Freitag, 26. März 2021

Was genau ist eine "Spirituelle Patientenverfügung" und wie muss diese aussehen? Was wir noch im Leben für unser Sterben alles schon regeln können, außerhalb von medizinischen Fragen - und warum Spiritualität nichts mit Religion, Esoterik oder Mystik zu tun haben muss - Dorothea Mihm hat gute Antworten auf diese Fragen

Osnabrück/Frankfurt - Vor kurzem habe ich mich mit dem Thema der Spirituellen Patientenverfügung beschäftigen dürfen und habe dazu ein Interview in meinem Podcast veröffentlicht. Aber was genau ist das denn eigentlich? Eine spirituelle Patientenverfügung - im Gegensatz zur medizinischen Patientenverfügung oder zur Vorsorgevollmacht -, und was kann man mit ihr alles regelnWenn ich das mit eigenen Beispielen bebildern darf, muss ich ein paar Jahre in meine eigene Vergangenheit zurückgehen. Denn eine der prägendsten Zeiten meines Lebens war mein Zivildienst in einem Osnabrücker Altenheim Ende der 90er Jahre. Was ich dort alles miterleben musste, hat mich nachhaltig beschäftigt.  

Da wurden morgens beispielsweise die wehrlosen Senioren in ein Wohnzimmer hineingerollt und auf Sofas verfrachtet, weil sie dort den ganzen Tag gut beobachtet sitzenbleiben und niemandem Probleme machen sollten. Und den ganzen Tag lief: Der Radiosender NDR 1, der damals noch eine völlig andere Klangfarbe hatte als heute. Ende der 90er lief dort vor allem Volksmusik und deutscher Schlager von Roberto Blanco bis Roland Kaiser - für mich als junger Mitt-20er war das eine musikalische Zumutung sondergleichen, aber vielleicht auch für manchen Bewohner? Gefragt worden, ob das Radio laufen sollte oder nicht, war nämlich keiner. Und selbst wenn diese Musik sicher manchem der Bewohner tatsächlich gefiel, wenn auch nicht allen, war das schlicht übergriffig. Ich habe mir damals schon gedacht: Lieber tot überm Zaun als den ganzen Tag wehrlos etwas ausgesetzt zu sein, was für mich eine musikalische Beschallungsvergewaltigung bedeutet. Was das mit dem Thema Spiritualität zu tun hat? Klare Sache: Alles. 

(Alle Fotos: Thomas Achenbach)

Denn wer beim Stichwort Spiritualität zuerst an eine Religion wie das Christentum oder den Buddhismus denkt, der verkennt den tatsächlichen Kern der Sache: Es geht zunächst einmal ausschließlich um den "Spirit", übersetzt den "Geist", also um alles, was unsere innere Würde und inneren Werte prägt, ob nun religiös konnotiert oder nicht. Man könnte sagen: Es geht um die Seele. Oder: Das Innere. Oder, eben, den Geist, wobei diese Bezeichnung bereits an buddhistische Interpretationen angelehnt ist. Und da kommt nun wieder der Faktor Altenheim ins Spiel: Wer jeden Tag einem Musikprogramm ausgesetzt sein muss, das ihm alle andere als behagt, der hat kein ruhiges Inneres, der sträubt sich innerlich dagegen. Es ließe sich auch so formulieren: Da ist der Geist im Aufruhr. Und nun stelle Dir bitte einmal vor, dies geschähe in Deinem eigenen Sterbeprozess - Du möchtest in Frieden gehen und neben Dir plärrt die Rosenberg: "Er gehööört zu mir, wie mein Naahame an der Tühüürr...", tüdelüdtüdelüd. Mal ehrlich, Leute, so möchte ich nicht sterben.

Würdevoll und in Frieden "sein" können - darum geht's

Und doch ist auch diese Sterberealität eine in Deutschland gerne praktizierte Sterberealität. Als meine Großmutter nach mehreren Schlaganfällen und der raschen Entlassung aus dem Krankenhaus in ein Einzelzimmer eines in Hameln am Berghang gelegenen Pflegeheimes umziehen musste, - wie wir heute wissen, bereits im beginnenden Sterbeprozess -, hielten es die Pflegekräfte dort für eine gute Idee, der alten Dame ein um das Vierfache als üblich lauter gedrehtes TV-Programm als 12-Stunden-Dauerbeschallung anzustellen, ohne jede Pause und vor allem: ungefragt. Woraufhin wir dann zugesehen haben, dass meine Großmutter in ein anderes Pflegeheim umziehen konnte, wo sie, in mehrfacher Hinsicht, würdevoll in Ruhe gelassen wurde. Und auch das ist ein Thema von Spiritualität - von einem inneren Kern, der würdevoll und in Frieden einfach "sein" kann. Im Sterben.


