Mittwoch, 24. Februar 2021

Warum es so verflixt schwierig ist, für diesen Blog jeweils die passenden Fotos zu finden, was die Rosen meiner gestorbenen Mutter mit dieser Aufgabe zu tun haben - und warum die üblichen Symbolbilder meistens nichts taugen (übrigens auch die meisten in der Presse benutzten...)

Osnabrück - Meine Frau steht im Türrahmen und sagt grinsend: "Na, spielst Du schön?". Ich bin gerade damit beschäftigt, im Kinderzimmer meiner Tochter ein paar Spielzeugmännchen auf einen kleinen Holztisch zu stellen. Links und rechts stehen zusätzliche LED-Lampen auf Stativen, die die Szenerie ausleuchten. Denn darum geht es: Was so aussieht wie ein Spiel, ist ein weiterer Versuch, ein eigenes Symbolfoto anzufertigen für ein Thema, für das es keine geeigneten Symbolfotos gibt. Das übrigens ist eine Herausforderung, die die Arbeit an diesem Blog zu etwas sehr Speziellem macht. Auch für meine gerade gestartete Serie über Trauerfilme gibt es da überraschend viele Probleme. Nach fast sieben Jahren Aktivität als Blogger ist es mal an der Zeit für, sagen wir, eine Art "Blick hinter die Kulissen". Weil nämlich auch die Rosen meiner verstorbenen Mutter eine Rolle spielen - womit wir wieder beim Thema Trauer wären. Aber der Reihe nach.

Ihr könnt es selbst ausprobieren: Eine einfache Google-Suche fördert das Dilemma rasch zutage. Man gebe die Stichworte "Sterbebegleitung Symbolfotos" in die Suchmaske ein - oder auch "Trauerbegleitung Symbolfotos" -, und was wir dann sehen, sind: Hände, Hände, jede Menge Hände. Konkreter gesagt: Zwei Hände offensichtlich unterschiedlicher Menschen, von denen eine die andere hält oder bedeckt, in zig Variationen. Mal ganz abgesehen davon, dass dieses Motiv nicht allzu einfallsreich ist: Wie ich kürzlich bei einem Letzte-Hilfe-Kurs lernen durfte, ist es zudem auch inhaltlich falsch, weil Sterbenden der Händedruck gar nicht unbedingt gut tut (mehr in meinem Beitrag über einen "Letze-Hilfe-Kurs" hier auf diesem Blog). Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Wenn ich diese Fotos benutzen wollte, müsste ich sie bezahlen - und zwar einzeln. Habe ich tatsächlich schon mal gemacht. Wenn auch nicht für Hände, sondern für ein ganz anderes benötigtes Motiv.

Das "Making Of" eines Fotos, das ich für einen Vortrag brauchte....

Als ich im vergangenen Jahr auf diesem Blog einen Beitrag über eine EU-Initiative in Sachen Trauer am Arbeitsplatz veröffentlichte, brauchte ich dafür ein ganz bestimmtes Fotomotiv: Nämlich eines von der Germanwings-Gedenkstätte am Bergmassiv Le Vernet in Frankreich. Ein solches Foto ist nur über einen Weg zu bekommen: Man kauft sich die Nutzungsrechte und den Downloadlink bei der entsprechenden Presseagentur, in diesem Fall also der Deutschen Presseagentur (dpa) bzw. der Picture Alliance. Kostenpunkt: Knapp 100 Euro. Das war es mir wert, aber das geht nicht in jedem Fall, bei bis zu 25 veröffentlichten Fotos pro Monat würde ich da rasch arm. Manchmal braucht es also andere Lösungen. Die gibt es auch, zum Beispiel über die Website pixabay.de, die kostenlose Fotos zum Benutzen anbietet. Da muss man zwar ein bisschen aufpassen, dass man auch wirklich ein Foto erwischt, dass mit einer entsprechenden CC-0-Lizenz gekennzeichnet ist (das steht für Creative Commons und hat mit den Urheberrechten zu tun). Denn wer bei Pixabay auf die zuerst angezeigten Fotos klickt, landet bei bezahlpflichtigen Downloads. Wobei das aber nicht das Hauptproblem ist, das ist ein ganz anderes. 

... und das fertige Foto, wie ich es dann benutzt habe.

Auch Pixabay hat nämlich eine sehr eingeschränkte Auswahl an Motiven aus dem Kontext Trauer, Tod und Sterben, nicht alle Bilder dort sind gut geeignet für meinen Blog. Also bleibt mir nur eines: Selbermachen. Weil Fotografie gleichzeitig eines meiner Lieblingshobbys ist, passt das ganz gut. Sich zu überlegen, wie sich ein bestimmtes Thema gut als Foto umsetzen lässt und mit welchen Mitteln ich das Bild selbst hinbekommen könnte, ist ein kreativer Prozess, der mir viel Freude macht. Auch wenn es um harte Themen geht, ist es mir besonders wichtig, diesen spielerischen Bildzugang dazu zu kreieren. Zum Beispiel zum Thema Sternenkinder:


Besonders gerne arbeite ich aber mit verblühten Rosen - verblühte Pflanzen als Symbol für Schönheit, aber auch Vergänglichkeit bieten sich als Motiv für diesen Blog besonders gut an. Und in unserem Garten finden sich reichlich schöne Blumen, die mir eine ordentliche Auswahl an Möglichkeiten bieten. Wobei sich unser Garten auch in anderer Hinsicht als Symbol für Vergänglichkeit anbietet: 

So sieht es außen aus ....

