbst zu stellen, die damit einhergehen. Angenommen, in
wenigen Tagen wäre es Deine eigene Todesanzeige, die in der Zeitung stehen müsste: Ist Dein Leben gerade auf dem richtigen Kurs? Hast Du die richtigen Akzente
gesetzt? Könntest Du "gut gehen", auch von heute auf morgen?
Schreib Dir einen Zettel und lege ihn neben Dein Bett. Und wenn Du morgen früh aufwachst, wenn Du Dich streckst und räkelst, vielleicht noch mit dieser wohligen Mischung aus Geborgenheit und Restmüdigkeit in Dir, wirf einen Blick auf diesen Zettel. Was auf ihm draufstehen sollte? Vier Wörter: "Es ist nicht selbstverständlich." Denn das ist es nicht. Dass Du wachgeworden bist, wieder; dass Du atmest, weiter; dass Du weiterhin weißt, wer Du bist; dass Dein Herz schlägt, weiterhin. Nichts davon ist selbstverständlich. Das ist ebenso eine Binsenweisheit wie die tiefste und wichtigste Wahrheit, die wir verinnerlichen können (und sollten). Vielleicht die einzige Wahrheit, die es braucht:
Nichts im Leben ist selbstverständlich. Gar nichts.
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(Alle Fotos: Thomas Achenbach) |
Ich habe so oft in meiner Tätigkeit als Trauerbegleiter (und ganz generell in meinem Leben als Mensch auf dieser Welt) mit Fällen zu tun gehabt, die das Gegenteil gezeigt haben. Das 10-jährige Mädchen, gestern kerngesund, das morgens tot im Bett lag, keiner weiß warum (bis heute nicht). Der 35-Jährige, der an Heiligabend nachmittags plötzlich einen Herzschlag erlitt, während der Rest der Familie in der Kirche war - auf der Stelle tot. Die Mittzwanzigerin, die plötzlich keinen Handy- oder Mailkontakt mehr zu ihrer Schwester bekam, weil diese - von ihrem eifersüchtigen Freund erdrosselt - tot in einem Fluss lag. Der mittelständische Geschäftsführer, vermutlich Anfang 60, wenn überhaupt, bei dem eine OP schieflief, die als "Routine" bezeichnet worden war. Die Kinder, die im Mutterleib gestorben waren, all die stillen Geburten, bei denen kein Schrei am Ende eine Erlösung bringt. All die vielen, vielen, vielen Suizide. Und, und, und....
Oder noch vor kurzem, dieser Fall, von dem ich oben erzähle, der mit den beiden Todesanzeigen. Auch einer, den ich kannte.
Du auch. Erst irgendwann? Morgen früh? In zwei Tagen? Noch nie darüber nachgedacht? Vielleicht wäre es mal an der Zeit. Und zwar: Genau heute, genau jetzt. "Gedanken an den Tod und das Sterben werden in unserer
Gesellschaft oft verdrängt. Wir reden zu wenig über unsere Wünsche, Ängste und
Sorgen in Hinblick auf das Lebensende", so schreibt es die Initiative "Memento-Tag" in einer Mitteilung. Und deswegen soll jeweils am 8. August eines Jahres allen Menschen ihre Endlichkeit ins Bewusstsein gerufen werden. Oder wie es die Initiatorin Iris Willecke aus dem Sauerland formuliert: "Meiner Meinung nach ist es an der Zeit, Themen wie
Endlichkeit, Tod, Sterben und Trauer wieder etwas mehr ins gesellschaftliche
Bewusstein zu holen". Also, nochmal, liebe Leserin, lieber Leser: Auch Du wirst sterben. Jedes Ausamten - nach dem Einatmen - bringt Dich wieder ein klitzekleines Stückchen näher heran an Deinen eigenen Tod. Bist Du auf einem guten Weg?
So zu leben, dass man jederzeit gut sterben könnte, das ist vermutlich ein Ding der Unmöglichkeit. Der Mann, der oben beschrieben wird, hat sein Leben ganz klaren Prioritäten unterworfen: Das Unternehmen kam zuerst. Aber weil jede Entscheidung für etwas immer eine Entscheidung gegen etwas anderes ist - ganz zwangsläufig -, stecken so viele verschiedene unterschiedliche Wertekonzepte und Lebensentwürfe in dem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Todesanzeigen. Und wer kann das schon, in unserem modernen Leben alle seine Prioritäten stets perfekt ausbalanciert zu halten, so dass nichts verloren geht? Wer kann schon allen und allem gerecht werden im Leben? Selbst, wenn wir unser Bestes tun, irgendwas bleibt immer auf der Strecke. Einfach nur, weil wir eben Menschen sind - und keine Übermenschen sein können.
