Freitag, 26. März 2021

Was genau ist eine "Spirituelle Patientenverfügung" und wie muss diese aussehen? Was wir noch im Leben für unser Sterben alles schon regeln können, außerhalb von medizinischen Fragen - und warum Spiritualität nichts mit Religion, Esoterik oder Mystik zu tun haben muss - Dorothea Mihm hat gute Antworten auf diese Fragen

Osnabrück/Frankfurt - Vor kurzem habe ich mich mit dem Thema der Spirituellen Patientenverfügung beschäftigen dürfen und habe dazu ein Interview in meinem Podcast veröffentlicht. Aber was genau ist das denn eigentlich? Eine spirituelle Patientenverfügung - im Gegensatz zur medizinischen Patientenverfügung oder zur Vorsorgevollmacht -, und was kann man mit ihr alles regelnWenn ich das mit eigenen Beispielen bebildern darf, muss ich ein paar Jahre in meine eigene Vergangenheit zurückgehen. Denn eine der prägendsten Zeiten meines Lebens war mein Zivildienst in einem Osnabrücker Altenheim Ende der 90er Jahre. Was ich dort alles miterleben musste, hat mich nachhaltig beschäftigt.  

Da wurden morgens beispielsweise die wehrlosen Senioren in ein Wohnzimmer hineingerollt und auf Sofas verfrachtet, weil sie dort den ganzen Tag gut beobachtet sitzenbleiben und niemandem Probleme machen sollten. Und den ganzen Tag lief: Der Radiosender NDR 1, der damals noch eine völlig andere Klangfarbe hatte als heute. Ende der 90er lief dort vor allem Volksmusik und deutscher Schlager von Roberto Blanco bis Roland Kaiser - für mich als junger Mitt-20er war das eine musikalische Zumutung sondergleichen, aber vielleicht auch für manchen Bewohner? Gefragt worden, ob das Radio laufen sollte oder nicht, war nämlich keiner. Und selbst wenn diese Musik sicher manchem der Bewohner tatsächlich gefiel, wenn auch nicht allen, war das schlicht übergriffig. Ich habe mir damals schon gedacht: Lieber tot überm Zaun als den ganzen Tag wehrlos etwas ausgesetzt zu sein, was für mich eine musikalische Beschallungsvergewaltigung bedeutet. Was das mit dem Thema Spiritualität zu tun hat? Klare Sache: Alles. 

(Alle Fotos: Thomas Achenbach)

Denn wer beim Stichwort Spiritualität zuerst an eine Religion wie das Christentum oder den Buddhismus denkt, der verkennt den tatsächlichen Kern der Sache: Es geht zunächst einmal ausschließlich um den "Spirit", übersetzt den "Geist", also um alles, was unsere innere Würde und inneren Werte prägt, ob nun religiös konnotiert oder nicht. Man könnte sagen: Es geht um die Seele. Oder: Das Innere. Oder, eben, den Geist, wobei diese Bezeichnung bereits an buddhistische Interpretationen angelehnt ist. Und da kommt nun wieder der Faktor Altenheim ins Spiel: Wer jeden Tag einem Musikprogramm ausgesetzt sein muss, das ihm alle andere als behagt, der hat kein ruhiges Inneres, der sträubt sich innerlich dagegen. Es ließe sich auch so formulieren: Da ist der Geist im Aufruhr. Und nun stelle Dir bitte einmal vor, dies geschähe in Deinem eigenen Sterbeprozess - Du möchtest in Frieden gehen und neben Dir plärrt die Rosenberg: "Er gehööört zu mir, wie mein Naahame an der Tühüürr...", tüdelüdtüdelüd. Mal ehrlich, Leute, so möchte ich nicht sterben.