Er ist das lebende und blühende Erbe meiner 2004 verstorbenen Mutter. Vieles hier sieht noch immer so aus, wie meine Mutter es dereinst geplant und angelegt hatte. Wenn ich also mit diesen Blumen arbeite, die aus diesem Garten stammen, geht es auch um ein anderes Thema: Es geht darum, was weiterlebt, darum, was bleibt, wenn Menschen gestorben sind. Passt also in den Gesamtkontext. Allerdings gibt es ein Thema, bei dem sich die Suche nach den richtigen Fotos als besonders schwierig gestaltet - und das ist meine Serie über die "besten Filme über Trauer, Tod und Sterben", auch wenn das nicht glauben sollte. Und doch ist es so: Als Blogger die Szenenfotos aus Filmen zu verwenden, ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit.

... und so kommen verblühte Rosen zu einer letzten Ehre.

Denn auch und gerade bei Filmfotos gilt es, das Urheberrrecht zu beachten: Jedes einzelne Foto ist geschützt, irgendjemand irgendwo auf der Welt hat die Rechte an diesem Bild. Und es gilt erstmal, diesen Rechteinhaber ausfindig zu machen und freundlich nachzufragen: Darf ich die Fotos bitte verwenden? Weil ich in meiner Serie aber keine aktuellen Filme bespreche, sondern ältere, handelt es sich bei der Suche nach dem Rechteinhaber um einen steinigen und aufwändigen Weg, der wenigstens genausoviel Arbeitszeit beansprucht wie das Schreiben des Textes (!). Bei Filmen ist es deswegen so schwierig, weil nach der Kinoverwertung auch die Rechteverwertung einen Weg nehmen kann, der schwer nachvollziehbar wird. Da kann es beispielsweise sein, dass der ehemalige Rechteinhaber sein Paket an einen anderen verkauft hat (Teile von 20th Century Fox sind, beispielsweise, inzwischen an Disney gegangen). Oder dass der Rechteinhaber an der DVD-Vermarktung eines Filmes wiederum ein anderer ist als Rechteinhaber für die Streaming-Auswertung. Und, und, und.... Mein erster Arbeitsschritt, wenn ich einen neuen Text für die Serie geschrieben habe, ist dann immer die Suche nach dem Rechteinhaber und die Suche nach Fotos. 


Nicht immer finde ich jemanden, der mir helfen kann. Manchmal wissen selbst die ehemaligen Rechteinhaber nicht mehr, wer aktuell eigentlich die Rechte haben könnte, manche Anfrage verläuft ins Leere. Aber was tun, wenn sich kein Urheber finden lässt, der mir sein Einverständnis gibt? Da heißt es dann für mich, dass ich erfinderisch werden muss. Und dass ich mir einen kleinen Trick zunutze machen muss. Einen längeren Artikel über einen Film zu veröffentlichen, ohne dass Fotos einen Eindrucks davon geben, halte ich für nicht praktikabel. Zwei Dinge gilt es jetzt zu beachten. Erstens: Das Bild muss immer eine so genannte "Belegfunktion" erfüllen, das heißt, das gezeigte Bild muss unbedingt in den Kontext passen. Um es in einem Beispiel zu sagen: Wenn ich über einen Film schreibe, darf ich als Beleg ein Foto des Films benutzen, aber ich darf dieses Foto auf gar keinen Fall in einem anderen Kontext benutzen (was manchmal sehr schade ist, denn es gibt so viele tolle Filmszenen, die zu anderen Themen auf diesem Blog passen würde). Und zweitens darf ich mit "Bildzitaten" arbeiten. Denn das Urheberrecht erlaubt die Veröffentlichung eines „Werkes zum Zweck des Zitats, sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist“ (§ 51 UrhG). Nun ist es juristisch gesehen eine Auslegungssache, wie ein solches Bildzitat zu verstehen ist - und ich bastele derzeit noch an Lösungen, wie ich selbst damit umgehen möchte. Und wer weiß - vielleicht wird mich meine Frau bald wieder dabei ertappen, wie ich mit Spielzeug in der Hand über den Boden des Kinderzimmers krieche. Immer auf der Suche nach einer kreativen Fotoidee.

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: 27 gute Rituale für eine Trauerfeier - wie sich eine Gedenkfeier so gestalten lässt, das sie den Angehörigen/Trauenden gut tun kann

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Was muss ich machen, wenn ich wegen Trauer krankgeschrieben werden möchte? Geht das überhaupt und wenn ja, wie denn?

