Aber Piet hört gar nicht richtig hin. Er ist vertieft ins Spiel; Kind, das er noch ist. Beim Spielen hat die Trauer keinen Platz. Eine von vielen Szenen, die "Der letzte schöne Tag" zu einem starken und sehenswerten Film machen - und zu einer sehr exakten Studie darüber, wie sich das Weitermachen für eine Familie anfühlt, wenn sich jemand aus ihrem vermeintlich so festen Gefüge das Leben genommen hat. Damit gehört der 2011 veröffentlichte Film unbedingt in diese Serie über die besten Trauerfilme - zumal er für einen Fernsehfilm in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich ist.
Was können uns Spielfilme über das Erleben von Trauer erzählen? Können wir etwas über das Leben lernen? Kommen sie der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation nahe? Diese Fragen bilden sozusagen das Grundgerüst für meine Reise durch die Welt der Trauerfilme, die ich für diesen Blog unternehmen möchte. "Der letzte schöne Tag", gedreht für die ARD als ein so genanntes Fernsehspiel, bietet auf all diese Fragen viele Antworten. Zum Beispiel dieser Leichenschmaus: Der frische Witwer bleibt nahezu unbeteiligt, während sich die Gespräche an den Tischen um die gestorbene Familienmutter, also seine Frau, drehen. Die sei ja immer so unordentlich gewesen. Und so schwierig. Dass sie krank gewesen ist, hat der von Wotan Wilke Möhring eindrucksvoll gespielte Lars Langhoff seinen beiden Kindern immer wieder gesagt. Depressiv, verschlossen, überfordert. Dass sie sich deswegen umgebracht habe, hat er zumindest seiner Tochter erzählt. Dass das nichts mit den Kindern zu tun habe. Und doch wird diese Krankheit in den Leichenschmaus-Gesprächen zu etwas Bizarrem und Fremdartigen gewendet, wird die Tote zum Sonderling erklärt. Als dann später auch noch an manchen Tischen herzlich gelacht wird, dreht sich die 14-jährige Tochter Maike Langhoff angewidert weg. "Das hier hat doch gar nichts mit Mama zu tun", sagt sie.
Wie realitätsgetreu dieser Film sein Thema zu durchleuchten versteht, zeigt sich schon zu Beginn: Gleich zum Start erledigt die Mutter noch eine Reihe von Telefonanrufen. Sie erkundigt sich bei der pubertierenden Tochter Maike, wann diese fürs Kino verabredet sei. Was die Tochter ziemlich nervt - Kontrollanruf oder was? Sie ruft ihren Sohn Piet an und sagt ihm, dass sie ihm eine spontane Übernachtung bei seinem Lieblingsfreund organisiert hat, worüber der sich sehr freut, jedoch wartet ja schon das Fußballspiel, ob denn noch was sei? Sie ruft ihren Mann an um zu fragen, ob es spät würde am Abend, was es wird, denn es ist der erste schöne Tag des Jahres und als Landschaftsgärtner muss die Pflanzzeit ausgenutzt sein. Es ist aber auch der letzte schöne Tag des Jahres, wie der Filmtitel uns sagt. Und bald wird allen klar: All diese Anrufe verfolgten einen perfiden Zweck. Sie waren Teil eines klug ausgetüftelten Plans. So ist das tatsächlich, wenn Menschen fest entschlossen sind, sich das Leben zu nehmen: Sie basteln sich ein Organisationspuzzle rund um den Zeitpunkt ihres Suizids. Der Film läuft keine Viertelstunde, dann ist der Suizid längst vollzogen. Mit den Warums und Wiesos hält sich die Geschichte gar nicht erst auf, das ist nicht ihr Thema. Sie will erzählen, wie es den Hinterbliebenen geht, den Zurückbleibenden, der Familie. Auch den Kindern.
