Osnabrück - Einer dieser Sätze, mit denen ich neulich abends beim Bier für etwas Verwunderung gesorgt hatte: Ein Kind zu bekommen oder einen Menschen zu verlieren, das ist beides total gut miteinander vergleichbar. Wie bitte? Was anfangs für Kopfschütteln sorgte und von mir selbst auch eher augenzwinkernd gedacht war, entwickelte sich nach einer vertiefenden Diskussion dann doch zu einer allseits anerkannten These.
Bevor ich fünf Gründe für diese, zugegebenermaßen, steile Behauptung nenne, möchte ich noch eine wichtige Vorbemerkung loswerden: Ich bin jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, seit bereits acht Jahren der Vater einer Tochter und finde das ziemlich großartig. Trotz- und Autonomiephase waren hart, das mit Schlafen, nun ja, ist auch so eine Sache, Home Schooling brauche ich nie wieder in meinem Leben, aber wir haben eine überwiegend großartige Zeit, ich möchte das nicht missen.
Fakt ist aber auch - und da nähern wir uns wieder unserem Thema: Kinder reißen Dich aus Deinem eigenen Zentrum, ob Du willst oder nicht. Kann gut tun. Muss man haben können. Trauer tut das übrigens auch - Dich aus Deinem bisherigen Zentrum reißen. Womit wir wieder beim Thema wären.
Warum es so gut vergleichbar ist, einen Menschen zu verlieren oder einen zu bekommen - fünf Gründe:
(Foto: Hermann Traub/Pixabay.de) |
1.) Dein Leben ist grundlegend anders, von einem Tag auf den anderen - nichts ist mehr so, wie es vorher einmal war. Ein Mensch, der vorher da war, verschwindet plötzlich - und mit ihm alles, was an gewohnten Routinen und Ritualen den Alltag geprägt hat. Alles muss sich neu finden - und was die Tage ab jetzt prägt, ist diese große Leere. Oder: Ein Menschlein, das seinen ganz eigenen Rhythmus erst noch finden muss und ein enormes Potenzial an Aufmerksamkeit benötigt, ist von einem Tag auf den anderen plötzlich da. Brüllt die Nächte durch und schläft am Tag, aber gewiss nicht dann, wenn Du eigentlich Deine wenigen Kraftreserven dafür nutzen wolltest, ein paar anstehende Erledigungen zu machen. In beiden Fällen wird Dein Leben binnen weniger Stunden komplett auf den Kopf gestellt. Tod oder Geburt, beide Ereignisse gehören zum Prägendsten, was das Leben mit sich bringen kann, und beiden Ereignissen ist eines gleich: Der Wandel ist radikal, weltenverändernd - und langfristig! Nichts ist mehr wie es einmal war. Und es wird auch nie wieder so sein. Im Guten wie im Schlechten. Von einem Tag auf den anderen mitten hinein in den Ausnahmezustand - den Du zu Deinem neuen Alltag machen musst.