Als Expertin für dieses Thema gilt die Buchautorin Dorothea Mihm aus Frankfurt, die in ihrem Buch "Verbunden bis zuletzt", erschienen im Arkana-Verlag, eine Vorlage für eine spirituelle Patientenverfügung veröffentlicht hat. Wobei Dorothea Mihms klare Empfehlung wäre, dass ein jeder seine eigene Verfügung am besten handschriftlich verfassen sollte. So sagt es die ehemalige Krankenschwester und heutige Fachfrau für palliative-spirituelle Pflege in dem Interview, das sie mir freundlicherweise für meinen neuen Podcast "Trauergeschichten - Menschgeschichten" gegeben hat. Und wie sich in dem Interview zeigt, geben die vorab geschilderten Situationen aus den Altenheimen tatsächlich gute Impulse für das Thema Spirituelle Patientenverfügung. Es geht um die Hilflosigkeit. Und die Abhängigkeit - und der Hörsinn ist übrigens einer der letzten, der seine Arbeit einstellt. Stell Dir also vor, Du liegst da im Sterben und dann läuft Christian Anders im Radio: "Es fährt ein Zu-hug, nach Nirgend-wo, den es noch geee-heestern gar nicht gab...". Würdest Du das mögen? Oder doch lieber "Stairway To Heaven?" Oder gar nichts?

Hilflos als Mensch - in totaler Abhängigkeit 

In einer Situation der totalen Abhängigkeit von anderen zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die ureigene Individualität gewürdigt wird. Hierfür kann ich über eine Patientenverfügung gute Hinweise geben, indem ich mich vorab einmal frage: Wie möchte ich gepflegt werden, wenn ich selbst weder sprechen noch mich bewegen kann, aber trotzdem alles um mich herum mitbekomme? Was würde mir gut tun, was nicht? Möchte ich überhaupt, dass Musik läuft? Wo möchten ich gerne berührt werden? Möchte ich lieber von einem Mann oder von einer Frau behandelt werden oder ist es mir egal? Stichwort Inkontinenz - möchte ich so etwas wie einen Blasendauerkatheter, ja oder nein? Dem einen tut das gut, den anderen stört es sehr. Die Grundfrage ist: Was ist für mich Wesentlich? Erlebe ich mich beispielsweise als ein Mensch, dessen Geschlechtllichkeit eine wesentliche Rolle spielt - in meinem Fall also: Als Mann? Warum solche Fragen so wichtig sind, macht Dorothea Mihm in unserem Interview an einem eindrucksvollen Beispiel deutlich. 


Sie erinnert sich an einen jungen Mann, der aufgrund der Behandlung seines fortschreitenden Hodenkrebses vom Bauchnabel an gelähmt war, der also seine Fäkalien und seinen Urin nicht mehr halten konnte. Als sie ihn - in ihrer damaligen Funktion als Krankenschwester - waschen wollte, blickt der Mann auf seine Windel hinunter und sagt: Wissen Sie ich bin zwar krank, aber ich bin immer noch ein Mann - warum werde ich hier behandelt als wäre ich ein Kind? Entwertet in seinem Bild als Mann, in seiner Männlichkeit, ist dieser Mann einem Leidensprozess ausgesetzt, der auch sein Inneres in Wut und Zorn bringt. Spirituell ausgedrückt: Es ist keine Ruhe im Geist. Weltlich gesagt: Der Mann ist aufgewühlt. Und wie Dorothea Mihm es schildert, gäbe es auch aus medizinischer Sicht Alternativen für die Windel, es gäbe andere Lösungen, die weniger lächerlich wären. "Es geht darum, dass ich mich in einem zu-friedenen Geisteszustand befinde, der so wenig wie möglich gestört wird durch die äußeren Umstände", beschreibt es Mihm in unserem Gespräch. 

Große Wünsche: Natürliche Geburt, natürliches Sterben

Dorothea Mihm vergleicht in unserem Podcast-Gespräch die Wünsche, die Menschen an ihren Sterbeprozess anlegen könnten mit den Wüschen, die werdende Mütter für die Geburt ihres Kindes haben: Die meisten Mütter wollen am liebsten auf natürliche Art und Weise gebären. Nur wenn es wirklich nicht anders gehen sollte, sind sie mit medizinisch notwendigen Einschnitten einverstanden. Genauso wollen viele Menschen ein bewusstes Sterben erfahren in einem Prozess, den sich als möglichst natürlich erleben können. 


Dass eine Patientenverfügung von den behandelnden Ärzten tatsächlich auch beachtet wird, hat Dorothea Mihm durchaus erlebt, allerdings sei es wichtig, das Dokument lebendig und frisch zu halten. Eine Patientenverfügung ist nach ihren Worten umso wirksamer, je mehr die Ärzte sehen könnten, dass sie als lebensbegleitendes Dokument mit dem Patienten mitgewachsen und gereift ist - die Verfügung immer wieder zu aktualisieren, sie immer wieder neu zu prüfen, in regelmäßigen Abständen, und dies dann auch zu dokumentieren durch neue Unterschriften oder Veränderungen, darauf käme es an. Auf die Frage, was ein guter Zeitraum sein kann, sagt Dorothea Mihm: "Alle zwei Jahre!".


Düfte, Gebete, Riten - was darf sein, was nicht?