Dass die Mutter übrigens bei all diesen Anrufen gar nicht zu sehen ist, sondern nur die Angerufenen und ihre Reaktion, ist der klugen Dramaturgie des Films geschuldet: wir sehen die von Julia Koschitz gespielte Sybille Langhoff erst als Tote. Und auch in den wenigen Erinnerungsrückblenden, in denen sie wieder auftaucht, bleibt sie geisterhaft, matt, sie spricht nicht, verharrt in Erstarrung. Bis es ihrem Mann einmal reicht und er auf den Tisch haut. Da zeigt sich die Depression der Frau - diese Starre zu erleben macht andere wütend. Auch das ist tatsächlich so.
Dass die größte Leistung beim Schaffen eines Films eben die Schreibleistung ist, also das Drehbuch, geht in unserer allgemeinen Überfixierung auf die Regie als den kreativen Pol allzu oft unter. Und doch kann eine noch so sensible Regie nur gelingen, wenn das zugrundeliegende Buch auch etwas taugt. Bei "Der letzte schöne Tag" gelingt der Spagat: Sowohl die Drehbuchautorin Dorothee Schön als auch der Regisseur Johannes Fabrick hätten in diesem Film eigene Erfahrungen mit Suizid verarbeitet, heißt es in verschiedenen Berichten darüber. Worin sich wieder einmal zeigt, dass der Suizid in Deutschland eben nicht etwa ein Nischen- oder Randthema ist, sondern ein viel häufiger vorkommender Sterbealltag als etwa der Tod durch einen Verkehrsunfall (wie ich für mein Faktenstück zu diesem Thema bereits recherchiert hatte, das sich hier finden lässt)
"Der letzte schöne Tag" betrachtet nur die kurze Zeitspanne vom Tod bis zu den Tagen kurz nach Beerdigung und Trauerfeier. Unspektakulär erzählt, ohne Verkitschung oder dramaturgische Überzeichnung, unprätentiös, manchmal nur in atmosphärischen Skizzen verdichtet, aber genau reingefühlt in jedes einzelne Mitglied dieser Familie... - das muss man erstmal können. Und der Film macht dabei so vieles richtig. Zum Beispiel das hier:
1.) Wer einen Suizid begehen will, der plant alles sehr genau. Wie uns nicht nur die Anrufe der Ehefrau und Mutter zeigen, sondern auch die E-Mail, die Lars Langhoff einige Stunden nach ihrem Suizid bekommt. Zeitversetzt und mit genau eingestellter Verzögerung versandt, informiert die inzwischen gestorbene Sybille Langhoff ihren Mann darüber, was sie getan hat. Ihr vermeintlich letztes Lebenszeichen ist ihr Todeszeichen.
2.) Wer die Kinder schützen will, macht es ihnen damit noch schwerer. "Du hast mich belogen", sagt ein Mitschüler irgendwann zu dem 7-jährigen Piet. "Deine Mutter war gar nicht krank, die hat sich umgebracht". Alle wissen das. Nur Piet weiß das nicht. Dass er das nicht weiß, ist nicht aus böser Absicht geschehen, sondern aus einer Mischung aus Liebe, gutem Willen und großer Überforderung. Aber geholfen ist ihm damit nicht. Dass Kinder auch sehr harte Wahrheiten rund um den Tod gut vertragen können, ja, dass sie ein Recht darauf haben, ist immer wieder auch Thema in diesem Blog (zum Beispiel hier).
3.) Die Hinterbliebenen bleiben nach außen sehr gefasst, auch die Kinder. Irgendwie geht ihr Alltag weiter und irgendwie schaffen sie es, darin funktionsfähig zu bleiben. Zwar gibt es auch Zusammenbrüche, aber nur als kurzzeitige Momentaufnahmen. Ob er denn gleich zum Schwimmen gehen könne, fragt der Junge Piet - nur Minuten nachdem er vom Tod seiner Mutter gehört hat. Und tatsächlich können gerade Kinder in ihre Trauer hinein- und auch wieder rausspringen. Schon bald gehen die Kinder auch zurück zur Schule. Das Leben geht weiter - und ist doch durch blutige Schnitte geteilt in das Davor und das Danach. Dieses Hin- und Herpendeln zwischen Normalität und Bestürzung, zwischen davon berichten Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation oft. "Du bist ja so stark", bekommen sie oft gesagt. Und denken sich insgeheim: "Tja, was soll ich denn machen? Mich auf die Straße legen? Einfach zusammenbrechen?" Geht ja alles gar nicht. Also weitermachen. Genau.
