Donnerstag, 22. April 2021

Die besten Filme über Trauer, Tod und Sterben, Folge 3: Wuchtiges Drama über Schuld und Familiensysteme - warum "Manchester By The Sea" ein großartiger Film ist, auch wenn er vieles (fast alles) nur andeutet - Serie über "Die besten Trauerfilme", Tipps/Rezensionen

Osnabrück - Am Anfang dieses Films und an seinem Ende fahren Lee Chandler, ein Mann in seinen besten Jahren, und sein junger Neffe Patrick mit dem Boot zum Fischen auf das Meer hinaus. Am Anfang ist noch der Vater des Jungen mit dabei und alles ist voller Leichtigkeit, am Ende ist dieser bereits gestorben und die Unbefangenheit ist längst verschwunden. Was zwischen diesen beiden Einstellungen liegt, ist ein mit Oscars und Filmpreisen überhäuftes Drama über Schuld und Familiensysteme, über Kleinstädte und männliche Trauer, dessen Wucht noch lange nachwirkt. Aber ist es auch ein Film, der uns die Trauer als Phänomen nahebringen kann? Für meine Serie über die besten Trauerfilme habe ich mich auf die Suche gemacht nach Werken, die uns etwas Hilfreiches über Tod, Trauer und Sterben erzählen können. Gehört "Manchester By The Sea" auch dazu?  

Und: Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise geeignet, weil er ihnen Verständnis oder Ermutigung anbieten kann? Es wird über diesen Film oft gesagt, dass er aus dem Kosmos des "Affleck-Damon-Komplexes" käme, sprich: Matt Damon und die Gebrüder Affleck, Ben und Casey, waren die treibenden Kräfte hinter diesem Filmprojekt. Das ist für seine Einordnung nicht ganz unwichtig, denn seitdem Ben Affleck und Matt Damon Ende der 90er mit ihrem Drehbuch des Films "Good Will Hunting" einen Überraschungshit landen konnten, gelten sie als wichtige Ikonen, wenn nicht gar Motoren des Hollwood-Indie-Kinos. Auch wenn sie bei diesem Indie-Streifen nicht als Autoren, dafür aber als Produzenten und Hauptdarsteller aktiv waren. 



Was können uns Spielfilme über das Erleben von Trauer erzählen? Können wir etwas über das Leben lernen? Kommen sie der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation nahe? Diese Fragen bilden sozusagen das Grundgerüst für meine Reise durch die Welt der Trauerfilme. Und "Manchester By The Sea" gehört da unbedingt mit dazu, denn der Film ist unbestreitbar ein Meisterwerk, in vielfacher Hinsicht. Geschrieben und inszeniert vom Ausnahme-Regisseur Kenneth Lonergan, gehört das Werk zu jener Sorte Film, der vieles anders macht als man es von großen Hollywood-Dramen gewöhnt ist. Vor allem, weil er sich auf Andeutungen und Figurenzeichnung verlässt, aber nicht auf ausgespieltes Drama. Und weil er die gängigen Hollywood-Klischees rund um Trauer, Tod und Schuld gut zu vermeiden versteht.

Eingangstor ins Trauma


Casey Affleck spielt den wortkargen Hausmeister Lee Chandler, der in Boston arbeitet, einsam in einem schmutzigen Kellerloch haust und allgemein als zwar kompetenter, aber sehr zurückhaltender Zeitgenosse gilt. Auch abends gibt sich der immer noch junge Mann unnahbar. Flirtversuche prallen an ihm ab. Aber wehe, es starrt ihn beim Trinken an der Bar jemand an, dann bricht sich unvermittelt eine überraschende Aggression Bahn. Als Chandler eines Tages die Nachricht erhält, dass sein Bruder wegen seiner seit Jahren bekannten Herzschwäche erneut als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert worden ist, macht er sich auf den Weg zurück in das Städtchen Manchester By The Sea (das gibt es wirklich). Dort warten zwei Entwicklungen auf ihn: Erstens der Tod seines Bruders. Und zweitens das ihm übertragene Sorgerecht für seinen Neffen Patrick. Denn sein Bruder hatte sich wegen ihrer Alkoholsucht von seiner Frau getrennt und sich als alleinerziehender Vater mit seinem Sohn durchgeschlagen. Für Lee Chandler ist das ein weiteres Eingangstor zu einem Trauma, das schon vor Jahren begonnen hatte und seither immer weiter in ihm seine Spuren hinterlassen hat: 