2.) Du findest Dich in einem totalen Gefühlsstrudel wieder, den Du so noch nie erlebt hast. Grund: Hormone. Sowohl der Verlust eines Menschen als auch die Geburt eines Kindes haben wesentlichen Einfluss auf Deinen Hormonspiegel und auf alle körperlichen Prozesse, die im Inneren ablaufen. Auch auf der chemischen Ebene ist alles aus den Fugen, in beiden Fällen. Und das betrifft beide Eltern, beide Geschlechter, nicht alleine die Mutter. Sondern auch die Väter. Der Schlüssel ist jeweils das Oxytocin, das allgemein als "Kuschelhormon" bezeichnet wird, wobei diese Definition ein bisschen zu sehr nach Wohlfühlfaktor klingt. Die Lust auf Sex geht runter, der Wunsch nach Nähe steigt auf ein Übermaß. Die Natur zwingt die Väter mit diesem Überschuss an Bindungshormon dazu, bei der Familie zu bleiben. Diese Überproduktion von innerer Chemie bringt aber auch etwas Rauschhaftes, Unwirkliches, Seltsames mit sich. Ich erinnere mich noch daran, wie ich in den ersten Monaten nach der Geburt meiner Tochter zu einem mehrtägigen Workshop fahren sollte, was eine erste längere Trennung bedeutete, und wie ich auf dem Weg zum Auto Zeuge davon wurde, wie ein Eichhörnchen überfahren wurde. Ein harmloses, wehrloses Wesen (= wie das Baby), das von einem Autoreifen zu Fleischbrei zermantscht wurde. Beides zusammen, wenige Monate nach der Geburt meines Kindes, hat mich völlig fertiggemacht - und ich hab mich gefragt, was zur Hölle mit mir bitte los ist? Bei Trauer wiederum passiert das Gegenteil, wie Forscher 2015 nachgewiesen haben: Anstatt Oxytocin auszuschütten, das immerhin zu einer gewissen Empathie- und Selbstliebefähigkeit führen könnte, verfällt der Körper auch chemisch gesehen in einen Stresszustand. Trauer setzt eine Menge an CRF frei, das als Stresshormon gilt ("Corticotropin-Releasing-Factor") und das die Ausschüttung von positiven Hormonen verhindert. Wiederum ist es das Oxytocin, das den Schlüssel darstellt. Diesmal, weil es Mangelware geworden ist. Seelische Überforderung und ein Körper voller Stresshormone - innerer Ausnahmezustand von der anderen Seite.
(Foto: Animaparsa/Pixabay.de) |
3.) Urlaub ist nicht mehr erholsam - sondern eine Verlagerung Deiner allgemeinen Situation an einen anderen Ort. Wer mit jüngeren Kindern in die Ferien fährt, verlagert seine Ausnahmesituation von daheim an den Urlaubsort. Schlimmer noch: Man nimmt das, was zuhause eher anstrengend sein kann, nicht einfach nur mit, sondern verstärkt es auch noch. Unter anderem, weil die gewohnte Infrastruktur fehlt (Spielzeug, Betreuung, Technik, Freunde, etc.). Aber auch, weil das, was Erwachsene erholsam finden, für Kinder entweder ziemlichen Stress bedeuten kann (ein anderer Ort, ein anderes Bett, lange Autofahrten) oder schlicht ultralangweilig ist (Essen im Restaurant, Ruhe, Schlaf, Bücher lesen, "Nichtstun"). Wer wiederum nach dem Verlust eines Menschen in den Urlaub fährt, der nimmt seinen Kummer und seine Trauer mit an den Ferienort. All das ist mit dem generellen Konzept von Urlaub nicht gut vereinbar, sollten doch Ferienfahrten eigentlich der Regeneration und der Erholung dienen. Erholung durch Abstand, nun ja, das gilt in beiden Fällen vielleicht noch räumlich. Erholung durch Ruhezeiten, nun ja, dafür ist der Seelenaufruhr oft zu groß bzw. das Kind fordert ständig irgendeine Aufmerksamkeit oder einen Programmpunkt. Erholung durch Buchlektüre, nun ja, dafür fehlt es an Konzentrationsfähigkeit, in beiden Fällen. Und jedes "Nichtstun" verliert seine Schönheit, wenn einem dadurch entweder die Einsamkeit wieder schmerzvoll bewusst wird (= Trauer) oder wenn Dich Dein Kind gefühlt alle 45 Sekunden nach irgendetwas fragt (Essen, Aufmerksamkeit, Vorlesen, Erlebnisse, etc.) oder an Dir zieht und zerrt oder auf Dir rumturnt vor lauter Langeweile. In beiden Fällen gilt übrigens: Nach ein paar Jahren kann es besser werden, jedenfalls in kleinen Segmenten und immer schön Stück für Stück. Manches bleibt allerdings.