Der neue Podcast von Thomas Achenbach: "Trauergeschichten - Menschgeschichten", Gespräche über Leben, Tod und Sterben, jetzt online

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Mittwoch, 17. Februar 2021

Die besten Filme über Trauer, Tod und Sterben, Folge 1: Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt (und warum sich der Film auch sonst lohnt) - Serie über "Die besten Trauerfilme", Tipps/Rezensionen

Osnabrück - Sein bester Freund hat sich gerade erschossen und seine Lieblingstante ist vor wenigen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Kein Wunder, dass der 15-jährige Charlie manchmal Aussetzer hat, sich an nichts erinnern kann. Oder dass er nur noch in gelegentlichen Flashbacks an diese wohl traumatischsten Szenen seines jungen Lebens erinnert wird - zum Beispiel jenen Augenblick, als der Polizist vor der Tür stand. Und trotzdem versucht der Schüchterling, der auch ganz ohne diese Traumata ein klassisches Mauerblümchen wäre, irgendwie unfallfrei durch die Schulzeit zu kommen. 

Mit dem Jugenddrama "Vielleicht lieber morgen" beginnt hier auf diesem Blog eine neue Serie über die besten Filme rund um die Themen Trauer, Tod und Sterben. Und da gehört diese Coming-Of-Age-Geschichte aus den ausklingenden 90er Jahren durchaus dazu - weil sie zeigt, wie vielschichtig die Ebenen von Verdrängung sein können. Ich gebe gerne zu: "Vielleicht lieber morgen" ist eher ein leichtherzigerer Film mit einem tragischen Unterbau, relativ gut zu ertragen, vergleichsweise, mehr Teeniedrama als Trauerstudie. Genau damit setzt er einen guten Startpunkt für diese Serie. Es werden auch noch andere Filme eine Rolle spielen. Außerdem ist es der Film, mit sich die umwerfende Emma Watson erstmals von ihrer Harry-Potter-Hermine-Überfigur freigespielt hat.  

Eine Reise durch die Welt der Trauerfilme


Was können uns Spielfilme über das Erleben von Trauer erzählen? Können wir etwas über das Leben lernen? Kommen sie der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation nahe? Sind Sie für Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise geeignet, weil sie ihnen Verständnis oder Ermutigung anbieten können? Diese Fragen bilden sozusagen das Grundgerüst für meine Reise durch die Welt der Trauerfilme, die ich für diesen Blog unternehmen möchte. Startend mit einer - trotz aller Schwere - bewundernswert lockerleichten Kost: Mit den "Vorteilen des Mauerblümchendaseins", wie der Originaltitel "The Perks Of A Wallflower" es treffend ausdückt. Willkommen in der Welt von Charlie. 

"Vielleicht lieber morgen" ist auf DVD und Blu Ray und über Netflix erhältlich (alle Fotos: Capelight Pictures, mit freundlicher Genehmigung).

Obwohl Charlie seinem täglichen Highschool-Leben und seinen eigenen Gefühlen vollkommen hilflos ausgeliefert ist, ahnt er doch, dass es auch ein Leben als Erwachsener geben könnte. Eines nach der Schule. Also zählt er einfach die rund 1400 Tage rückwärts, die es noch braucht, bis er dort rauskommt. Während er in seinem Inneren noch mit den beiden Todesfällen beschäftigt ist. Doch ist der Film "Vielleicht lieber morgen" keine Studie über Trauer oder über Traumata - auch wenn er durch eine ganz unvorgesehene Wendung gegen Ende eine existenzielle Tiefe erhält -, sondern ein hochintelligenter und glücklich machender Film über Teenager, wie ich wohl auch mal einer war und es tausende sind: Mehr so aus der Ecke unangepasster Individualist, nicht überall dazugehörend, gefangen in ganz eigenen Welten und emotionalen Verstrickungen. Nirgendwo kann er so richtig andocken - und die Altlasten aus der Vergangenheit scheppern zusätzlich in seiner jungen Seele, die damit noch ziemlich überfordert ist. Was Charlie aber gar nicht so richtig merkt und was anfangs auch nur angedeutet wird.

Der Stoff ist inzwischen sogar Schullektüre


Charlie schreibt regelmäßig Briefe, in denen er von seinem Leben berichtet - und von seinem Innenleben. Dieses Element ist im Film so beibehalten, macht aber deutlich, dass eine literarische Vorlage zugrunde liegt. Der Briefroman „The Perks of Being a Wallflower“ – übersetzt etwa:  Die Vorteile eines Mauerblümchendaseins – ist im Herbst 1999 erschienen und hat sich mittlerweile zu einem Kultbuch entwickelt, das auch in Schulen oft gelesen wird, wobei die deutsche Buchversion einen anderen Titel trägt, nämlich "Das also ist mein Leben". Warum diese beiden wesentlich besseren Originaltitel für den deutschen Film durch „Vielleicht lieber morgen“ ersetzt wurden und ob das Vorteile bringt, sei mal dahingestellt. Aber weil sowohl Film und Buch nicht einfach nur eine Coming-Of-Age-Geschichte erzählen und weil sie die üblichen Klischees dieser Gattung von Film oder Literatur gekonnt umschiffen, lohnt sich die Beschäftigung mit dem Werk. 