Aber natürlich gibt es auch religiöse Komponenten, die in einer spirituellen Patientenverfügung eine Rolle spielen können: Möchte ich, dass an meinem Sterbebett ein Gebet gesprochen wird, oder wäre mir das eher unangenehm? Möchte ich, dass gewisse religiöse Riten vollzogen werden, vielleicht, weil sie mir in meinem Leben schon wichtig gewesen sind? Welche Art von geistiger Betreuung möchte ich an meinem Sterbebett erleben - pastoral oder weltlich? Buddhistisch oder christlich? Möchte ich gewisse Düfte wahrnehmen, Weihrauch, beispielsweise, oder etwas Entspannendes wie Melisse? All solche und viele andere Fragen können eine Rolle spielen. Alles steht unter der Überschrift: Was ist für mich wesentlich? 


Das Altenheim, in dem ich dereinst meinen Zivildienst verrichtet habe, ist inzwischen übrigens aufgegeben worden, was in jedem Fall eine gute Entscheidung gewesen ist. Aber Heime dieser Art gibt es zuhauf. Und Pflegende, denen der Kern der Menschen nicht so wichtig ist. Die im Zweifelsfall den ganzen Tag irgendwas auf Dich eindröhnen lassen, ohne sich allzu viele Gedanken zu machen. Und dann liegst Du da, hilflos, wehrlos, ausgeliefert und es läuft: Die Fiesta Mexikana.

Hossa! Hossa! Hossa! 

Die folgenden Bücher von Dorothea Mihm sind im Handel erhältlich: “Mit dem Sterben leben” , „Die sieben Geheimnisse guten Sterbens“, „Anleitung zum guten Sterben“.

Unser Gespräch zum Thema Spirituelle Patientenverfügung gibt es in meinem Podcast "Trauergeschichten - Menschgeschichten" unter diesem Link 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: 27 gute Rituale für eine Trauerfeier - wie sich eine Gedenkfeier so gestalten lässt, das sie den Angehörigen/Trauenden gut tun kann

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Was muss ich machen, wenn ich wegen Trauer krankgeschrieben werden möchte? Geht das überhaupt und wenn ja, wie denn?

Der neue Podcast von Thomas Achenbach: "Trauergeschichten - Menschgeschichten", Gespräche über Leben, Tod und Sterben, jetzt online

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Freitag, 19. März 2021

Die besten Filme über Trauer, Tod und Sterben, Folge 2: Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine sehr exakte Leidensstudie ist und was sie uns über das Trauern erzählt - Serie über "Die besten Trauerfilme", Tipps/Rezensionen

Osnabrück - Wenn sie mit ihrem gestorbenen Papa sprechen will, klettert die achtjährige Simone in den riesigen Baum neben dem Holzhaus ihrer Familie, das in den Hang eines Hügels im australischen Outback hineingebaut ist. Dass der Vater jetzt in diesem Baum wohnt, vielleicht sogar zu diesem Baum verwandelt wurde, ist ihre feste Überzeugung - und bald auch die der anderen Familienmitglieder. Als die Mutter dann ihre eigene Trauer mit einer neuen Liebesaffäre abzumildern versucht, ist es nur logisch, dass der Baum in einem Anfall von Eifersucht das Schlafzimmer zertrümmert. Mit dem 2010 veröffentlichten australisch-französischen Spielfilm "The Tree" möchte ich meine Serie über die besten Trauerfilme gerne fortsetzen - mit einem echten Höhepunkt filmischer Trauerliteratur, hübsch langsam und behutsam erzählt und sehenswert, nicht alleine wegen einer grandiosen Charlotte Gainsbourg und der wunderschönen Landschaftsaufnahmen. 

Was können uns Spielfilme über das Erleben von Trauer erzählen? Können wir etwas über das Leben lernen? Kommen sie der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation nahe? Sind Sie für Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise geeignet, weil sie ihnen Verständnis oder Ermutigung anbieten können? Diese Fragen bilden sozusagen das Grundgerüst für meine Reise durch die Welt der Trauerfilme, die ich für diesen Blog unternehmen möchte. Und da gehört "The Tree" unbedingt dazu - übrigens nicht zu verwechseln mit dem ebenso bildgewaltigen wie ungewöhnlichen Meisterwerk "The Tree Of Life" mit Brad Pitt, der wiederum eine ganz andere Kategorie an Film darstellt. Oder an Kunst. Aber dazu irgendwann an anderer Stelle mehr.



Nein, bei diesem einfach nur "The Tree" betitelten Drama der Regisseurin Julie Bertocceli handelt es sich um die Verfilmung des Romans "Erzähl mir, großer Baum". Und dem Film gelingt ganz spielerisch das kleine Wunder, einen Baum selbst zu einer mächtigen Metapher für Trauer und ihre Eigenarten werden zu lassen, ohne dabei jemals ins Mystische, ins Märchenhafte oder ins Kitschige abzugleiten. Manchmal ist die Bildsprache dieses Film schon fast zu plakativ, aber gerade deswegen gut geeignet, um zu vermitteln: Ja, genauso dürfte sich Trauer anfühlen. Genauso dürfte sie einen immer wieder einholen, umklammern, selten lockerlassen. Sie kann etwas Lebendiges sein, sogar Leben stiftendes - und gleichzeitig etwas Erdrückendes, Abwürgendes, Symbiotisches. So berichten es die Menschen, die einen Verlust erlitten haben. Und so sehen wir es in diesem Film.