4.) Es gibt große Schuldgefühle. Beide Kinder glauben im Verlauf der Geschichte, dass sie schuld am Tod ihrer Mutter sein könnten. Und der frische Witwer Langhoff fragt sich beim Bier trinken mit seinem Chef, wer seine Frau eigentlich war und ob er sie überhaupt jemals richtig gekannt haben. Und er denkt sich: Ich hätte doch noch etwas tun müssen. Ich hätte etwas tun können. Das ist klassisch für das Leiden der Angehörigen und Freunde. Schuld gehört zum Trauerprozess, aber vor allem gehört sie zur Trauer nach Suizid. Sie erfüllt dann übrigens eine wichtige Funktion, aber das bereits das Thema eines anderen Beitrags auf diesem Blog.
5.) Die Hinterbliebenen wollen auch vom Sterbenden gewürdigt bzw. gesehen werden - wenigstens im Abschiedsbrief. Dass die Mutter ihrer Tochter Maike das verweigert, tut der Jugendlichen besonders weh. "Du und die Kinder, ihr könnt hoffentlich glücklicher leben ohne mich“, schreibt sie. "Die Kinder, nur die Kinder", zischt die 14-jährige Maike verächtlich. Sie wäre gern mit ihrem eigenen Namen angesprochen worden. Sie hätte sich so gerne von ihrer Mutter - auch in deren Abschied - gesehen gefühlt. Und doch stimmt auch das, was ein Polizist dem frischen Witwer lapidar mitgibt: "Seien Sie froh, dass sie einen Abschiedsbrief haben". Den gibt es durchaus nicht immer.
6.) Das neue Bewusstsein für Verletzlichkeit und Verluste. Als der Vater das erste Mal ein Bier trinken geht abends, hat der kleine Piet Angst, dass nun auch der Vater einfach wegbleibt und nie wiederkehrt. Diese neue Verwundbarkeit, die nicht nur kindlich sein muss, die plötzlich ins Leben hineinbrechende Erkenntnis davon, wie endlich wir als Menschen alle sind. Menschen, die eine Trauer- und Verlustsituation erlebt haben, kennen solche und ähnliche Prozesse. Wenn plötzlich die Sirene eines Krankenwagens zu hören ist, zucken sie plötzlich zusammen, auch wenn es ihnen Jahrzehnte zuvor nichts ausgemacht hat, einen Krankenwagen zu hören. Wenn in Romanen oder in Fernsehserien alleine zu dramaturgischen, also zu plakativen Zwecken gestorben wird, legen sie das Buch beiseite oder schalten den Fernseher aus - obwohl sie Jahrzehnte lang viele Bücher und Serien mit Toten darin ausgehalten haben. Wem der tatsächliche Tod ins Leben eingedrungen ist, der mag darin vorerst kein Unterhaltungsmaterial mehr sehen wollen. Und, und, und...
Das alles ist nicht nur ungemein stimmig geschrieben, sondern auch hervorragend gespielt. Vor allem die Jungschauspieler stechen dabei hervor. Immer mal wieder gibt es ganz rührend gewordene Familienszenen. Herrlich, wenn der junge Piet seinem Vater zeigt, wie gut er die Zähne geputzt hat - Lippen hochziehen, Zähne zeigen, blitzt alles? Mit seiner Langhaarfrisur erinnert Schauspieler Nick Julius Schuck frappant an den kleinen Wuschelkopf Tom aus der Kultserie "Ich heirate eine Familie", aber das nur am Rande.