Auf ins Erwachsenenleben - da mussten wir alle durch


Denn als sich Charlie mit einem ziemlich wilden Geschwisterpaar anfreundet, nämlich mit der hübschen Sam und ihrem Bruder Patrick, beginnt sich seine Welt langsam zu wandeln. Sam hat den Ruf, ein Flittchen zu sein, Patrick ist offen homosexuell. Beide sind ebenfalls Außenseiter, aber wesentlich standfester. Durch sie erfährt Charlie erstmals ein Akzeptiertsein, das er bislang nicht kannte. Und mit dieser neuen Freundschaft beginnt seine Reise: Raus aus dem längst abgelegten Kinderleben und hin zu all den nötigen wie lästigen Turbulenzen einer beginnenden Adolenszenz. Mit allem dabei, was dazugehört: Dem ersten Vollrausch, dem ersten existenziellen Verliebtsein, dem ersten Sex und, nicht zu vergessen, einem Haschkeks… Doch erst die intime Berührung eines Mädchens ist es, die Charlies Leben am Ende des Films vollkommen auf den Kopf stellen wird. Wenn auch gänzlich anders als erwartet. Mehr darüber zu verraten wäre ein Monsterspoiler – nur soviel: Es hat etwas mit Trauma und Abspaltung zu tun und katapultiert den gesamten Film auf eine ebenso mutige wie unerwartete neue Ebene. Aber: Ist es auch ein geeigneter Film, der einem so etwas Komplexes wie Trauer nahebringen kann....? Werfen wir einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie: 

- 1.) Was sagt der Film darüber aus, wie Trauer ist - wie sie sich anfühlt? 

„Ich bin glücklich und traurig zugleich und versuche noch immer herauszufinden, wie das eigentlich sein kann“, schreibt Charlie in einem seiner Briefe. Das grundlegende Gefühl dem Leben irgendwie hilflos ausgeliefert zu sein, gekoppelt an gelegentliche Flashbacks, ist sozusagen der Unterbau dieses Films. Tatsächlich spielt Charlies Trauer an sich fast gar keine Rolle, sie bleibt mehr so die erahnbare Grundstimmung, die aber nur in Andeutungen gestreift wird. Das ist einerseits einer der großen Pluspunkte dieses Films, andererseits aber muss ganz klar gesagt sein: "Vielleicht lieber morgen" ist kein Film über Trauer. Eher noch ist er ein Film über Traumata. Vor allem aber ist es ein Film über das Großwerden und die Irritationen auf dem Weg dorthin.

Charlie (Logan Lerman) fühlt sich nicht wohl in seiner Haut (Foto: Capelight Pictures).

- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert? 

Vermutlich nur bedingt. Letztlich bleiben die erlebten Verluste als Themen zu unbehandelt, sie werden allenfalls am Rande erwähnt. Vor allem der Suizid des besten Freundes spielt im Grunde gar keine Rolle. Was jedoch im Film weitestgehend untergeht und sich erst bei einem Blick in das zugrundeliegende Buch erschließt: Dass Charlie diese Briefe mit seinen inneren Monologen an die gestorbenen Menschen adressiert. Es sind also Briefe, die den Toten gegenüber noch einmal das zur Sprache bringen wollen, was noch gesagt werden sollte und was innerlich gerade "obenauf liegt". Das ist ein Ritual, mit dem in einer Trauerbegleitung - je nach Art des Verlusts - durchaus auch gearbeitet werden kann. Und es kann ein kraftvolles Ritual sein. So gesehen: Ein guter Tipp. 


Charlie (Logan Lerman) gibt Sam (Emma Watson) Nachhilfe (Foto: Capelight Pictures). 

- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)? 

Flashbacks und Verdrängung, Trigger-Augenblicke, die einen aus dem aktuellen Leben reißen, das gehört bei manchen Menschen zu ihren Trauerprozessen durchaus dazu. Und es gehört auch dazu, dass diese Momente einen völlig überraschend in Situationen überfahren, in denen man niemals mit so etwas gerechnet hätte. Das alles zeigt der Film durchaus eindrucksvoll. Jedoch braucht es ein bereits vorhandenes Verständnis von all diesen Prozessen, um sie als das wahrnehmen zu können, was sie sind. Wer sich noch nicht mit den Themen Trauer, Tod und Sterben beschäftigt hat, dürfte fast enttäuscht sein, wenn er an diesen Film die Erwartung stellt, dass dieser sie ihm nahebringen kann. 

Charlie (Logan Lerman) wartet auf seinen Freund Patrick (Foto: Capelight Pictures). 

- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film? 