(Alle Fotos: Universal Pictures/Eclaiplay)

Denn wegen einer fatalen Unachtsamkeit seinerseits brannte einstmals sein Haus ab. Mit seinen Kindern und seiner Ex-Frau darin. Nur sie überlebte die Katastrophe. Und nun soll ausgerechnet er, der all diese Schuld mit sich herumtragen muss, wieder Verantwortung für einen jungen Menschen übernehmen? Zumal für diesen 16-jährigen und schwerspubertierenden Neffen, der nicht bereit zu sein scheint, in all seiner Unbeschwertheit und seinen Lebensträumen auch noch der Trauer um seinen Vater einen Platz einräumen zu wollen? 

Keine einfachen Lösungen und keine Vergebung


"Manchester By The Sea" bietet für all diese Fragen keine einfachen Lösungen an, das ist sein größter Pluspunkt. Anders als in Hollywoodfilmen üblich, gibt es für Lee Chandler außerdem keine Vergebung. Aus dieser Schuld gibt es kein Zurück. Das ist so bitter wie realistisch. Unter seiner Oberfläche verhandelt der Film jedoch weitaus mehr Themen als es zunächst den Anschein macht. Ganz bewusst im Milieu der provinziellen Arbeiterklasse angesiedelt, gehören seine Protagonisten zu der Sorte Amerikaner, die ein unspektakulär normales Familienleben zu leben versuchen (und vermutlich Donald Trump wählen würden?). Auch wenn man sich einst in der Phase der Jugend die Illusionen einer spektakulären Lebenszukunft gegönnt haben mag, ist das Verharren in bekannten Ritualen des Älterwerdens - Heirat, Kinder, Haus - bald das maßgebliche Lebensprinzip. Der Alkohol ist nirgends weit, ebenso wie das Abrutschen in die Sucht

Viele Themen, verdichtet in nur wenigen Andeutungen


Gleichsam versucht sich der Film als Sozialstudie einer Kleinstadt am Meer, in der die Fischerei für ein gutes Einkommen sorgen kann und in der ein Mann, der sich einmal mit Schuld beladen hat, nicht mehr überall willkommen ist. Und so ganz nebenbei stellt "Manchester By The Sea" auch noch die Frage nach männlicher Identität und männlicher Kompensation. Dass sich der Film bei alledem nicht verzettelt, ist ein großes Verdienst seines Regisseurs und Drehbuchautors Kenneth Lonergan, dem es gelingt, all diese Aspekte in kleinste Andeutungen hineinzuverdichten. "Manchester By The Sea" ist auch gerade deswegen ein kompakter Film mit einer starken Tiefenwirkung. Cassey Affleck hat für seine Interpretation der gebrochenen Hauptfigur zu Recht einen Oscar bekommen (einen von insgesamt sechs Oscars für diesen Film): Seine niedergedrückte Zurückhaltung, seine Unfähigkeit zu sozialer Interaktion, diese mürrische Verschlepptheit, die sich in Prügelattacken zeigende versteckte Aggression, das alles zeigt Affleck überzeugend detailgenau.