Aber: Ist es auch ein geeigneter Film, der einem so etwas Komplexes wie Trauer nahebringen kann....? Werfen wir einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie:
- 1.) Was sagt der Film darüber aus, wie Trauer ist - wie sie sich anfühlt?
Ziemlich viel - und dann auch wieder nicht: Was dem Film trotz aller Genauigkeit fehlt, ist der eigentliche Trauerprozess. Denn der beginnt so richtig erst an der Stelle, an der die Geschichte hier aufhört. Das liegt daran, dass "Der letzte schöne Tag" nur die Zeitspanne vom Tod bis in den Tagen nach der Trauerfeier betrachtet. Er wirft ein Schlaglicht auf einen eher kurzen Abschnitt. Aber wer schon einmal einen Menschen verloren hat - zumal durch einen Suizid -, der weiß: Was jetzt noch folgt an Auf und Ab, das kann sehr lange dauern. Jahre, oftmals. Jahrzehnte, manchmal auch. Gehört alles dazu.
- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert?
Durchaus ja, aber nicht für alle. Zwar vermeidet der Film krasse Bilder sowie jegliche Überspitzung. Dennoch dürfte, wer gerade einen Menschen durch Suizid verloren hat, noch zu betroffen und angefasst sein, um das ertragen zu können. Das gilt vor allem für die Szene, in der Lars Langhoff seine tote Frau im Wald findet. Der weitere Verlauf dieser Geschichte zeigt dann wiederum so vieles, was Menschen in vergleichbaren Situationen bekannt vorkommen dürfte, dass es fast wie ein (minimaler) Trost wirken könnte - nach dem Motto: Ach guck mal, bei denen ist es ja genauso wie bei uns... Das kennen wir auch. Vor allem lässt Drehbuchautorin Dorothee Schön ihre Familie Langhoff alles durchleben, was auf Menschen in so einer Situation zukommt, vor allem in den ersten Tagen: Das Organisieren der Trauerfeier und Beerdigung. Das Aufräumen des Kleiderschranks. Die Schuldgefühle. Und mehr.
- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)?
Definitiv: Ja.
- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film?
Ehrlich gesagt: Es ist schwer, das auf eine einzige Szene runterzubrechen. "Der letzte schöne Tag" überzeugt als Gesamtleistung. Für mich als textgetriebenen Menschen ist das Gedicht, das bei der Beerdigung von Sybille zitiert wird (und das am Ende des Films nochmal rezitiert wird): Das Gedicht "Letztes Lied" von Mascha Kaléko kann einen mit seiner rilkenahen Sprachschönheit tief im Inneren anrühren. Eine bereichernde Entdeckung (mehr dazu und den Gedichtstext gibt es hier).
- 5.) Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Films in einem angeregt?
Was sagen uns die Menschen, wenn sie nichts sagen? Können wir ihre Signale richtig wahrnehmen und richtig interpretieren? Was tragen wir selbst in unserem Inneren mit uns herum, ohne es mit anderen zu teilen? Denn was mit das Eindrucksvollste an diesem Film ist: Am Ende stellen wir fest, dass wir Sybille zwar öfters erlebt haben - als eine Art Geistererscheinung, in Rückblenden -, aber wir haben sie nicht einmal sprechend als Figur sehen können. Am Anfang des Films kommt ihre telefonierende Stimme aus dem Off. Wenn sie dann auftaucht, ist sie still. Und doch schreibt sie in ihr Tagebuch: Ich kann nicht mehr.