Die Tunnelszene - mit dem grandiosen "Heroes" von David Bowie als Soundtrack dazu. Es gibt dieses Ritual, das die beiden Geschwister offenbar öfters zelebrieren: Immer dann, wenn ein anregender Song die beiden emotional packt, fahren sie zu einem ganz bestimmten Tunnel, um dann dort hindurchzufahren. Im Tunnel angekommen, steigt Sam (Emma Watson) durch die Dachluke der Fahrerkabine auf die Ladefläche des Pickups und steht dort hinten, bei vollem Tempo, die Kleidung im Fahrtwind flatternd, wie Kate Winslet am Bug der Titanic... Das erste Mal erfahren wir als Zuschauer etwas über dieses Ritual, als die beiden Geschwister mit Charlie im Pickup auf dem Nachhauseweg sind und plötzlich David Bowies "Heroes" aus dem Autoradio erklingt... "Oh mein Gott, was ist das für ein Song?", fragt Sam - und dann: "Patrick, wir müssen durch den Tunnel fahren!!"... Was sie dann auch tun, genauso wie oben beschrieben. In dieser kurzen Szene ist echt alles drin, was Jungsein ausmacht: Freiheit, Wildheit, die Poesie der Jugend, das Gepacktsein von einem Song, der einen ganz tief in den Sog des Augenblicks hineinzieht - in einen Augenblick, der wie die Ewigkeit ist. We could be heroes. Just for one day. Großartige Szene (als Youtube-Clip unter diesem Link zu finden).


Auf einer Party lernt Charlie (Logan Lerman) neue Freunde kennen (Foto: Capelight Pictures).

- 5.)  Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Film in einem angeregt? 

Was ist der Soundtrack Deines Lebens? Der Soundtrack Deiner Jugend? Lässt sich in Deiner Lieblingsmusik eine biographische Linie entdecken? Wie sähe diese aus? Und: Welche Musik braucht es, damit Du Dich ganz frei fühlen kannst?

Charlie (Logan Lerman) und Sam (Emma Watson) feiern Patricks (Ezra Miller) bestandene Prüfung (Foto. Capelight Pictures). 

- Mein Fazit und meine Empfehlung: "Vielleicht lieber morgen" ist ein großartiger Film über einen vielfältigen Strauß von Themen, die geschickt ausbalanciert erzählt werden, ohne dass sich der Film dabei verheddert. Obwohl dem Genre der Coming-Of-Age-Geschichten zugeordnet, verliert sich der Film nicht in den üblichen Mustern von Mobbing und Opferdasein, sondern erzählt eine ebenso intensive wie schmerzvolle Geschichte über das Erwachsenwerden unter erschwerten Bedingungen. Die drei Jungdarsteller Logan Lerman, Emma Watson und Ezra Miller sind durchweg überzeugend und großartig. Einer der größten Pluspunkte des Films ist es, dass er immer angenehm unprätentiös bleibt. 
Hochintelligent, dazu mit viel guter Musik; ein Film, der glücklich machen kann. Dass der Film in einer Zeit angesiedelt ist, in der es noch Cassetten gab, dafür aber keine Handys, macht ihn meiner Meinung nach zusätzlich sympathisch


--------------- Alle Folgen aus der Serie "Die besten Trauerfilme": ------------

- Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt - zur Folge 1 der Serie

- Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine exakte Studie über das Trauern ist - zur Folge 2 der Serie

- Was uns das oscar-prämierte US-Drama "Manchester By The Sea" alles über Schuld und Familiensysteme in Trauer erzählen kann- zur Folge 3 der Serie

- Der Tod zweier Söhne, ein Familiensystem und seine Geschichte - warum John Irvings "The Door In The Floor" ein Fim übers Erzählen ist - Folge 4

- Der Suizid der Mama und wie eine Familie weiterzumachen versucht, eindrucksvoll, aber zurückhaltend gezeigt in "Der letzte schöne Tag" - Folge 5

- Ein poetischer Film über Japan, alternde deutsche Ehepaare und die ewige Nähe des Todes - Dorris Dörries "Kirschblüten Hanami" ist eine Wucht - Folge 6

- Warum der Spielfilm "Das Zimmer meines Sohnes" unbedingt sehenswert und bemerkenswert realistisch eine Familie in Trauer abbildet - Folge 7 der Serie

- Ein kluger Film darüber, wie Trauer als latente Grundschwingung das Leben junger Menschen beeinflussen kann, "Dieses Sommergefühl"Folge 8 der Serie

- Als Familie nach dem Tod eines Kindes in der Ferne den Neustart wagen - was das mit Geschwistern und Eltern macht, erzählt "In America" - Folge 9 der Serie 

- Warum "Blaubeerblau" der perfekte Einsteiger-Film für alle ist, die sich an das Thema Hospiz noch nicht so richtig herangetraut haben - Folge 10 der Serie

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Im Trauergeschichten-Podcast zum Hören: "Darf ich das - ist das normal?" - was sich Trauernde so alles fragen und was es darauf für Antworten gibt  

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellt und was das für den Trauerprozess bedeuten kann - über die "Aufgaben der Trauer"

Ebenfalls auf diesem Blog: Entrümpeln, Ausmisten und Aufräumen nach dem Tod eines Menschen - was mache ich damit und warum ist das so hart?