Würdevoll und in Frieden "sein" können - darum geht's

Und doch ist auch diese Sterberealität eine in Deutschland gerne praktizierte Sterberealität. Als meine Großmutter nach mehreren Schlaganfällen und der raschen Entlassung aus dem Krankenhaus in ein Einzelzimmer eines in Hameln am Berghang gelegenen Pflegeheimes umziehen musste, - wie wir heute wissen, bereits im beginnenden Sterbeprozess -, hielten es die Pflegekräfte dort für eine gute Idee, der alten Dame ein um das Vierfache als üblich lauter gedrehtes TV-Programm als 12-Stunden-Dauerbeschallung anzustellen, ohne jede Pause und vor allem: ungefragt. Woraufhin wir dann zugesehen haben, dass meine Großmutter in ein anderes Pflegeheim umziehen konnte, wo sie, in mehrfacher Hinsicht, würdevoll in Ruhe gelassen wurde. Und auch das ist ein Thema von Spiritualität - von einem inneren Kern, der würdevoll und in Frieden einfach "sein" kann. Im Sterben.


Als Expertin für dieses Thema gilt die Buchautorin Dorothea Mihm aus Frankfurt, die in ihrem Buch "Verbunden bis zuletzt", erschienen im Arkana-Verlag, eine Vorlage für eine spirituelle Patientenverfügung veröffentlicht hat. Wobei Dorothea Mihms klare Empfehlung wäre, dass ein jeder seine eigene Verfügung am besten handschriftlich verfassen sollte. So sagt es die ehemalige Krankenschwester und heutige Fachfrau für palliative-spirituelle Pflege in dem Interview, das sie mir freundlicherweise für meinen neuen Podcast "Trauergeschichten - Menschgeschichten" gegeben hat. Und wie sich in dem Interview zeigt, geben die vorab geschilderten Situationen aus den Altenheimen tatsächlich gute Impulse für das Thema Spirituelle Patientenverfügung. Es geht um die Hilflosigkeit. Und die Abhängigkeit - und der Hörsinn ist übrigens einer der letzten, der seine Arbeit einstellt. Stell Dir also vor, Du liegst da im Sterben und dann läuft Christian Anders im Radio: "Es fährt ein Zu-hug, nach Nirgend-wo, den es noch geee-heestern gar nicht gab...". Würdest Du das mögen? Oder doch lieber "Stairway To Heaven?" Oder gar nichts?

Hilflos als Mensch - in totaler Abhängigkeit 

In einer Situation der totalen Abhängigkeit von anderen zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die ureigene Individualität gewürdigt wird. Hierfür kann ich über eine Patientenverfügung gute Hinweise geben, indem ich mich vorab einmal frage: Wie möchte ich gepflegt werden, wenn ich selbst weder sprechen noch mich bewegen kann, aber trotzdem alles um mich herum mitbekomme? Was würde mir gut tun, was nicht? Möchte ich überhaupt, dass Musik läuft? Wo möchten ich gerne berührt werden? Möchte ich lieber von einem Mann oder von einer Frau behandelt werden oder ist es mir egal? Stichwort Inkontinenz - möchte ich so etwas wie einen Blasendauerkatheter, ja oder nein? Dem einen tut das gut, den anderen stört es sehr. Die Grundfrage ist: Was ist für mich Wesentlich? Erlebe ich mich beispielsweise als ein Mensch, dessen Geschlechtllichkeit eine wesentliche Rolle spielt - in meinem Fall also: Als Mann? Warum solche Fragen so wichtig sind, macht Dorothea Mihm in unserem Interview an einem eindrucksvollen Beispiel deutlich. 


Sie erinnert sich an einen jungen Mann, der aufgrund der Behandlung seines fortschreitenden Hodenkrebses vom Bauchnabel an gelähmt war, der also seine Fäkalien und seinen Urin nicht mehr halten konnte. Als sie ihn - in ihrer damaligen Funktion als Krankenschwester - waschen wollte, blickt der Mann auf seine Windel hinunter und sagt: Wissen Sie ich bin zwar krank, aber ich bin immer noch ein Mann - warum werde ich hier behandelt als wäre ich ein Kind? Entwertet in seinem Bild als Mann, in seiner Männlichkeit, ist dieser Mann einem Leidensprozess ausgesetzt, der auch sein Inneres in Wut und Zorn bringt. Spirituell ausgedrückt: Es ist keine Ruhe im Geist. Weltlich gesagt: Der Mann ist aufgewühlt. Und wie Dorothea Mihm es schildert, gäbe es auch aus medizinischer Sicht Alternativen für die Windel, es gäbe andere Lösungen, die weniger lächerlich wären. "Es geht darum, dass ich mich in einem zu-friedenen Geisteszustand befinde, der so wenig wie möglich gestört wird durch die äußeren Umstände", beschreibt es Mihm in unserem Gespräch. 