Das doppelgesichtige Wesen der Natur


Der Tod grätscht in das Leben der O'Neills, wie er so oft in das Leben hineinplatzt: Ganz plötzlich und unerwartet. Da sackt der Vater einfach am Steuer seines Pickups in sich zusammen und stirbt. Was die junge Tochter hinten auf der Ladefläche erst gar nicht bemerkt. Als das Auto von der Straße auf eine Wiese abbiegt und sie sich mächtig festhalten muss hinten an den Stangen, jauchzt sie vor lauter Vergnügen. Bis das Auto in den mächtigen Feigenbaum prallt, der von da an immer mehr die Hauptrolle übernehmen wird. Wobei seine fast menschengroßen Wurzelarme, die sich überallhin ausbreiten, schon bald Probleme machen. Weil sie beispielsweise in die Hausabflüsse hineingewachsen sind und sich dann Frösche in der Toilettenschüssel breitmachen. Überhaupt spielt die Natur an sich eine wesentliche Rolle im Mittelteil dieses Films. Ihre doppelgesichtige Wesensart, einerseits wunderschön und voller Leben, andererseits auch mal eine Bedrohung für die Menschen, findet sich in vielen Szenen des Films wieder - wennn zum Beispiel plötzlich eine verirrte Fledermaus an der Küchenlampe hängt. Die natürlich, und damit schließt sich der thematische Bogen wieder, zuvor im Baum gehangen hatte. So ist "The Tree" auch eine Meditation über Naturgewalten - Trauer, das ist die Botschaft, ist eine der größen Naturgewalten, die gibt. So wie die Liebe, ihre andere Seite. 


(Alle Fotos und das Filmplakat: Pandora-Film, mit freundlicher Genehmigung)

Nicht alles an diesem Film lässt sich ganz unkritisch hinnehmen. Klar, die junge Morgana Davies als Darstellerin der achtjährigen Simone ist eine schauspielerische Wucht - und eines jeden Papas Traumtochter mit ihrer unverwüstlichen Treue über den Tod hinaus und ihren blonden Haaren und den großen Augen. Wie sie mit ihrem facettenreichen Ausdrucksreichtum sogar eine Charlotte Gainsbourg locker an die Wand spielt, ist bemerkenswert. Und doch bleiben die Kinder in diesem Film allesamt sehr unkindlich gezeichnet. Mit beinahe zen-buddhistischen Lebensweisheiten ausgestattet, ertragen sie viel zu viel, als dass sowas im echten Leben möglich sein könnte. Aber sei's drum. Die wahre Hauptfigur dieses Films bleibt der Baum - und der ist nun wirklich eindrucksvoll. Schon bald wird er zum Symbol für die Trauer an sich. 

Jeder Versuch ihr zu entkommen, macht Trauer stärker


Wenn die Familie beispielsweise nach einer längeren Abwesenheit für die Weihnachtswochen zu ihrem Haus zurückkehrt und feststellen muss, dass sich der Baum mit seinen Auswüchsen des ganzen Bauwerks bemächtigt hat, ist auch das, wie fast alles in diesem Film, eine Metapher: Der Versuch eines Ortswechsels, der Versuch zu entkommen, endet nur damit, dass einen die Trauer noch viel stärker umfangen hält als vorher. Diese Naturgewalt ist zu mächtig dafür - Du kannst ihr nicht entkommen. Dass der Film am Ende dann doch eine vorsichtig optimistische Katharsis wagt, ist in dramaturgischer Hinsicht sicher nötig. Aber auch dieses Finale bleibt von einem echten Happy End entfernt. Wie im echten Leben. Kann der Film also seinen Zuschauern das Gefühl von Trauer nahebringen? Werfen wir einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie: 





- 1.) Was sagt der Film darüber aus, wie Trauer ist - wie sie sich anfühlt? 

Am Anfang eine massive Erschöpfung. Später eine sich immer wieder aufbäumende Verzweiflung. All das und mehr macht der Film erlebbar, ohne dabei zuviel zu erklären, ohne auf die Tränendrüse zu drücken und ohne jemals eine hollywoodesque Gefühlsüberladung über sein Publikum auszukippen. Der Film ist eine sehr exakte Studie über menschliches Leiden. Alles, was wir hier zu sehen bekommen, deckt sich mit dem, was uns Trauernde aus ihrem Leben erzählen.


- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert? 

Durchaus, ja. Weil er dazu einlädt, sich selbst die Erlaubnis zu so vielem zu geben, was zur Trauer dazugehören kann - zum Beispiel dazu, mit den gestorbenen Menschen zu sprechen. Und weil er Alltagssituationen zeigt, die Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise nur allzu bekannt vorkommen. Wenn die Nachbarin von gegenüber zum Ausmisten der Schränke rüberkommt, weil sie das für nötig hält; wenn die Mutter es vor lauter seelischer Erschöpfung ein paar Tage lang nicht mehr aus dem Bett schafft; wenn jeder Versuch eines Neuanfangs mit der umso massiveren Rückkehr der Trauer endet... Das kennen Menschen, die unter einem Verlust leiden. 


- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)? 

Wer einen Menschen verloren hat, der redet mit seinen Toten. Davon haben mir fast alle der Trauernden, die ich bislang begleiten durfte, berichtet. Außerdem ist es den Menschen wichtig, dass sie ihre Toten irgendwo verorten können. Das kann an einem Grab sein oder an einer Stelle, wo etwas gemeinsames Schönes erlebt worden ist. Oder es kann in einem Baum sein. Zu wissen, dass der tote Mensch dort jetzt ist und dass man dort mit ihm in den Kontakt treten kann - das ist allen Menschen wichtig, die unter einem Verlust sehr zu leiden haben. Der Film zeigt das nicht nur sehr detailliert, er dekliniert dieses Bedürfnis auch für jedes einzelne Familienmitglied durch. Auch die Mutter klettert noch in den Baum, um mit ihrem Mann zu sprechen. Und der mittlere Sohn wird den Baum mit Wasser versorgen - obwohl das eigentlich streng verboten ist, mitten in der Dürrephase im australischen Outback.


- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film? 

Gegen Ende des Films wird die achtjährige Simone ihre Matratze in eine Astgabel hineinwuchten und vom Haus in den Baum umziehen. Sie wickelt eine bunte Lampiongirlande um ihr neues Zuhause und schläft und lebt dann zwischen den Ästen. Das weckt zweierlei Gefühle in mir: Eine Art väterlicher Sorge, sie möge nicht herunterstürzen und sich verletzen (was sie nicht tut). Und eine Art Sehnsucht nach einem ebenso naturbelassenen Schutzraum für Leib - und Seele. Vor allem die Seele.


- 5.)  Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Film in einem angeregt? 

Wo könnte ich einen Ort finden - einen inneren oder äußeren -, an dem ich mich den gestorbenen Menschen nahe fühlen kann? Wo, glaube ich, sind diese Menschen jetzt - oder das, was von ihnen übriggeblieben ist? Und: Wenn ich jetzt damit anfange, mit den gestorbenen Menschen Gespräche zu führen, halte ich mich dann für verrückt oder für ganz normal?


- Mein Fazit und meine Empfehlung: "The Tree" entwickelt sich langsam und ist eine durchweg metaphorisch gemeinte Filmerfahrung, seine Bildsprache ist jedoch nicht allzu schwer zu dechiffrieren. Der Film zeigt ebenso präzise wie schonungslos, welche Naturgewalt die Trauer ist und was sie mit uns macht - er ist Film gewordene Trauer. Gut geeignet für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation


--------------- Alle Folgen aus der Serie "Die besten Trauerfilme": ------------

- Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt - zur Folge 1 der Serie

- Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine exakte Studie über das Trauern ist - zur Folge 2 der Serie

- Was uns das oscar-prämierte US-Drama "Manchester By The Sea" alles über Schuld und Familiensysteme in Trauer erzählen kann- zur Folge 3 der Serie

- Der Tod zweier Söhne, ein Familiensystem und seine Geschichte - warum John Irvings "The Door In The Floor" ein Fim übers Erzählen ist - Folge 4

- Der Suizid der Mama und wie eine Familie weiterzumachen versucht, eindrucksvoll, aber zurückhaltend gezeigt in "Der letzte schöne Tag" - Folge 5

- Ein poetischer Film über Japan, alternde deutsche Ehepaare und die ewige Nähe des Todes - Dorris Dörries "Kirschblüten Hanami" ist eine Wucht - Folge 6

- Warum der Spielfilm "Das Zimmer meines Sohnes" unbedingt sehenswert und bemerkenswert realistisch eine Familie in Trauer abbildet - Folge 7 der Serie

- Ein kluger Film darüber, wie Trauer als latente Grundschwingung das Leben junger Menschen beeinflussen kann, "Dieses Sommergefühl"Folge 8 der Serie

- Als Familie nach dem Tod eines Kindes in der Ferne den Neustart wagen - was das mit Geschwistern und Eltern macht, erzählt "In America" - Folge 9 der Serie 

- Warum "Blaubeerblau" der perfekte Einsteiger-Film für alle ist, die sich an das Thema Hospiz noch nicht so richtig herangetraut haben - Folge 10 der Serie

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Im Trauergeschichten-Podcast zum Hören: "Darf ich das - ist das normal?" - was sich Trauernde so alles fragen und was es darauf für Antworten gibt  

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellt und was das für den Trauerprozess bedeuten kann - über die "Aufgaben der Trauer"

Ebenfalls auf diesem Blog: Entrümpeln, Ausmisten und Aufräumen nach dem Tod eines Menschen - was mache ich damit und warum ist das so hart?

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

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Freitag, 12. März 2021

Mein erster Mutmacherbrief an Trauernde: Ein paar Zeilen für Dich, über Deinen Schmerz und die Frage, wie lange er noch so unaushaltbar bleiben wird - und ob das wirklich sein muss, dass der Tod so weh tut - ehrlich: alles normal! (Trauer - wann wird es besser?)