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

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Freitag, 12. Februar 2021

Jeder hat seinen ganz eigenen Blick auf den Toten: Warum es bei Trauerfeiern so wichtig ist, alle Gäste mit einzubeziehen und warum freie Redner in Deutschland neue Qualitätsstandards brauchen - mein Gespräch mit Martin Diederich, Autor des Buchs "Reden als Ritualkunst" ist jetzt in meinem Podcast verfügbar

Osnabrück - Der Osnabrücker Martin Diederich möchte für die immer weiter wachsende Szene der freien Redner für Trauerfeiern und Hochzeiten eine neue Grundlage schaffen. Denn obwohl immer mehr Menschen in Deutschland ihre höchst privaten Rituale in die Hände von nicht-kirchlichen Rednern bzw. Ritualgestaltern geben, gibt es hierfür weder verbindliche Qualitätskriterien, noch Qualitätssiegel, noch gemeinschaftliche Standards, geschweige denn ein bundesweit verbindliches Curriculum für die Qualifizierung. Der Ex-Pastor Martin Diederich möchte das ändern, auch im Hinblick auf Trauerfeiern. Wie genau und warum überhaupt, das erzählt er in einer neuen Episode meines Podcasts "Trauergeschichten - Menschgeschichten", die jetzt online ist.

Martin Diederich hat ein Buch geschrieben, das die fachlichen Grundlagen für das Ritualdesign in Deutschland legen möchte: "Reden als Ritualkunst" heißt es - und sein Anspruch ist es, den Rahmen zu stecken dafür, wie freie Redner ihre Arbeit verstehen und eine eigene Haltung entwickeln können. Denn dass dieser Schritt nötig sein kann, zeigt die aktuelle Entwicklung in Deutschland. Der Markt für freie Redner ist von einem großen Wachstum geprägt - sie bieten Ihre Dienste für Trauerfeiern oder Hochzeiten ebenso an wie für Willkommensfeiern von Babys oder Übergangsfeiern von der Kindheit in die Jugend. Für die Menschen, die eine Feier organisieren wollen, heißt das aber auch: Wer die Auswahl hat, der hat die Qual. Denn wer freier Redner werden möchte, der kann ganz ungeprüft und ohne jede Qualifizierung seine Dienste anbieten. Was heutzutage dazu führt, dass oft schon die für Hochzeiten gebuchten DJs damit beginnen, ihre Dienstleistung einfach zu erweitern.  

(Foto: Thomas Achenbach)

Und wie es derzeit im Bereich des Coachings zu erleben ist, wächst mit dem Angebot an Aktiven auch das Angebot an Ausbildungsmöglichkeiten. Ein gemeinsames, bundesweit gültiges Verständnis von Qualitätskriterien für Redner, ein allerorten angewandtes Curriculum für die Qualifizierung von Rednern, also eine bundesweit genormte Ausbildung, nichts davon gibt es derzeit; das Wenige, was es gibt, steckt noch arg in seinen Kinderschuhen. Deswegen möchte Martin Diederich, der als ehemaliger Pastor in Osnabrück seine Dienste als Ritualgestalter anbietet, dazu anregen, sich noch einmal ganz grundsätzlich mit den fachlichen Grundlagen zu beschäftigen und eine neue Haltung zu entwickeln. Denn es dürfe nicht unterschätzt werden, was die Aufgabe als Freier Redner mit sich brächte. Oder wie Martin Diederich es formuliert: "Wir begleiten Menschen in schwerwiegenden Lebensübergangssituationen..."

Das Ritual teilt das Leben - ins Davor und Danach

Sowohl der Tod eines Menschen als auch der Eintritt in das Eheleben seien Wendepunkte, die das Leben unterteilten in ein Davor und ein Danach. Dem müsse auch das Ritual, das der Freie Redner zu gestalten hat, Rechnung tragen: Die Menschen bei diesem Übergang zu begleiten. "Es ist unsere Aufgabe, dass die Menschen in dieser neuen Lebensphase ankommen." So beschreibt es Martin Diederich in unserem Gespräch. "Und da finde ich es ganz bitter, wenn wir das einfach nur intuitiv machen müssen -  einfach, weil es die fachliche Grundlage dafür noch nicht gibt, und da möchte ich gerne ein bisschen helfen...". Zumal es noch einen weiteren ganz wichtigen Punkt zu berücksichtigen gälte:

(Foto: Thomas Achenbach)

Sowohl bei einer Trauerfeier als auch bei einer Hochzeit müsse es darum gehen, dieses Ritual, dieses Ereignis, nicht nur für die Hauptpersonen zu gestalten, sondern so, dass alle Gäste sich angesprochen fühlten und alle mit einbezogen sein könnten. Was vor allem bei einer Hochzeit eine Herausforderung sein könne, denn da kommt nach Martin Diederichs Worten ein sehr künstlich zusammengesetzter Personenkreis zusammen, der sich im realen Leben sonst nie so treffen würde: Kollegen ebenso wie Angehörige ebenso wie Freunde ebenso wie Nachbarn, etc. Dennoch gelte: Die Gäste müssen erfahren, warum sie wichtig sind. Auch bei Beerdigungen kann das eine Gratwanderung sein.

Martin Diederich aus Osnabrück (Foto: J. Escher).

