Montag, 6. September 2021

Was bedeutet "Personen auf der Fahrbahn" im Radio? Warum hört man das so oft im Verkehrsfunk? Ich habe eine ganz persönliche These zu dieser Frage - und sie hat mit den Themen Trauer und Unfalltod zu tun...

Osnabrück - Im Verkehrsfunk ist diese Warnung oft zu hören: "Fahren Sie bitte vorsichtig, es sind Personen auf der Fahrbahn..." Aber warum eigentlich? Was machen diese Personen denn da? Wer einigermaßen bei Verstand ist, der würde doch nicht zu Fuß auf eine Autobahn gehen, oder? Oder auf eine Landstraße ohne Seitenstreifen? Mich hat das schon immer stutzig gemacht - und inzwischen habe ich eine ganz persönliche These entwickelt, was da los sein könnte. Eine These, für die ich bislang keine offizielle Bestätigung bekommen konnte (trotz einiger Rechercheanfragen) und die deswegen meine ganz persönliche These bleiben wird. Und sie hat, wen würde es wundern, mit Trauer zu tun. Und mit Unfalltoten.

Ich habe Polizisten befragt. Rettungskräfte. Und Notfallseelsorger. Aber keiner konnte mir eine wirklich schlüssige Antwort auf die Frage geben, warum so oft Personen auf einer Fahrbahn anzutreffen sein sollten. Denn wer in gewisser Regelmäßigkeit den Verkehrsfunk hört, dem wird auffallen, dass diese Meldung nicht unbedingt Seltenheitswert besitzt. Zu den Vermutungen, die die Sicherheitskräfte äußern, gehören diese: Es könnten Unfallfahrer sein, deren Fahrzeuge liegengeblieben sind. Es könnten stark alkoholisierte Menschen sein, die sich verirrt haben. Manches Mal sollen sich auch Radfahrer auf die Autobahnen begeben, weil sie sich in den Auffahrten vertan haben - oder weil sie leichtsinnigerweise ihren Übermut ausleben müssen. Aber keiner der von mir befragten hat jene Vermutung geäußert, die ich persönlich für die schlüssigste halte: Es könnten Angehörige sein, die einen Unfallort aufsuchen wollen. Weil sie in diesem Unfall einen Menschen verloren haben und diesem nun nahe sein wollen. Dass dieses Bedürfnis innerhalb eines Trauerprozesses enorm groß werden kann, dafür gibt es zahlreiche Belege. 


(Foto: Pixabay.de, User: Monsterkoi, Pixabay-Lizenz)

Diese zeigen sich in Form der zahlreichen am Straßenrand stehenden Trauerstätten - kleine Kreuze, kleine Gedenkorte, privat eingerichtet, meistens von den Behörden geduldet, an den Rändern von Landstraßen oder auch in Innenstädten, zeugen seit einigen Jahren von der besonderen Wirkmacht, die der Ort eines Todes auf Menschen haben kann. Dorthin zu gehen, wo es geschah, an diesen Ort eines Übergangs, kann für die Angehörigen ein wichtiges und wohltuendes Ritual darstellen. Eines, das viele Bedürfnisse erfüllt, die sich innnerhalb eines Trauerprozesses einstellen können - auch wenn das besonders schwer vorstellbar ist für alle anderen Menschen, die einen solchen Prozess noch nicht erleben mussten. Und gerade bei einem gewaltsamen Tod, der mit einer unvorhersehbaren Plötzlichkeit ein Leben beendet hat, stehen die Hinterbliebenen vor einer besonders schwierigen Aufgabe: Dem Begreifen dessen, was da geschehen ist.

Ein Ort des Übergangs und der Transzendenz

Auch für diesen Prozess kann es enorm hilfreich sein, sich an den Ort zu begeben, an dem es geschehen ist und ebendort zu versuchen, einer Form von Verständnis für das an sich ganz Unbegreifliche näherzukommen. Außerdem ist es ein Ort, an dem der innere Schmerz den Raum bekommen kann, den er im normalen Alltag nicht immer bekommt. So kommen dem Ort des Todes gleich mehrere Funktionen zu, die innerhalb eines Trauerprozesses von Bedeutung sein können: Dort hinzugehen, um sich durch seine Trauer durchzufühlen; oder um sich den Gestorbenen nahezufühlen, andererseits; oder dort hinzugehen, um sich im Begreifen dessen zu versuchen, was dort geschehen sein könnte. Und schließlich atemt der Ort des Todes für manche Menschen auch eine Form von Transzendenz. Als sei etwas fühlbares Seelisches des gestorbenen Menschen für immer dort verhaftet geblieben, so kommt es manchen vor. Leider gibt es zu diesem Thema keinerlei aussagekräftige Forschung - wohl aber zum Thema der wilden Trauerstätten an den Straßenrändern. 


(Foto: Pixabay.de, User: Free-Photos, Pixabay-Lizenz)

Damit hat sich nämlich die Soziologin Christine Aka intensiv beschäftigt. Die inzwischen in Münster lehrende Volkskundlerin hat zwischen 2000 und 2003 zum Thema Unfallkreuze geforscht und eines der wenigen, wenn nicht gar das einzige Buch zum Thema veröffentlicht („Unfallkreuze – Trauerorte am Straßenrand“ erschien im Waxmann-Verlag), außerdem hat sie im Jahre 2010 einen bemerkenswerten und sehr klugen Zeitschriftenbeitrag über das Thema für die Zeitschrift: „Alltag im Rheinland“ geschrieben, die vom Landschaftsverband Rheinland herausgegeben wird. Und auch sie geht in ihren Texten auf den Ort des Todes mit seinen mythischen Funktionen ein: „Gerade der gewaltsame Tod führt zu dramatischen Anforderungen an die Psyche des einzelnen Trauernden. Individuelle Psychologie, also Gefühle, und gesamtkulturell interpretierbare Phänomene gehen in der Trauer eine komplexe Verbindung ein,“ schreibt Aka in diesem Text. Daher würden diese wilden Trauerstätten zu einem „Hinweis auf Schmerzzonen, für die kaum eine andere Ausdrucksformen zur Verfügung stehen. Diese klugen Beobachtungen machen verstehbar, warum Trauernde gerne an diese Orte zurückkehren, an denen, salopp gesagt, „es geschehen ist.“ 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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