Lieber mir unbekannter Mensch,


(oder vielleicht kennen wir uns auch schon persönlich, dann ist es ja umso besser...): Du hast also einen Dir lieben Menschen verloren und bist vielleicht überwältigt davon, wie weh das tun kann - und dass es Dich so nachhaltig beschäftigt. Und so lange! Viel, viel länger als Du jemals gedacht hättest? Wie lange erlebst Du es schon so, dass Du Deinen Schmerz manchmal ganz unaushaltbar findest? Ein paar Wochen? Ein paar Monate? Oder sind es schon ein paar Jahre? Bei vielen Menschen, mit denen ich gesprochen habe, waren es tatsächlich Jahre. Aber das muss nicht heißen, dass das so sein muss. Für Trauer gilt immer: Es gibt nur Deinen eigenen Weg. Kein anderer kann Deinen Trauerweg gehen und Du musst ihn ganz selbst finden. Das Dumme ist halt, dass es keine Straßenschilder gibt. 

Du fragst Dich vielleicht manchmal, ob dieser Schmerz in Dir drin jemals aufhören wird. Manchmal, in Deinen dunkelsten Augenblicken, fragst Du Dich vielleicht sogar, ob Du Dir etwas Extremes antun musst, um den Schmerz in Dir irgendwie zu besänftigen (meine Idee dazu wäre übrigens, dass Du das nicht tun musst). Auch das haben mir Menschen schon so geschildert. 

Ich kann Dir aus meiner Erfahrung mit Menschen in Trauer- und Verlustsituationen nur eines dazu sagen: Keine Sorge, das ist alles ganz normal. Du bist ganz normal. Was Du erlebst, ist eine total normale Reaktion auf eine Situation, die für Dich eben nicht normal ist. Wer hat schon wirklich Erfahrung mit dem Tod - und mit Trauer? Sogar ich, der ich mich fast jeden Tag mit diesem Thema beschäftige, bin immer mal wieder ratlos angesichts der Macht, die der Tod über uns hat. Ganz egal, wie der Tod in Dein Leben hineingegrätscht ist: Er ist immer brutal und gemein. Das macht uns wütend und zornig und aggressiv. Weil wir dem Tod gegenüber immer ohnmächtig sind. Gegen diese Kraft haben wir nichts entgegensetzen. Das hat nichts damit zu tun, dass wir zu schwach sind. Das hat damit zu tun, dass wir eben Menschen sind.   

Nach allem, was mir die Menschen von ihren eigenen Trauersituationen erzählt haben, kann ich Dir eine gute und eine schlechte Nachricht anbieten. 


Die schlechte Nachricht ist: Der Schmerz wird vielleicht niemals ganz weggehen (aber vielleicht möchtest Du das auch gar nicht - hast Du Dich das schon mal gefragt?). Die gute Nachricht ist: Es kann durchaus sein, dass er sich mit den Jahren verwandeln wird und dass er nicht mehr ganz so quälend sein wird. Das jedenfalls ist es, was mir die Menschen oft berichtet haben. Übrigens waren das vor allem Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Die haben mir alle fast übereinstimmend gesagt: Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an mein gestorbenes Kind denke. Aber die Wunde blutet auch nicht mehr so stark wie schon mal. Manchmal ist die Wunde vernarbt. Manchmal bricht die Narbe auch wieder auf. Aber insgesamt tut es nicht mehr so weh wie am Anfang, auch wenn es (viele) Jahre gedauert hat, bis es soweit gekommen ist. 

Aber wie kann es einem gelingen, den Schmerz zu besänftigen? Geht das überhaupt? Vielleicht haben die Menschen um Dich herum Dir vieles gesagt, was Dich aufmuntern sollte, was Dir aber nicht weitergeholfen hat. So etwas wie: Die Zeit heilt alle Wunden. Oder: Kopf hoch, das wird schon wieder. Oder: Du musst auf die positiven Seiten des Lebens blicken. Oder: Lies doch mal ein gutes Buch, das bringt Dich wieder auf andere Gedanken. Und dann hast Du vielleicht festgestellt, dass Dir zum Lesen immer wieder die Konzentration fehlt, dass schon viel Zeit verstrichen ist und es nicht viel besser geworden ist oder dass der Blick auf die positiven Seiten des Lebens Dich irgendwie noch trauriger gemacht hat. Du möchtest nicht undankbar sein, aber all diese guten Tipps haben Dir nicht wirklich geholfen. Aber was dann, fragst Du Dich vielleicht? Was hilft?


Aus meiner Erfahrung mit Trauergruppen und mit vielen Einzelgesprächen kann ich Dir nur eines sagen: Viele Menschen finden es hilfreich, wenn sie ihre Trauer einfach mitteilen können. Und wenn dies in einem Umfeld geschehen kann, wo diese Gefühle nicht kommentiert oder bewertet werden. Das kann zum Beispiel in einer Trauerbegleitung geschehen, in einer Trauergruppe, bei richtig guten Freunden, die so etwas können, oder auch in kreativer Form. Manche Trauernde haben einen eigenen Blog gestartet, um ihre Gefühle zu äußern - und das hat ihnen manchmal erstaunliche Wege in ein anderes Leben geöffnet.

