1.) Den Gegenständen einen neuen Begriff geben: Habseligkeiten. Dieser Tipp stammt aus dem sehr wertvollen Buch "Übungsraum Trauerbegleitung", das Ende 2018 im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht erschienen ist und zu dessen Co-Autorinnen die sehr erfahrene Hospiz- und Trauerfachfrau Monika Müller gehört. Sie empfiehlt in dem Buch, anstelle von "Dingen" oder von "Sachen" besser von "Habseligkeiten" zu sprechen. Alleine schon dieser kleine Wortwechsel macht eine Menge aus. Denn in dem Wort Habseligkeiten schwingen dreierlei Bedeutungen mit: Zum einen steckt darin das "Haben"; also der Besitz, hier jetzt meinend: Der Besitz des Verstorbenen. Darin steckt aber auch die Idee, dass die Gegenstände "selig" sind, also nicht bloß wertlose oder gar tote Dinge, sondern durchaus mit einem Eigenleben darin. Wenn man so will: Einer Lebendigkeit. Wobei Dinge natürlich nicht lebendig sein können. Gemeint ist eher, dass sich diese Lebendigkeit aus der - weiterhin lebendigen - Erinnerung speist, die der Gegenstand mit sich bringt. Und zuletzt steckt in dem Wort auch die Seele, also die Idee, dass jeder Gegenstand eine eigene darin verborgene Seele besitzt. Wenn wir von den Habseligkeiten sprechen, die ein Verstorbener hinterlassen hat, bringen wir diesen Gegenständen mehr Wertschätzung entgegen. Es ist eben nicht bloß Gerümpel, das noch da ist. Es ist Erinnerung, die leben darf und leben kann. Oder wie es der Autor Rainer Moritz in seinem Buch "Mein Vater, die Dinge und der Tod" formuliert: "Je länger ich an meinen toten Vater denke, über dessen Leben ich viel zu wenig weiß, desto mehr sprechen seine Dinge zu mir“.
2.) In jeder Habseligeit das darin liegende Vermächtnis suchen. Das ist ein Prozess, der Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise nicht immer möglich ist, weil er ein bisschen Kraft kosten kann, aber es ist ein wertvoller Prozess - der sogar wieder Kraft geben kann: Es geht darum, sich den Habseligkeiten der Gestorbenen bewusst zuzuwenden. Sie sich Stück für Stück anzusehen, anzufassen und dabei nachzuspüren, welche Erinnerungen wachwerden, welches Vermächtnis in den Habseligkeiten liegt. Das kann - muss aber nicht! - ggf. mit einem ersten Aufräumprozess verbunden sein, weil sich vielleicht zeigt, dass manche der Habseligkeiten stärkere Gefühle wecken als andere, weil vielleicht gar nicht alle der Gegenstände etwas mit sich bringen, sondern nur manche. Es kann hilfreich sein, sich drei Kartons oder drei Kisten hinzustellen für diesen Sortierprozess: Kiste Eins für die unbedingt zu behaltenden, weil mit vielen Erinnerungen verbundenen Habseligkeiten. Kiste Zwei für die Fragezeichenkandidaten, bei denen man sich nicht sofort entscheiden kann, was man damit tun möchte. Und Kiste Drei für: Eine neue Verwendung suchen (dazu später mehr) oder wegwerfen.
3.) Fotografieren, dokumentieren, Erinnerungsbuch anlegen. Wer einen Menschen verloren hat, der hat oft große Angst davor, auch noch seine persönlichen Erinnerungen an den oder die Gestorbenen zu verlieren. So werden die Erinnerungen zu etwas beinahe Heiligem. Deswegen ist der alte und heute noch oft gegebene Rat, man müsse nun "loslassen", leider so gar nicht hilfreich. Gerade hierbei kann eine achtsame und intensive Beschäftigung mit den Habseligkeiten hilfreich sein: Jeden Gegenstand zu fotografieren, zu dokumentieren, vielleicht ein Erinnerungsbuch anzulegen, in dem zu dem dort eingeklebten Foto in Stichworten oder kurzen Sätzen die Erinnerungen festgehalten werden, das kann ein gutes Projekt sein, das einem den gestorbenen Menschen wieder nahebringt, das die Erinnerungen wach hält. Das ist natürlich eine durchaus Zeit kostende Beschäftigung. Aber eine, die sich lohnen kann. Und bei vielen Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise ist es ja so, dass sie ohnehin in ihren Gefühlen und Gedanken sehr, sehr lange um den gestorbenen Menschen kreisen - durchaus ein paar Jahre lang. Da bleibt also, so gesehen: Zeit genug.
4.) Neue Verwendungen suchen. "Vergiss mein nie" - unter diesem Namen betreibt die Trauerbegleiterin Anemone Zeim einen Laden im schönen Hamburger Ortsteil Eimsbüren, der sich explizit an Trauernde richtet. Sie nennt ihn eine "Erinnerungswerkstatt". Was dort geschieht, ist nach meiner Kenntnis in Deutschland so einzigartig: Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise bringen ihre Lieblings-Habseligkeiten dorthin und lassen etwas Kreatives und Neues daraus bauen, das sie in ihren persönlichen Alltag mitnemen können. Das vielleicht einleuchtendste Beispiel ist der Kochlöffel ihrer Oma Lilly, aus dem die junge Trauerbegleiterin einfach ein kleines rundes Stück hat rausfräsen und dieses in einen goldenen Rahmen hat setzen lassen - nun trägt sie es einfach als Kette, also als Schmuckstück, um den Hals und ist somit ganz eng mit ihrer gestorbenen Oma verbunden. Wer, so wie ich, Anemone Zeim schon einmal in Person hat erleben dürfen (in meinem Fall: Auf der Messe Leben und Tod), der ist oft beeindruckt von dem kreativen Potenzial und den vielen Ideen, die in dieser jungen Frau schlummern. Kein Wunder: Studierte Designerin, Erfahrungen in der Werbebranche. Dann das, was vielen Menschen geschieht (das kennen wir): Sinnkrise, der Beruf verliert seine Bedeutung, das Wozu eigentlich wird lebensumfassend. Das Ergebnis dieses Prozesses: Die Erinnerungswerkstatt. Nun wird nicht jeder Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise nach Hamburg fahren können oder das Geld dafür haben, eine Kreativagentur mit dem Umdeuten der Habseligkeiten zu befassen. Aber alleine dieser hinter den Ideen steckende Prozess kann eine gute Inspiration sein: Nimm die Gegenstände und mach etwas Neues daraus, gib ihnen neues Leben und neue Möglichkeiten.
Das geht auch sehr niederschwellig. Anstatt alles wegzuwerfen, lässt sich das eine oder andere vielleicht verschenken oder so weitergeben, dass es eine neue Nutzung erfährt. Das klappt am besten bei Spielzeug von verstorbenen Kindern: Einer der verwaisten Väter aus unserer Trauergruppe ist jedenfalls froh, dass das Mädchenfahrrad seiner gestorbenen Tochter jetzt eine neue Nutzung und Verwendung bei einem Mädchen gefunden hat, dass das gestorbene Kind sogar noch kannte
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