- Mein Fazit und meine Empfehlung: Realistisch, eindrucksvoll, nachvollziehbar und immer nah dran an den Figuren - ein Familiensystem in seinen ersten Tagen nach einem Suizid. Alles was danach geschähe, wäre eine TV-Serie wert. Aber bitte in dieser oben gelobten Qualität.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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Lästereien auf der Trauerfeier - gerade tot, schon belächelt
Was können uns Spielfilme über das Erleben von Trauer erzählen? Können wir etwas über das Leben lernen? Kommen sie der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation nahe? Diese Fragen bilden sozusagen das Grundgerüst für meine Reise durch die Welt der Trauerfilme, die ich für diesen Blog unternehmen möchte. "Der letzte schöne Tag", gedreht für die ARD als ein so genanntes Fernsehspiel, bietet auf all diese Fragen viele Antworten. Zum Beispiel dieser Leichenschmaus: Der frische Witwer bleibt nahezu unbeteiligt, während sich die Gespräche an den Tischen um die gestorbene Familienmutter, also seine Frau, drehen. Die sei ja immer so unordentlich gewesen. Und so schwierig. Dass sie krank gewesen ist, hat der von Wotan Wilke Möhring eindrucksvoll gespielte Lars Langhoff seinen beiden Kindern immer wieder gesagt. Depressiv, verschlossen, überfordert. Dass sie sich deswegen umgebracht habe, hat er zumindest seiner Tochter erzählt. Dass das nichts mit den Kindern zu tun habe. Und doch wird diese Krankheit in den Leichenschmaus-Gesprächen zu etwas Bizarrem und Fremdartigen gewendet, wird die Tote zum Sonderling erklärt. Als dann später auch noch an manchen Tischen herzlich gelacht wird, dreht sich die 14-jährige Tochter Maike Langhoff angewidert weg. "Das hier hat doch gar nichts mit Mama zu tun", sagt sie.
(Alle Fotos: Hager-Moss-Film-GmbH/ARD, mit freundlicher Genehmigung) |
Wenn wir die Mutter erstmals sehen, ist sie schon tot
Dass die Mutter übrigens bei all diesen Anrufen gar nicht zu sehen ist, sondern nur die Angerufenen und ihre Reaktion, ist der klugen Dramaturgie des Films geschuldet: wir sehen die von Julia Koschitz gespielte Sybille Langhoff erst als Tote. Und auch in den wenigen Erinnerungsrückblenden, in denen sie wieder auftaucht, bleibt sie geisterhaft, matt, sie spricht nicht, verharrt in Erstarrung. Bis es ihrem Mann einmal reicht und er auf den Tisch haut. Da zeigt sich die Depression der Frau - diese Starre zu erleben macht andere wütend. Auch das ist tatsächlich so.
Faktencheck: Was der Film richtig macht
"Der letzte schöne Tag" betrachtet nur die kurze Zeitspanne vom Tod bis zu den Tagen kurz nach Beerdigung und Trauerfeier. Unspektakulär erzählt, ohne Verkitschung oder dramaturgische Überzeichnung, unprätentiös, manchmal nur in atmosphärischen Skizzen verdichtet, aber genau reingefühlt in jedes einzelne Mitglied dieser Familie... - das muss man erstmal können. Und der Film macht dabei so vieles richtig. Zum Beispiel das hier:
1.) Wer einen Suizid begehen will, der plant alles sehr genau. Wie uns nicht nur die Anrufe der Ehefrau und Mutter zeigen, sondern auch die E-Mail, die Lars Langhoff einige Stunden nach ihrem Suizid bekommt. Zeitversetzt und mit genau eingestellter Verzögerung versandt, informiert die inzwischen gestorbene Sybille Langhoff ihren Mann darüber, was sie getan hat. Ihr vermeintlich letztes Lebenszeichen ist ihr Todeszeichen.
2.) Wer die Kinder schützen will, macht es ihnen damit noch schwerer. "Du hast mich belogen", sagt ein Mitschüler irgendwann zu dem 7-jährigen Piet. "Deine Mutter war gar nicht krank, die hat sich umgebracht". Alle wissen das. Nur Piet weiß das nicht. Dass er das nicht weiß, ist nicht aus böser Absicht geschehen, sondern aus einer Mischung aus Liebe, gutem Willen und großer Überforderung. Aber geholfen ist ihm damit nicht. Dass Kinder auch sehr harte Wahrheiten rund um den Tod gut vertragen können, ja, dass sie ein Recht darauf haben, ist immer wieder auch Thema in diesem Blog (zum Beispiel hier).