Aber die vielleicht wichtigste Botschaft die ich Dir noch mitgeben möchte, lieber mir unbekannter Mensch (oder vielleicht kennen wir uns auch schon und Du liest diese Zeilen dennoch, das ist mir genauso lieb): Es darf sich für Dich jetzt so anfühlen, wie es sich anfühlt. Auch wenn Du dieses ganze Chaos manchmal am liebsten auf der Stelle loswerden möchtest. Ich kann Dich nur ermutigen, zu versuchen, es auszuhalten und es vielleicht sogar auszuleben. Genau deswegen habe ich meinen Blog "Trauer ist Leben" genannt: Weil Trauer ausgelebt werden möchte - und weil manche Menschen eine gelebte Trauer als hilfreich erlebt haben.

Ich wünsche Dir, dass Du Deinen Weg findest. Alles Gute dafür. 

Herzliche Grüße, Thomas


Mittwoch, 3. März 2021

Wo versteckt sich eigentlich die Trauer in diesen Zeiten der Pandemie? Hat sich über die Themen Trauer, Tod und Sterben ein gesellschaftlicher Deckmantel ausgebreitet? Zu vieles bleibt in der Coronapandemie unbesprochen und ungefühlt, was die Trauer der Hinterbliebenen angeht

Osnabrück - Einer der Sätze, die ich gerade am meisten höre: "Du müsstest doch im Augenblick ganz viele Anfragen haben - und ganz viel zu tun". Jetzt, mitten in einer weiteren Welle der Pandemie, immer noch im Lockdown, steht oft die Vermutung im Raum, dass Trauerbegleitung ein vielgefragtes Instrument sein müsste, weil doch so viele Menschen auf ebenso brutale wie unsägliche Weise einen anderen Menschen verlieren mussten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Mag es derzeit auch vermehrt zu Trauerfällen kommen, bleiben sie wohl weitestgehend unbesprochen. Vielleicht auch unausgelebt. Das geht nicht nur mir so. Fast scheint es so, als wäre ein Mantel des Schweigens über die Themen Trauer, Tod und Sterben ausgebreitet worden, den wenigstens einmal anzulupfen bereits eine Überschreitung dessen darstellt, was gesellschaftlich angemessen erscheint. Umso wichtiger ist es, noch einmal auf zwei Dinge hinzuweisen. 

Erstens: Jede Trauer darf gelebt werden, jede Trauer hat ihre eigene Berechtigung - das sollte selbstverständlich sein, und doch habe ich manchmal so das Gefühl, dass wir uns genau diese Erlaubnis als Gesellschaft derzeit nicht mehr zugestehen mögen, was, wenn es wirklich so wäre, einen enormen Rückschritt bedeutete. Und zweitens: Trauer darf kein Luxus sein, ein Gefühlsüberfluss, den man sich vielleicht in krisenfernen Wohlstandssituationen leisten darf, sonst aber nicht. Denn alleine aus der Arbeit mit Männern in einer Trauer- und Verlustsituation wissen wir: Wer in einer solchen Lage nur Härte zu zeigen versucht, kann an ebendiesem selbstauferlegten Nicht-hinsehen-wollen auch zerbrechen. "Toxische Männlichkeit" meint genau das. Nur dass Trauer gerade für alle toxisch geworden zu sein scheint, nicht bloß für Männer. Nur wenige Trauerbegleiterkolleginnen und -kollegen berichten davon, dass sie vereinzelte Anfragen nach Trauerberatung oder Trauerbegleitung erhalten, aber in der Summe sind es (deutlich) weniger als vor der Pandemie. Andere berichten davon, dass ihnen die Menschen nach einer Verlusterfahrung so etwas sagen wie: "Es geht doch gerade allen so, da sind wir doch nichts Besonderes". So und ähnlich sind die Aussagen von Menschen, mit denen ich mich jüngstens bei Onlineseminaren und Videokonferenzen austauschen durfte. 

Auch wenn da mehr sein sollte, wird es weniger

Wohlgemerkt: Es wird weniger. Nicht mehr. Auch wenn viele glauben, da müsste doch mehr sein als vorher. Mehr Trauer, mehr Verzweiflung, mehr Ohnmacht. In Anfragen nach Beratung und Begleitung spiegelt sich das nicht. Auch sonst nicht.