Große Wünsche: Natürliche Geburt, natürliches Sterben

Dorothea Mihm vergleicht in unserem Podcast-Gespräch die Wünsche, die Menschen an ihren Sterbeprozess anlegen könnten mit den Wüschen, die werdende Mütter für die Geburt ihres Kindes haben: Die meisten Mütter wollen am liebsten auf natürliche Art und Weise gebären. Nur wenn es wirklich nicht anders gehen sollte, sind sie mit medizinisch notwendigen Einschnitten einverstanden. Genauso wollen viele Menschen ein bewusstes Sterben erfahren in einem Prozess, den sich als möglichst natürlich erleben können. 


Dass eine Patientenverfügung von den behandelnden Ärzten tatsächlich auch beachtet wird, hat Dorothea Mihm durchaus erlebt, allerdings sei es wichtig, das Dokument lebendig und frisch zu halten. Eine Patientenverfügung ist nach ihren Worten umso wirksamer, je mehr die Ärzte sehen könnten, dass sie als lebensbegleitendes Dokument mit dem Patienten mitgewachsen und gereift ist - die Verfügung immer wieder zu aktualisieren, sie immer wieder neu zu prüfen, in regelmäßigen Abständen, und dies dann auch zu dokumentieren durch neue Unterschriften oder Veränderungen, darauf käme es an. Auf die Frage, was ein guter Zeitraum sein kann, sagt Dorothea Mihm: "Alle zwei Jahre!".


Düfte, Gebete, Riten - was darf sein, was nicht?


Aber natürlich gibt es auch religiöse Komponenten, die in einer spirituellen Patientenverfügung eine Rolle spielen können: Möchte ich, dass an meinem Sterbebett ein Gebet gesprochen wird, oder wäre mir das eher unangenehm? Möchte ich, dass gewisse religiöse Riten vollzogen werden, vielleicht, weil sie mir in meinem Leben schon wichtig gewesen sind? Welche Art von geistiger Betreuung möchte ich an meinem Sterbebett erleben - pastoral oder weltlich? Buddhistisch oder christlich? Möchte ich gewisse Düfte wahrnehmen, Weihrauch, beispielsweise, oder etwas Entspannendes wie Melisse? All solche und viele andere Fragen können eine Rolle spielen. Alles steht unter der Überschrift: Was ist für mich wesentlich? 


Das Altenheim, in dem ich dereinst meinen Zivildienst verrichtet habe, ist inzwischen übrigens aufgegeben worden, was in jedem Fall eine gute Entscheidung gewesen ist. Aber Heime dieser Art gibt es zuhauf. Und Pflegende, denen der Kern der Menschen nicht so wichtig ist. Die im Zweifelsfall den ganzen Tag irgendwas auf Dich eindröhnen lassen, ohne sich allzu viele Gedanken zu machen. Und dann liegst Du da, hilflos, wehrlos, ausgeliefert und es läuft: Die Fiesta Mexikana.

Hossa! Hossa! Hossa! 

Die folgenden Bücher von Dorothea Mihm sind im Handel erhältlich: “Mit dem Sterben leben” , „Die sieben Geheimnisse guten Sterbens“, „Anleitung zum guten Sterben“.

Unser Gespräch zum Thema Spirituelle Patientenverfügung gibt es in meinem Podcast "Trauergeschichten - Menschgeschichten" unter diesem Link 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Der neue Podcast von Thomas Achenbach: "Trauergeschichten - Menschgeschichten", Gespräche über Leben, Tod und Sterben, jetzt online

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