"Ich will als Mensch auf dieser Beerdigung mitgenommen werden in meiner Sicht auf den Gestorbenen - und zwar so, wie diese Sicht ist", sagt Martin Diederich im Podcast. Das sei aber nicht immer einfach herzustellen, weil ja jeder Anwesende einen ganz eigenen Blick auf den gestorbenen Menschen gehabt habe. "Jeder kennt den ja anders", formuliert es Diederich "Es ist ein Riesenunterschied ob du Abschied nimmst als Ehepartner oder als Kind als als Kollege oder als Kumpel". Es sei durchaus schon vorgekommen, dass ein gestorbener Mensch alleine von seinen Kindern jeweils total unterschiedlich gesehen wurde... Das wiederum wirkt sich alles auf die Erwartungen an die Trauerfeier aus. "Du gehst ja nicht nur um mit einem Menschen, du gehst um mit diesem ganz unterschiedlichen Erleben von Menschen", formuliert der Osnabrücker es. Deswegen ist es nach Diederichs Auffassung so wichtig, dass im Vorgespräch zu den Anlässen sensibel vorgegangen und sehr gut zugehört wird. Nur...:

(Foto: Thomas Achenbach)

"Hören und verstehen, das muss geübt und gelernt sein, sonst versteht man falsch". Zumal das Vorgespräch zu einer Trauerfeier, aber auch zu einer Hochzeit, immer auch eine fast schon therapeutische Funktion erfüllt. "Das hat eine Begleitungsdimension", formuliert es Martin Diederich. "Wenn man mit Leuten redet, in so einer Situation, dann ist es Begleitung - Du redest über Gefühle, über Persönliches. Und es geht immer um die Beziehungsbedeutung." Es geht um Narrative, um Lebensgeschichten, um den Umgang mit Erinnerungen. Alles Ansprüche, die eine gute Haltung und eine fundierte Qualifizierung des Ritualgestalters nötig machen.

Das gesamte Gespräch mit Martin Diederich gibt es in meinem Podcast "Trauergeschichten - Menschgeschichten" unter diesem Link....

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

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Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: 27 gute Rituale für eine Trauerfeier - wie sich eine Gedenkfeier so gestalten lässt, das sie den Angehörigen/Trauenden gut tun kann

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Was muss ich machen, wenn ich wegen Trauer krankgeschrieben werden möchte? Geht das überhaupt und wenn ja, wie denn?

Der neue Podcast von Thomas Achenbach: "Trauergeschichten - Menschgeschichten", Gespräche über Leben, Tod und Sterben, jetzt online

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Mittwoch, 3. Februar 2021

Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellen kann und welche Aufgaben das sind - ein Trauermodell, das mal etwas anderes funktioniert als andere - Eine Mini-Einführung in das Modell der Traueraufgaben nach William Worden

Osnabrück - Ein Trauermodell, das ich gerne benutze bei Gruppentreffen und in meinen Büchern, kommt aus Amerika und geht von einem ganz anderen Ansatz aus als andere Modelle. Nachdem ich vor einigen Monaten auf diesem Blog bereits das "Duale Prozessmodell der Trauer" vorgestellt hatte, was auf sehr viel Interesse gestoßen war (der Link findet sich am Ende des Artikels), möchte ich heute das Augenmerkt auf dieses andere Trauermodell legen, das mir sehr am Herzen liegt. Es geht davon aus, dass die Trauer uns Menschen vor Aufgaben stellt. Et voilá: So funktioniert das Modell der Traueraufgaben nach William Worden.

Wer in Trauer ist, der erlebt oft ein großes Durcheinander verschiedenster Prozesse. Manchmal sogar innerhalb eines Tages. Wut und Aggression tauchen ebenso in Schüben auf wie Phasen großer Ohnmacht und Hilflosigkeit. Das alles verläuft mehr in parallelen Wellenbewegungen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Verlaufsmodellen und Phasenmodellen, die den Verlauf eines Trauerwegs in verschiedene Stadien einzuordnen versuchen. 
Eines der mich am meisten Überzeugendsten ist dabei das des Trauerforschers Dr. William J. Worden, der sein Modell als "Die Aufgaben der Trauer" (The Tasks Of Mourning) beschreibt. Es ist ein Modell, das meiner Meinung nach die tatsächlichen Gefühlsspiralen und das Hin und Her im Inneren von Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise perfekt abzubilden versteht. Und so funktioniert es.


(Foto: Pixabay.com/Tumisu, Cc-0-Lizenz)

Was mir an diesem Modell so gut gefällt, ist alleine schon die Umkehrung der Verhältnisse: Wenn uns die Trauer vor Aufgaben stellt, dann ist es nicht nur ein passives Ereignis, das sich an uns abarbeitet. Sondern wir haben etwas zu tun: Wir müssen Aufgaben lösen. Das finde ich überzeugend. Die "Aufgaben der Trauer" sind eben nicht ein zu erduldendes Durchleben von sich irgendwie einstellenden Verläufen, sondern ein aktives Gestalten und (Mit-) Steuern eines Entwicklungsprozesses. William J Worden ist übrigens eigentlich ein Psychologe, der sich im Laufe seiner Karriere dem Verlauf der Trauer gewidmet hat. Sein Buch "Beratung und Therapie in Trauerfällen" (englisch: Grief counseling and grief therapy) erschien erstmals 1982 und ist für mehrere Neuauflagen von Worden selbst stets aktualisiert und überarbeitet worden. 