4.) Du kannst nicht mehr schlafen. Wer einen Menschen verloren hat, leidet oft an Schlafproblemen. Die Nächte können von inneren Unruhen geprägt sein, die Dich nicht schlafen lassen - oder der Schlaf ist von wirren Träumen durchzogen, die Dich hochschrecken lassen. Es können neue Ängste auftauchen, die sich vor allem nachts bemerkbar machen. Oder die Nacht wirkt wie ein zusätzlicher Verstärker für all die Gefühle, die tagsüber schon so mächtig sind. Und wer ein Kind hat, muss nach dem Trubel der Babyjahre - mit sehr wenig Schlaf darin - damit leben, dass dieses Wesen mit seinem ganz eigenen Biorhythmus ausgestattet ist und diesen per Geburt einfach mitbringt. Oder anders gesagt: Dein Kind hat eine einprogrammierte Wachzeit, die sich irgendwann nach dem Babyalter herausschält und auf die Du keinen Einfluss nehmen kannst, so sehr Du es auch versuchst. Wenn Du Glück hast, ist es eine spätere Aufwachzeit (wobei sich das mit dem "Glück gehabt" ab der Einschulung Deines Kindes wieder relativiert). Wenn Du Pech hast, bekommst Du so eine echte Lerche. Es soll Kinder geben, die sind jede Nacht um drei oder vier Uhr wach. Jede. Über Jahre. Und Du: Bist machtlos. Auch wenn Dir zigtausend Erziehungsratgeber, Schlafratgeber und zahlreiche andere Eltern oder Großeltern etwas anderes einzureden versuchen: Gegen die Aufwachzeit Deines Kindes kommst Du nicht an. Du kannst höchstens versuchen, erzieherisch ein wenig gegenzusteuern ("Eltern niemals vor 7 Uhr wecken"), was eine gewisse Kraftanstrengung bedeutet und nicht immer funktioniert, aber generell möglich ist. Kurzum: Wer einen Menschen verliert oder einen Menschen bekommt, schläft schlecht oder zumindest schlechter bis gar nicht mehr. Das kann Monate andauern oder auch einige Jahre.
(Foto: Gerd Altmann/Pixabay.de) |
5.) Und schließlich: Viele andere, meist Unbeteiligte, geben Dir ganz viele Ratschläge und glauben vieles besser zu wissen. "Das Leben geht weiter", "Du musst jetzt loslassen", "Gönn Dir doch mal wieder was Schönes" und so weiter. Wer tatsächlich schon einmal in einer Trauersituation gesteckt hat, der wird erlebt haben, dass solche Ratschläge nicht wirklich hilfreich sind - wie eigentlich alle Ratschläge. Nicht umsonst gibt es im Kontext von Therapie und Beratung den gut gepflegten Spruch "Ratschläge sind Schläge". Das gilt genauso für Eltern und Kinder. Weil kein Mensch das tatsächliche Binnenverhältnis einschätzen kann bzw. die dynamischen Prozesse, die zwischen Eltern und Kindern jeweils individuelle Stärken erreichen (und die können sehr dynamisch sein), sind auch hierbei die meisten gut gemeinten Ratschläge schlicht nur eins: Sie sind übergriffig. Weil in Unkenntnis der tatsächlichen Situationen und der jeweiligen Spezifikationen ausgesprochen. Und dennoch fühlen sich ganz viele Menschen berufen, kluge Ratschläge zu geben - und wer kann sich davon schon komplett frei sprechen (also, ich auch nicht immer, zugegeben, obwohl ich schon viel, viel, wirklich viel besser geworden bin!)?
Und, nochmal, weil mir das so wichtig: Kinder zu haben, das ist einerseits etwas sehr Erfüllendes und sehr Bereicherndes - und es kann sehr zu Deiner persönlichen Weiterentwicklung beitragen -, aber das hat wie alles im Leben eben seinen Preis. Und der kann sich zeigen als ein lange andauernder und meistens verkannter Ausnahmezustand, eine nervliche Belastungsprobe, die den gesamten Menschen fordert. So wie Trauer. Ich könnte noch viel mehr dazu schreiben. Aber: Ich muss jetzt ins Bett. Ich bin ganz schön müde...
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