(Alle Fotos: Universal Pictures/Eclaiplay)

Es braucht indes eine Weile, um sich in dem Film zurechtzufinden. Denn "Manchester By The Sea" wird in drei unterschiedlichen Zeitsträngen erzählt, die teils parallel montiert sind oder sich in Flashbacks zeigen. Immer dann, wenn es besonders unerträglich wird, setzt Regisseur Lonergan ganz auf klassische Musik. Nur sehr kurz hören wir das Prasseln der Flammen und das verzweifelte Schreien der Mutter, die ihre Kinder verbrennen sehen muss, und starren ebenso fassungslos wie der Protagonist auf die brennenden Überreste seines Hauses, dann übernimmt das Adagio in G-Moll von Tomaso Albinoni mit seiner alles durchringenden Melancholie die Tonregie. Wenn dann die gestorbenen Kinder in Plastiksäcken aus der Ruine geholt werden, bleibt das ein von dieser Musik begleitetes Bild - durch sanfte Klänge ummantelt. Bei aller Tragik hat der Film übrigens durchaus auch komische Momente und findet eine gute Balance zwischen dramatischen und heiteren Tönen. Wobei er in seiner Komik auch mal übertreibt - als der junge Patrick das erste Mal seine nicht mehr alkoholsüchtige Mutter wieder besucht und deren Nervosität massiv ausbricht, mündet dies in ein mit loriotesquer Überzeichnung aufgeladenes Panoptikum der Peinlichkeiten. Einer der Schwachpunkte dieses sonst so sehenswerten Films.  

Viele Fragen werden gestreift


Mag die Vielschichtigkeit eine der größten Stärken des Films sein, wird sie ihm für unser Thema zum Verhängnis. Denn eines muss ganz klar gesagt sein: "Manchester By The Sea" ist kein Film alleine nur über Trauer. Hier ist alles dicht ineinandergefügt und kann nur als Komplex betrachtet werden. Es gibt viel zu entdecken, aber es liegt versteckt, wichtige Fragen werden gestreift, aber nicht ausdekliniert. Werfen wir also wie immer einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie: 

- 1.) Was sagt der Film darüber aus, wie Trauer ist - wie sie sich anfühlt? 

„Da ist nichts mehr drinnen", sagt Lee Chandler einmal zu seiner Ex-Frau, als er diese zufällig wiedertrifft - und zeigt auf seine Brust (im Original: "There's nothing there"). Zwar ist es ein Mythos, dass Trauer unweigerlich zu Depressionen führen muss. Aber der Protagonist dieses Films ist ganz offensichtlich in Depressionen verfangen. Das zeigen auch seine Aggressionsausbrüche sehr eindeutig - anders als bei Frauen gilt offene Aggression bei Männern als ein Symptom bei Depressionen (mehr zu diesem Thema findet sich übrigens in meinem Buch "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut"). 

(Alle Fotos: Universal Pictures/Eclaiplay)


- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert? 

Ganz klar: Nein. An seinen entscheidenden Stellen zeigt der Film die Unerbittlichkeit von Verlust und Schuld so eindeutig und doch so skizzenhaft, dass es fast unerträglich ist. Für Menschen, die tatsächlich gerade von Verlusten geprägt sind, könnte das zu schmerzvoll sein, ganz abgesehen davon, dass noch so viele andere Themen eine Rolle spielen. "Manchester By The Sea" ist ein großartiger Film, aber er vermag nicht zu vermitteln oder zu trösten.


(Alle Fotos: Universal Pictures/Eclaiplay)

- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)? 

Nur bedingt, dafür ist er zu komplex. Er deutet vieles an und streift sehr wesentliche Fragen, beispielsweise die oft diskutierte Frage, ob man den Leichnam eines gestorbenen Menschen sehen sollte oder nicht. Was der Film jedoch sehr exakt schildert, ist die Trauer bei Jugendlichen: Fast scheint es, als wäre da gar nichts an Gefühlen, so verfangen sind sie in ihren aktuellen Lebensthemen und in der Hinwendung an die Unbeschwertheit des Jungseins. Nur in wenigen Blitzmomenten bricht sich das Erlebte Bahn. Da ist dann doch etwas. Mehr als gedacht.


(Alle Fotos: Universal Pictures/Eclaiplay)

- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film? 