William J. Worden sagt, es gibt vier wichtige Aufgaben innerhalb eines Trauerprozesses, denen er jeweils einen bestimmten Namen gegeben hat bzw. eine bestimmte Funktion zugeordnet hat. 

Aufgabe Nr. 1 in der Trauer - nach William Worden: 
Das Begreifen. Das ist leichter gesagt als getan. Grob gesagt geht es darum, die Tragweite des Verlusts zu akzeptieren, diesen als neue Realität anerkennen zu lernen. Der oder die Gestorbene ist tot, wird nicht wiederkehren, das muss erstmal verinnerlicht werden. Oft geht das nur in ganz kleinen Stücken oder ganz kleinen Schritten, oft berichten Trauernde, dass der Verstand dort weiter ist als das Herz es jemals sein könnte. 

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Aufgabe Nr. 2 in der Trauer - nach William Worden: Die Gefühle und die Schmerzen zu durchleben. Es geht darum, alle Schmerzen und die Verzweiflung zulassen, sie auszuleben, wahrzunehmen, nicht wegzudrücken. Das ist oft besonders schwer, weil dieser Prozess erstens sehr viel länger dauern kann als gedacht und weil zweitens das Umfeld von Trauernden oft ungeduldig wird. Meistens steht dem eine Erwartungshaltung entgegen, die besagt: Komm, sei doch mal wieder normal. Aber normal ist nun einmal gar nichts in einem Trauerprozess, also in einem Prozess, der ja nun gerade das Unnormale aufzuarbeiten wünscht. Laut Worden ist es in Ordnung, all das zuzulassen, was da ist, ja, es sozusagen zu durchschreiten: Ein Gelähmtsein oder eine um sich schlagende Verzweiflung. Eine Niedergeschlagenheit oder eine wachsende Aggression. Die Sehnsucht und das Den-Tod-beklagen. Gehört alles dazu. 

Aufgabe Nr. 3 in der Trauer - nach William Worden: Neuorientierung und das Suchen nach neuer Stabilität. Trauer ist wie ein Mobile aus dem ein Teil herausgeschnitten worden ist. Das ganze System ist in Unordnung geraten, alles, was vorher im Gleichgewicht gewesen ist, gerät in ganz unerwartete Bewegungen. Das System selbst muss sich erst wieder neu orientieren, muss sich neue Stabilitäten suchen, fast alle Komponenten dieses Systems müssen sich neu zusammenfinden. Das braucht Zeit und Geduld - und es ist eine der Aufgaben, vor denen Menschen in einer Verlustkrise oft stehen. Hobbies, die man gepflegt hat, machen keine Freude mehr. Dafür tut es einem plötzlich gut, stundenlange Spaziergänge zu machen oder mit seinen Toten am Grab oder sonstwo einen Dialog zu führen. Menschen, die einem früher gut getan haben, wenden sich plötzlich von einem ab, andere tauchen auf, die hilfreich sein. Das ganze Leben muss sich neu ordnen - und der in einer Verlustkrise steckende Mensch sieht sich vor der Aufgabe, diese Sortierungen vorzunehmen bzw. sorgsam drauf zu achten, was gerade mit ihm geschieht. Darum geht es. 

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Aufgabe Nr. 4 in der Trauer - nach William Worden: Der oder dem Toten einen neuen Platz zuweisen. Es geht in einem Trauerprozess eben nicht, wie es Außenstehende einem oft empfehlen, um ein "Loslassen", aber eben auch nicht um ein krampfhaftes "Festhalten". Stattdessen ist es hilfreich, dem Verstorbenen einen gefühlsmäßigen (oder auch tatsächlichen) Platz zu geben, einen Ort, wo man weiß, dass man ihn oder sie finden kann. Dass so etwas funktionieren kann, spiegeln mir die Menschen, die ihre eigenen Verlusterfahrungen schonn vor vielen Jahren gemacht haben, so hart sie auch gewesen sein mögen (verlorene Kinder, beispielsweise): Dass die Trauer niemals so ganz aufhört, dass aber der Schmerz in Intensität verliert, dass das Leben wieder einen neuen Mittelpunkt und eine neue Balance finden kann, auch wenn es keinen Tag gibt, an dem man nicht an den oder die Verstorbenen gedacht hat. Weil die Toten auch im Leben der Hinterbliebenen ihren neuen Platz gefunden haben. Was das bedeuten kann, macht der britische Autor Julian Barnes in einem Satz deutlich: "Das können diejenigen, die den Wendekreis des Leids noch nicht überschritten, oft nicht verstehen - wenn jemand tot ist, dann heißt das zwar, dass er nicht mehr am Leben ist, aber es heißt nicht, dass es ihn nicht mehr gibt." Und darum geht es bei dieser Aufgabe.  

Ein weiteres Trauermodell, das sich anzuschauen lohnt: So funktioniert das 
"Duale Prozessmodell der Trauer" (bitte hier klicken)

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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Der neue Podcast von Thomas Achenbach: "Trauergeschichten - Menschgeschichten", Gespräche über Leben, Tod und Sterben, jetzt online

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