(Fotos: Thomas Achenbach) 

Genau deswegen hat es im März 2021 die Aktion "Trauer ist systemrelevant" gegeben, die vom Bundesverband Trauerbegleitung initiiert wurde und bei der Unterzeichner für eine Online-Petition gesucht wurden. Doch dümpelte auch diese Aktion mehr so vor sich hin, anstatt wirklich zu zünden. Als ich diesen Artikel zuerst veröffentlicht hatte, Anfang März 2021, waren nach rund einem Monat Laufzeit um die 3900 Unterzeichner zusammengekommen. Am Ende waren es knapp über 5000 (um genau zu sein: 5014). Rein rechnerisch gesehen sind das bei 83 Millionen Einwohnern in Deutschland 0,006 Prozent der gesamten, also tatsächlich systemrelevanten, Bevölkerung. In Worten: Null komma Null Null Sechs. Was jetzt nicht wirklich als gesellschaftsverändernde Masse bezeichnet werden kann. Ein Ergebnis, das mich schlichtweg ratlos macht. Aber auch das spricht ein deutliches Zeichen: Von Trauer will gerade kaum jemand etwas wissen. Und dabei müsste es doch gerade jetzt sehr viel mehr an Trauer geben als vorher. Stellt sich bloß die Frage:

Kommt die Bugwelle oder bleibt sie verborgen?

Wo versteckt sich diese Trauer? Wo bleibt sie? Warum bleibt sie unbesprochen, ungesagt, vielleicht sogar ungefühlt? War Trauerbegleitung vielleicht doch ein Luxus, der durch die Coronakrise unmöglich geworden ist? Kommt sie eines Tages noch, diese große Bugwelle an aufgestauten Gefühlen, die bislang keinen Raum haben durften, und wenn ja, wann? Oder wird unsere Gesellschaft versuchen, auch die kollektive Trauer der Coronakrise in den Mauschelraum des Bessernichtgesagten zu verstecken, ungefähr so, wie sie es nach den Weltkriegen getan hat? Was, wie wir aus der spannenden Forschung rund um Kriegsenkel und Kriegkskinder wissen, sich in späteren Gesellschaftsseelen rächen kann und rächen wird (in den Kinderseelen, allen voran). Es könnte wichtig sein, diesen Fragen nachzugehen. 

Als dieser Blogbeitrag erschien, hatten wir Anfang März 2021. Genau ein Jahr davor, am 7. März 2020, hatte ich in Wien auf der damals noch existierenden Messe "Seelenfrieden" einen Vortrag zum Thema Männertrauer halten dürfen - als Präsenzveranstaltung mit echtem Publikum vor der Brust. Es war mein vorletzter Vortrag mit echtem Publikum im Saal und nicht bloß mit Einzelpersonen in kleinen Kacheln auf einem Bildschirm. Und es war das letzte Mal, dass ich für einen Vortrag weiter gereist bin als bis in die Innenstadt meines Wohnorts. Es war ein besonderer Tag - von dem ich nicht wusste, dass es ein Abschiedstag sein würde. Dann kam der Lockdown Nr. 1 - und mit ihm kamen die Absagen. Salzburg, Nürnberg, Hamburg, Bremen und zahlreiche andere Städte hätten auf meiner Reiseliste gestanden. Am Ende stand dort gar nichts mehr. Und auch Einzelbegleitungen, Trauergruppen, also das übliche Geschehen war auf Halt. Manches davon, vieles, ist bis heute abgesagt. 

An dieser Stelle ein Schnitt - und die Überleitung zu einer anderen wichtigen Person, die klar erkannt hat, wie dramatisch es um die Situation von Trauernden in Deutschland steht: Unsere "First Lady", Elke Büdenbender

"Alles ist überlagert von der Pandemie"

„Wir können (derzeit) nicht unbelastet trauern (…) Wir können uns nicht einfach in unsere Trauer hineinbegeben. Alles ist überlagert von der Pandemie. Das trifft uns als Gesellschaft insgesamt." Dies sagte die Frau von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), das am 24. Januar erschienen ist und dem diese Sätze entnommen sind. Der Titel des Interviews war: "Wir müssen über das Sterben reden". Und das stimmt, auch das müssen wir. Wir müssen aber auch über die Trauer reden. 

Elke Büdenbender (Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler, mit freundlicher Genehmigung)

Elke Büdenbender hat eine Erklärung dafür parat, warum die Themen Sterben, Tod und Trauer derzeit so ausgeblendet bleiben im allgemein gesellschaftlichen Diskurs. Sie vergleicht unser aktuelles Sterben mit der Situation eines Weltkriegssterbens: "Der Tod als Massenereignis im Krieg ist auch deshalb so grauenhaft, weil er den Menschen die Individualität nimmt." Da ist vielleicht etwas Wahres dran. Und es könnte eine gute Antwort sein auf die oben gestellten Fragen. 

Elke Büdenbender sagte im Interview mit der FAS: "Ich-sein-können im Tod, in der Art und Weise, wie ich Abschied nehmen möchte von der Welt, das hängt zutiefst mit meiner Vorstellung davon zusammen, wer ich als Mensch gewesen bin und sein möchte.“ Und dieses Ich-sein-können, das ist derzeit nicht immer möglich. Nicht im Tod, nicht in der Trauer, nicht in einer ständig vor sich selbst weggesperrten Gesellschaft - es gilt jetzt die Balance zwischen Schutz der Menschen einerseits und der Möglichkeit menschlichen Kontakts mit Mitgefühl andererseits wieder neu auszuhandeln. Damit menschliches Sterben und menschliche Trauer nicht das bleiben, was sie im vergangenen Jahr zunehmend geworden sind: Ein Luxus, den zu leisten sich diese Gesellschaft selbst verboten hat

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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