Das könnte daran liegen, dass diesem Film ein Roman von John Irving zugrunde liegt - oder besser gesagt, das erste Viertel eines in Wahrheit viel längeren Romans, nämlich "Witwe für ein Jahr". Und John Irving versteht es wie kaum ein Autor sonst, die tiefste Tragik und die bizarre Heiterkeit des Lebens in seinen Werken so auszubalancieren, dass der Leser wie in einem Rausch durch die meist sehr vielen Seiten seiner meist irrsinnig dicken Bücher hindurchgleitet. Nur ein Autor wie Irving kann das Kunststück schaffen, uns die wahre Hauptperson dieser Geschichte - die trauernde Mutter Marion - als eine sympathische Person zu schildern, mit der wir mitfühlen können. Obwohl das, was sie schließlich tut, ein ins Perverse hineinreichender Akt der Verzweiflung ist. Aber einer, den wir verstehen können, - Trauer macht uns Menschen bedürftig. So bedürftig, dass man einerseits gehalten werden möchte wie als Kind. Aber auch so bedürftig, dass wir allerlei merkwürdiges Verhalten an den Tag legen.
Die Frau leidet still vor sich hin, der Mann trinkt
Ted Cole (Jeff Bridges) ist ein so erfolgreicher Kinderbuchautor und Illustrator, dass er sich ein Haus in den Hamtpons leisten kann, jener wohlhabenden Gegend am Meer nicht unweit von New York. Seine wunderschöne Frau Marion (Kim Basinger) leidet seit dem Verlust der beiden fast erwachsenen Söhne Timothy und Thomas, der einige Jahre zurückliegt, still vor sich hin, während sich Ted andere Frauen in sein Atelier einlädt, um Aktbilder von ihnen zu zeichnen und sie parallel zu verführen. Außerdem trinkt Ted gerne mal - auch schon tagsüber, weswegen er temporär keinen Führerschein mehr hat. Die Ehe der beiden ist gescheitert, die Trauer hat ihr irreparable Schäden zugefügt. Ted scheint bereits darüber hinweg zu sein, Marion hingegen bleibt umso gefangener in ihrem Kummer. Als einen Sommer lang der 17 Jahre alte Eddie O'Haare (Jon Foster) bei der Familie einzieht, nimmt die Geschichte eine Wendung. Offiziell eingestellt, um dem Schriftsteller als Assistent zur Seite zu gehen, soll Eddie in Wahrheit Fahrdienste für Ted erledigen. Aber Eddie sieht dem verstorbenen Sohn Thomas, dem älteren der beiden, zum Verwechseln ähnlich.
In einer Schlüsselszene des Film steht Marion mit Eddie vor einem Foto ihrer beiden Söhne und stellt sich die Frage, ob diese in ihrem Leben wohl schon Sex gehabt haben. Und an Eddie gerichtet fragt sie: "Das ist es doch, was Jungs wollen, oder?". Bedürftig wie sie ist, aufgesogen von ihrer Trauer, beginnt Marion nun mit zweierlei: Einerseits stillt sie als sexuell dürstende Witwe ihre eigene Sehnsucht nach Nähe und Körperlichkeit, andererseits ermöglicht sie im übertragenen Sinne ihren gestorbenen Söhnen die Erfahrung, die sie vermutlich niemals hatten. Also: Sex. Marion schläft mit dem 17-jährigen Eddie. Nicht nur einmal. Sondern: 62 mal, wie wir im ebenso berührenden wie bizarren Finale schließlich erfahren. Am Ende wird sie das alles hinter sich lassen, sogar ihre Tochter, wird alle Bilder von der Wand nehmen und wegfahren. Und wir, die Zuschauer, werden es trotzdem irgendwie verstehen könnnen, wie vieles andere.