Als Lee Chandler im Krankenhaus ankommt und erfahren muss, dass sein Bruder gestorben ist, wirkt er äußerlich ganz unbewegt. Ganz im Organisationsmodus bleibend, entscheidet er, wer jetzt angerufen werden sollte und stellt Fragen über das weitere Vorgehen. Und doch ist ein ganz leises, fast unmerkliches Zittern in Stimme und Körper, die erahnen lassen, wie sehr dieser Mann gerade kurz vor einem inneren Zusammenbruch steht und wie er sich zusammenzureißen versucht. Wie überzeugend Casey Affleck das darstellen kann, ist bemerkenswerte Schauspielkunst. 

(Alle Fotos: Universal Pictures/Eclaiplay)

- 5.)  Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Film in einem angeregt? 

Was ist Deine größte Schuld? Was macht diese Schuld mit Dir? Was wäre das Schlimmste, das Dir widerfahren könnte? Und gäbe es vielleicht sogar etwas noch Schlimmeres, das Dir widerfahren könnte? 


(Alle Fotos: Universal Pictures/Eclaiplay)


- Mein Fazit und meine Empfehlung: "Manchester By The Sea" ist ein Film über Stillstand - den Stillstand der Seele und des Lebens. Seine Themen und seine Antworten sind vielschichtig und verweigern sich einer einfachen Auflösung, das macht diesen Film so lebensnah. Eingebettet in eine außergewöhnliche Erzählstruktur, garniert mit wunderschönen Aufnahmen einer skandinavisch anmutuenden Landschaft (immer im Winter), gespielt von brillanten Schauspielern und hervorragend geschrieben, ist der Film in handwerklicher Hinsicht ein Meisterwerk mit Tiefgang, aber eines, das eine gewisse innere Stabilität erfordert. Der Film ist wie das Leben selbst: Ambivalent


--------------- Alle Folgen aus der Serie "Die besten Trauerfilme": ------------

- Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt - zur Folge 1 der Serie

- Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine exakte Studie über das Trauern ist - zur Folge 2 der Serie

- Was uns das oscar-prämierte US-Drama "Manchester By The Sea" alles über Schuld und Familiensysteme in Trauer erzählen kann- zur Folge 3 der Serie

- Der Tod zweier Söhne, ein Familiensystem und seine Geschichte - warum John Irvings "The Door In The Floor" ein Fim übers Erzählen ist - Folge 4

- Der Suizid der Mama und wie eine Familie weiterzumachen versucht, eindrucksvoll, aber zurückhaltend gezeigt in "Der letzte schöne Tag" - Folge 5

- Ein poetischer Film über Japan, alternde deutsche Ehepaare und die ewige Nähe des Todes - Dorris Dörries "Kirschblüten Hanami" ist eine Wucht - Folge 6

- Warum der Spielfilm "Das Zimmer meines Sohnes" unbedingt sehenswert und bemerkenswert realistisch eine Familie in Trauer abbildet - Folge 7 der Serie

- Ein kluger Film darüber, wie Trauer als latente Grundschwingung das Leben junger Menschen beeinflussen kann, "Dieses Sommergefühl"Folge 8 der Serie

- Als Familie nach dem Tod eines Kindes in der Ferne den Neustart wagen - was das mit Geschwistern und Eltern macht, erzählt "In America" - Folge 9 der Serie 

- Warum "Blaubeerblau" der perfekte Einsteiger-Film für alle ist, die sich an das Thema Hospiz noch nicht so richtig herangetraut haben - Folge 10 der Serie

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Im Trauergeschichten-Podcast zum Hören: "Darf ich das - ist das normal?" - was sich Trauernde so alles fragen und was es darauf für Antworten gibt  

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellt und was das für den Trauerprozess bedeuten kann - über die "Aufgaben der Trauer"

Ebenfalls auf diesem Blog: Entrümpeln, Ausmisten und Aufräumen nach dem Tod eines Menschen - was mache ich damit und warum ist das so hart?

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Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

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