4.) Es gibt große Schuldgefühle. Beide Kinder glauben im Verlauf der Geschichte, dass sie schuld am Tod ihrer Mutter sein könnten. Und der frische Witwer Langhoff fragt sich beim Bier trinken mit seinem Chef, wer seine Frau eigentlich war und ob er sie überhaupt jemals richtig gekannt haben. Und er denkt sich: Ich hätte doch noch etwas tun müssen. Ich hätte etwas tun können. Das ist klassisch für das Leiden der Angehörigen und Freunde. Schuld gehört zum Trauerprozess, aber vor allem gehört sie zur Trauer nach Suizid. Sie erfüllt dann übrigens eine wichtige Funktion, aber das bereits das Thema eines anderen Beitrags auf diesem Blog.
5.) Die Hinterbliebenen wollen auch vom Sterbenden gewürdigt bzw. gesehen werden - wenigstens im Abschiedsbrief. Dass die Mutter ihrer Tochter Maike das verweigert, tut der Jugendlichen besonders weh. "Du und die Kinder, ihr könnt hoffentlich glücklicher leben ohne mich“, schreibt sie. "Die Kinder, nur die Kinder", zischt die 14-jährige Maike verächtlich. Sie wäre gern mit ihrem eigenen Namen angesprochen worden. Sie hätte sich so gerne von ihrer Mutter - auch in deren Abschied - gesehen gefühlt. Und doch stimmt auch das, was ein Polizist dem frischen Witwer lapidar mitgibt: "Seien Sie froh, dass sie einen Abschiedsbrief haben". Den gibt es durchaus nicht immer.
6.) Das neue Bewusstsein für Verletzlichkeit und Verluste. Als der Vater das erste Mal ein Bier trinken geht abends, hat der kleine Piet Angst, dass nun auch der Vater einfach wegbleibt und nie wiederkehrt. Diese neue Verwundbarkeit, die nicht nur kindlich sein muss, die plötzlich ins Leben hineinbrechende Erkenntnis davon, wie endlich wir als Menschen alle sind. Menschen, die eine Trauer- und Verlustsituation erlebt haben, kennen solche und ähnliche Prozesse. Wenn plötzlich die Sirene eines Krankenwagens zu hören ist, zucken sie plötzlich zusammen, auch wenn es ihnen Jahrzehnte zuvor nichts ausgemacht hat, einen Krankenwagen zu hören. Wenn in Romanen oder in Fernsehserien alleine zu dramaturgischen, also zu plakativen Zwecken gestorben wird, legen sie das Buch beiseite oder schalten den Fernseher aus - obwohl sie Jahrzehnte lang viele Bücher und Serien mit Toten darin ausgehalten haben. Wem der tatsächliche Tod ins Leben eingedrungen ist, der mag darin vorerst kein Unterhaltungsmaterial mehr sehen wollen. Und, und, und...