Der Film ist vielschichtiger als er zuerst scheint
Es ist das große Verdienst von Kim Basinger als Darstellerin der Marion, dass sie diese Rolle so differenziert auszugestalten versteht - und uns das tatsächliche Erleben von Trauer realistisch nahebringen kann. Aber auch der Rest des Ensembles ist großartig. Dass sich in Jeff Bridges Darstellung des Ted Cole gelegentlich noch Spuren des "Dudes" aus dem "Big Lebowski" finden lassen, liegt an der Übermacht dieser Kultfigur. Besonders berührend ist die junge Elle Fanning, die die vierjährige Ruth spielt und die mit ihren rund fünf Jahren eine enorm überzeugende Schauspielleistung abliefert. Dafür, dass "The Door In The Floor" erst der zweite große Film eines jungen Regisseurs gewesen ist - Tod Williams -, erreicht er einen bemerkenswerten Facettenreichtum. Zwar kommt der im Jahre 2004 veröffentlichte Film nicht ganz ohne hollywoodesque Übertreibungen aus, auch ist der schrullige Klamauk, mit dem die Geschichte kurz vor Schluss einen komödiantischen Schlenker einzuschlagen versucht, eher störend. Und doch ist "The Door In The Floor" vielschichtiger als es zunächst scheint. Zumal der Film eine ebenso unbequeme wie wichtige Frage stellt: Wieviel bizarres Verhalten, wieviel ins Perverse reichende Handeln sind wir bereit, einem in tiefer Trauer verfangenen Menschen zuzugestehen?
"The Door In The Floor" ist dabei auch ein Film über das Geschichtenerzählen an sich - und darüber, wie unsere schlimmsten Erlebnisse wiederum zu Geschichten werden, die wir anderen erzählen. Erst kurz vor Ende des Film erfahren wir die ganze Tragik jenes Unfalls, der die beiden Jungen Timothy und Thomas aus dem Leben gerissen hat. Ted erzählt sie dem im Bett liegenden Eddie, aber Ted erzählt sie wie eine Geschichte ohne ein "Ich", nur mit einem "Ted" darin - er macht sich selbst zur dritten Person. Als sei er gar nicht selbst dabei gewesen. Und dem Zuschauer wird plötzlich klar, dass auch Ted Cole, der Frauenverführer und Aktbildermaler, der Weißweintrinker und Draußenduscher, noch immer viel tiefer im Trauma dieser Ereignisse verhangen ist, als er selbst vielleicht ahnt. Dass dieses schamlose Auskosten des Lebens und alles Lebendigen zu seiner ganz eigenen Strategie gehören könnte, mit dem Ereignis klarzukommen. In Teds Geschichte zeigt sich außerdem John Irvings Hang zu grausamen Verkehrsunfällen mit all ihren schrecklichen Details, ein Element, mit dem der Autor auch andere seiner Romane ausgestattet hat. Muss man haben können, kann auch schwierig sein.
Am Ende ist sie zu sehen: die Tür im Boden
Diese "Door In The Floor", also diese titelgebende Fußbodenklappe, gibt es in diesem Film übrigens gleich zwei Mal. Das erste Mal begegnen wir ihr in einer der Geschichten, die der Kinderbuchautor Ted Cole geschrieben hat. Darin geht es um einen Embryo, der sich die Frage stellt, ob er überhaupt auf die Welt kommen möchte - ob er diese Klappe in die echte Welt, die vaginale Bodenklappe, und nach der Geburt dann auch die in einem Haus befindliche Bodenklappe, tatsächlich öffnen möchte. Schnell wird klar: Die Klappe ist als Symbol zu verstehen, als Übergang in eine andere Welt, eine Welt, die Neues mit sich bringt, deren Gefahren wir aber nicht abschätzen können. Das wird am Schluss des Films noch einmal wichtig werden.