Und doch bleibt manches Mal, wenn wir von einem Todesfall hören, einem solchen wie oben, so eine leise Irritation zurück - nach dem Schock und dem Entsetzen. So eine leise Unruhe, ein ungutes Gefühl. Die Frage: Ist mein Leben auf dem richtigen Kurs? Aber wie lässt sich das erkennen?
Vielleicht am besten durch eine recht radikale Übung, die aus der Persönlichkeitsentwicklung stammt und in Coachings gerne empfohlen wird: Stell Dir vor, Du wärest jetzt gestorben und hättest die Chance, irgendwie bei Deiner eigenen Trauerfeier zugegen sein zu können. Stell Dir vor, es würden ein enger Freund, ein Kollege von der Arbeit und ein entfernter Bekannter etwas über Dich sagen. Was würde wohl in diesen Trauerreden alles über Dich gesagt werden? Und was nicht? Wären es jeweils freundliche Trauerreden? Oder welche, die sich um Lücken und Leerstellen herumwinden müssen? Oder in denen zarte Andeutungen auf etwas verweisen, das gerade schwierig ist? Setz Dich hin und schreib die von anderen gehaltenen Trauerreden auf Dein jetziges Ich. Durch diesen Perspektivwechsel - sich selbst mit anderen Augen sehen in der Radikalität eines Abschieds -, hast Du eine Chance, Dich kritisch zu durchleuchten. Deinen Werten auf die Spur zu kommen.
Was willst Du einmal hinterlassen? Ist Dein Leben schon geprägt davon? Was ist der rote Faden Deines Lebens? Was ist für Dich wesentlich? Es lohnt sich, gelegentlich darüber nachzudenken.
Jeder Tag ist ein guter Tag dafür. Ein Tag im Jahr ist ein beonders guter Tag dafür: Der 8. 8. - am "Memento-Tag". Dieser soll, der Philosophie des "Memento Mori" folgend (Bedenke, dass Du sterblich bist), die Menschen an ihre eigene Vergänglichkeit erinnern. Also: An ihren eigenen Tod, der ja unweigerlich einmal folgen wird. Vorbild dafür ist der australische "Dying To Know Day", der bereits seit 2013 einmal im Jahr begangen wird. Wobei die Zahl Acht hier als aufrecht stehendes Symbol der Unendlichkeit zu verstehen ist und der Tag nicht nur als Impulsgeber dienen soll für ein Nachdenken über das eigene Leben, sondern auch für allerlei Aktionen in ganz Deutschland (und für diesen Blogbeitrag).
Im Zenbuddhismus gibt es eine Weisheit, die - sinngemäß - besagt: Wir atmen das Leben ein - und den Tod aus.
Hast Du bis zum Ende dieses Textes durchgehalten? Wie oft, was glaubst Du, hast Du ein- und ausgeatmet, während Du ihn gelesen hast? Die Medizin geht davon aus, dass ein erwachsener Mensch pro Minute im Durchschnitt 16 Atemzüge nimmt. Sagen wir, Du hast fünf Minuten lang gelesen, macht das 80 Atemzüge. Atmen, das ist vielleicht das Einzige, das wir wirklich jemals besitzen können im Leben. Auch das ist, wie alles, nicht selbstverständlich. Und jeder Atemzug, den wir tun, bringt uns wieder ein Stück näher heran an unseren eigenen Tod. 80 mal näher bist Du jetzt herangerobbt an diesen Augenblick.
Wir atmen das Leben ein - und den Tod aus. An dieser Stelle brauchen wir noch eine Tonspur zum Text: Den Klang eines Herzfrequenzmessers. Du kennst den, aus Fernsehserien. Er malt Kurven und macht "Piep - piep - piep". Wenn es gut läuft.
Ein. "Piep... - piep... - piep.. ". Und aus.
Ein. "Piep... - piep... - piep.. ".
Aus
Piiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee.........
.
So gerne noch gelebt?
Zu spät
....
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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation).
Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher:
-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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