7.) Einerseits Alltägliches und andererseits Chaos, die verrückte Parallelität von allen Trauerfacetten, beherrscht das Alltagsgeschehen: Einerseits geht alles weiter wie gewohnt, Schule, Arbeit, Leben. Andererseits gucken die anderen Leute so merkwürdig, drehen sich aber rasch wieder weg, sobald man sie ansieht. Einerseits geht der Mann wieder arbeiten. Andererseits fährt er in einer emotionalen Überreaktion wieder zum Todesort seiner Frau (übrigens ein Ort, den Menschen in einer Verlustsituation oft aufsuchen). Einerseits findet die Tochter ein wunderschön durchgeführtes Luftballonritual mit zur Mama aufsteigenden Gedanken, Wünschen und Schleifchen dann doch zu "kitschig", oder jedenfalls tut sie so, andererseits aber postet sie in einem sozialen Netzwerk: Meine Mutter hat sich umgebracht (hier ist es noch "Schüler VZ", so eine Art deutschlandweiter junger Facebook-Vorläufer). Und freut sich dann, wie viele neue Freundschaftsanfragen sie dadurch bekommt. Einerseits gibt es das gemeinsame Anschauen der beim Bestatter aufgebahrten Mama - wiederum ohne den kleinen Piet, der auch unbedingt gefragt gehört hätte -, andererseits aber die plötzliche Bestürzung darüber, dass sie mit einem Lippenstift geschminkt ist, den sie nie getragen hat. Einerseits hat vor allem der kleine Piet, aber auch der Witwer, immer mal wieder Halluzinationen der sie nachts heimsuchenden Mama/Ehefrau, die fast wie ein Geist ins Haus zurückzukehren scheint. Bis sich Piet andererseits entscheidet, mit der Gestalt ins tägliche Gespräch zu gehen (Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation tun so etwas), derweil der Vater allerlei quälende Erinnerungen an schmerzhafte Gespräche vorab durchlebt.
Die Kinder gelingen überzeugend
Das alles ist nicht nur ungemein stimmig geschrieben, sondern auch hervorragend gespielt. Vor allem die Jungschauspieler stechen dabei hervor. Immer mal wieder gibt es ganz rührend gewordene Familienszenen. Herrlich, wenn der junge Piet seinem Vater zeigt, wie gut er die Zähne geputzt hat - Lippen hochziehen, Zähne zeigen, blitzt alles? Mit seiner Langhaarfrisur erinnert Schauspieler Nick Julius Schuck frappant an den kleinen Wuschelkopf Tom aus der Kultserie "Ich heirate eine Familie", aber das nur am Rande.
Aber: Ist es auch ein geeigneter Film, der einem so etwas Komplexes wie Trauer nahebringen kann....? Werfen wir einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie:
Ziemlich viel - und dann auch wieder nicht: Was dem Film trotz aller Genauigkeit fehlt, ist der eigentliche Trauerprozess. Denn der beginnt so richtig erst an der Stelle, an der die Geschichte hier aufhört. Das liegt daran, dass "Der letzte schöne Tag" nur die Zeitspanne vom Tod bis in den Tagen nach der Trauerfeier betrachtet. Er wirft ein Schlaglicht auf einen eher kurzen Abschnitt. Aber wer schon einmal einen Menschen verloren hat - zumal durch einen Suizid -, der weiß: Was jetzt noch folgt an Auf und Ab, das kann sehr lange dauern. Jahre, oftmals. Jahrzehnte, manchmal auch. Gehört alles dazu.
- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert?
Durchaus ja, aber nicht für alle. Zwar vermeidet der Film krasse Bilder sowie jegliche Überspitzung. Dennoch dürfte, wer gerade einen Menschen durch Suizid verloren hat, noch zu betroffen und angefasst sein, um das ertragen zu können. Das gilt vor allem für die Szene, in der Lars Langhoff seine tote Frau im Wald findet. Der weitere Verlauf dieser Geschichte zeigt dann wiederum so vieles, was Menschen in vergleichbaren Situationen bekannt vorkommen dürfte, dass es fast wie ein (minimaler) Trost wirken könnte - nach dem Motto: Ach guck mal, bei denen ist es ja genauso wie bei uns... Das kennen wir auch. Vor allem lässt Drehbuchautorin Dorothee Schön ihre Familie Langhoff alles durchleben, was auf Menschen in so einer Situation zukommt, vor allem in den ersten Tagen: Das Organisieren der Trauerfeier und Beerdigung. Das Aufräumen des Kleiderschranks. Die Schuldgefühle. Und mehr.
- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)?
Definitiv: Ja.
- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film?
Ehrlich gesagt: Es ist schwer, das auf eine einzige Szene runterzubrechen. "Der letzte schöne Tag" überzeugt als Gesamtleistung. Für mich als textgetriebenen Menschen ist das Gedicht, das bei der Beerdigung von Sybille zitiert wird (und das am Ende des Films nochmal rezitiert wird): Das Gedicht "Letztes Lied" von Mascha Kaléko kann einen mit seiner rilkenahen Sprachschönheit tief im Inneren anrühren. Eine bereichernde Entdeckung (mehr dazu und den Gedichtstext gibt es hier).
- 5.) Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Films in einem angeregt?
Was sagen uns die Menschen, wenn sie nichts sagen? Können wir ihre Signale richtig wahrnehmen und richtig interpretieren? Was tragen wir selbst in unserem Inneren mit uns herum, ohne es mit anderen zu teilen? Denn was mit das Eindrucksvollste an diesem Film ist: Am Ende stellen wir fest, dass wir Sybille zwar öfters erlebt haben - als eine Art Geistererscheinung, in Rückblenden -, aber wir haben sie nicht einmal sprechend als Figur sehen können. Am Anfang des Films kommt ihre telefonierende Stimme aus dem Off. Wenn sie dann auftaucht, ist sie still. Und doch schreibt sie in ihr Tagebuch: Ich kann nicht mehr.
- Mein Fazit und meine Empfehlung: Realistisch, eindrucksvoll, nachvollziehbar und immer nah dran an den Figuren - ein Familiensystem in seinen ersten Tagen nach einem Suizid. Alles was danach geschähe, wäre eine TV-Serie wert. Aber bitte in dieser oben gelobten Qualität.
--------------- Alle Folgen aus der Serie "Die besten Trauerfilme": ------------
- Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt - zur Folge 1 der Serie
- Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine exakte Studie über das Trauern ist - zur Folge 2 der Serie
- Was uns das oscar-prämierte US-Drama "Manchester By The Sea" alles über Schuld und Familiensysteme in Trauer erzählen kann- zur Folge 3 der Serie
- Der Tod zweier Söhne, ein Familiensystem und seine Geschichte - warum John Irvings "The Door In The Floor" ein Fim übers Erzählen ist - Folge 4
- Der Suizid der Mama und wie eine Familie weiterzumachen versucht, eindrucksvoll, aber zurückhaltend gezeigt in "Der letzte schöne Tag" - Folge 5
- Ein poetischer Film über Japan, alternde deutsche Ehepaare und die ewige Nähe des Todes - Dorris Dörries "Kirschblüten Hanami" ist eine Wucht - Folge 6
- Warum der Spielfilm "Das Zimmer meines Sohnes" unbedingt sehenswert und bemerkenswert realistisch eine Familie in Trauer abbildet - Folge 7 der Serie
- Ein kluger Film darüber, wie Trauer als latente Grundschwingung das Leben junger Menschen beeinflussen kann, "Dieses Sommergefühl", Folge 8 der Serie
- Als Familie nach dem Tod eines Kindes in der Ferne den Neustart wagen - was das mit Geschwistern und Eltern macht, erzählt "In America" - Folge 9 der Serie
- Warum "Blaubeerblau" der perfekte Einsteiger-Film für alle ist, die sich an das Thema Hospiz noch nicht so richtig herangetraut haben - Folge 10 der Serie
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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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Im Trauergeschichten-Podcast zum Hören: "Darf ich das - ist das normal?" - was sich Trauernde so alles fragen und was es darauf für Antworten gibt
Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen
Ebenfalls auf diesem Blog: Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellt und was das für den Trauerprozess bedeuten kann - über die "Aufgaben der Trauer"
Ebenfalls auf diesem Blog: Entrümpeln, Ausmisten und Aufräumen nach dem Tod eines Menschen - was mache ich damit und warum ist das so hart?
Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps
Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke
Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden
Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann
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