Denn kurz vor dem Abspann sehen wir eine echte "Door In The Floor", also wiederum eine Variation jener titelgebenden Fußbodenklappe. Es ist die Klappe, die zum Dachboden des Hauses führt. Dort oben, wo sich der selbstgebaute Squashcourt befindet, auf dem Ted ganz einsam ein paar Bälle gegen die Wand geschlagen hat. Dann öffnet er die Klappe und taucht hinab. In sein verändertes Leben ohne seinen jungen Assistenten - und ohne seine Frau. Der Film endet mit dem Bild der sich schließenden Klappe. Der Übergang hat stattgefunden. Das Leben geht weiter. Mit all seinen Verlusten... "The Door In The Floor" ist ein berührender Film mit einer erstaunlichen Reife. Aber: Ist es auch ein geeigneter Film, der einem so etwas Komplexes wie Trauer nahebringen kann....? Werfen wir einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie:
Als der junge Eddie sie einmal fragt, wie ihre beiden Söhne denn gestorben sind, verfällt deren Mutter Marion, auf dem Sofa liegend, in eine katatonische Starre. Wie versteinert bleibt sie dort liegen, auch noch lange nach der Frage. Hatten wir diese Frau zuvor als durchaus auch lebensorientiert erlebt, wird erst hier klar, wie tiefgehend das Trauma sie noch umfangen hält. Eine Ohnmacht, die uns zu Boden drückt und uns jede Kraft entzieht - so kann sich Trauer immer wieder zeigen und sich anfühlen. Es gibt noch viele weitere Andeutungen hier und da, aber sie sind oft versteckter als in dieser Schlüsselszene.
- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert?
Tja. Gar keine so einfache Frage. Ich würde sagen: Nur bedingt. Weil er doch eine sehr eigene Geschichte erzählt und auf eine sehr eigene Konstellation aufbaut, die es im echten Leben so sicher nicht oft geben kann. Außerdem ist der Film für echt empfundene Trauer irgendwie "zu schön", er ist wunderschön fotografiert, lässt seine Protagonisten in traumhaft schönen Umgebungen agieren. Dann wiederum ist der geschilderte Unfall am Ende des Films, obwohl zu 80 Prozent nur Erzählung, erschreckend drastisch, das könnte für Menschen, die tatsächlich jemanden unter traumatischen Umständen verloren haben, nur sehr schwer bis gar nicht zu ertragen sein.
- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)?
Nur bedingt. Die Trauer ist hier zwar ein wichtiger Motor, aber niemals das im Vordergrund stehende Thema. Eher im Gegenteil. Die komödiantischen Zusatzelemente sind für das innere Gleichgewicht des Films wohltuend, führen aber vom Thema Trauer weiter weg.
- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film?
Mit der vierjährigen Ruth auf dem Arm klopft Ted Cole abends nochmal an die Tür von Eddies Schlafzimmer. Ruth muss sich unbedingt nochmal ein ganz bestimmtes Foto angucken, auf dem beiden gestorbenen Brüder zu sehen sind und das halt im Schlafzimmer hängt. Erst danach kann sich gut schlafen. Dumm nur, dass Eddie gerade eines der in der Nähe hängenden Fotos von Marion als Vorlage für die eigene Befriedigung seiner Leidenschaft (in Handarbeit) genommen hat und die dort zu sehenden Füße der Jungs mit Papier abgeklebt hat. "Was ist mit den Füßen passiert?", wundert sich Ruth. Und die kleine Elle Fanning spielt das mit einer so himmelherzzerreißenden, weil echten kindlichen Naivität, dass die Szene trotz des hohen Fremdschämfaktors gut ansehbar bleibt - und einfach zu niedlich.
- 5.) Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Film in einem angeregt?
Wenn Du an die bisherigen Krisen Deines Lebens denkst: Wie krass hast Du auf sie reagiert? Hast Du Dich über Dich selbst gewundert? Was hast Du aus diesen Reaktionen gelernt? Und wie krass, glaubst Du, könnte es noch werden, in kommenden Krisen Deines Lebens? Hast Du aus Deinen bisherigen Erfahrungen etwas mitgenommen? Welche Art von Erotik ist für Dich in Deinen Krisen sichtbar geworden? Und - wie erzählst Du anderen die Geschichten Deines Lebens?
- Mein Fazit und meine Empfehlung: Ich mag John Irving, ich verehre Jeff Bridges, ich mag den Film. Ist ganz sicher nicht Jedermanns Sache, außerdem ist er ein bisschen zu schön um wahr zu sein, vor allem, was die Spielorte angeht. Aber er ist gut.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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