Dienstag, 26. Mai 2020

Wie eine Familie den Geburtstag der gestorbenen Tochter jedes Jahr als Lebens- und Abschiedsfest gestaltet - und wie sie auch in Zeiten großer Ohnmacht neue Spielräume zur Gestaltung gefunden hatte - ein Brief, der anderen trauernden Familien Mut machen kann, hatte mich erreicht / Serie: Wie Trauernde ihre Gefühle erleben, Teil 2 von 3

Osnabrück – In den Tagen vor der Coronakrise hatte mich der Brief eines Ehepaares erreicht, in dem dieses von dem Verlust Ihrer Tochter Antonia berichtet. Das Mädchen war im beginnenden Teenageralter über Nacht gestorben, ganz plötzlich, einfach so. An einem Gendefekt, wie man inzwischen vermutet. Was mir das Ehepaar über ihren Tod und den darauf folgenden Prozess berichtet, hat mich innerlich und nachhaltig angerührt und ich habe so vieles darin gefunden, dass anderen Mut machen könnte, so dass ich gerne ein paar Zeilen auf diesem Blog darüber verlieren möchte. 

Natürlich habe ich die Absender vorher gefragt, ob das für Sie so in Ordnung ist. Die Antwort lautete: „Wir würden uns beide sehr freuen, wenn Sie den Brief für Ihre Arbeit „nutzen“ können bzw. wenn wir anderen Trauenden damit etwas Trost oder Hilfe geben können.“ Und weiter heißt es in dem zweiten an mich adressierten Brief: „Antonias Namen können Sie selbstverständlich erwähnen. Solange man über unsere Verstorbenen spricht, sind sie noch bei uns“. Noch so ein Satz, der mich berührt. Aber von Anfang an: 

(Alle Fotos/Symbolfotos: Thomas Achenbach)

Noch kurz vor Ausbruch der Coronakrise hatte ich die Ehre, eine Vortragslesung zum Thema Männertrauer geben zu dürfen, zu der rund 120 Zuhörer gekommen waren. Eine stolze Zahl, doch es kam noch besser: denn was sich im Anschluss an meinen Vortrag alles an Wortbeiträgen und Diskussion ergab, ging sehr tief und war intensiv. Auch die Briefeschreiberin hatte ihren Worten zufolge noch lange mit sich gerungen, ob sie noch etwas erzählen wollte, denn öffentlich zu sprechen fällt ihr nicht leicht. Als sie sich schließlich doch noch dazu entschlossen hatte, war der Abend dann vorbei. Also schrieb sie mir einen Brief. Und wie schon im ersten Teil dieser kleinen Miniserie geschildert: Menschen in Trauer tut es oft sehr gut, wenn sie einfach davon erzählen dürfen. 


Kann gut tun: Das tote Kind zuhause wissen



Also schildert mir das Ehepaar, das übrigens gemeinsam zu dem Vortragsabend gekommen war, wie es unerwartet und ganz überraschend seine jugendliche Tochter Antonia verloren hatte - und was danach geschah. Drei Tage lang, so schildert es mir die Briefeschreiberin, sei der Leichnam zu Hause gewesen, also aufgebahrt und unter professioneller Betreuung. Diese drei Tage seien zwar einerseits sehr schmerzvoll gewesen, aber andererseits auch irgendwie gut. Weil sich alle die Zeit nehmen konnten für einen richtigen Abschied. Wörtlich heißt es in dem Brief: „Es mag sich sonderbar anhören, aber es war irgendwie auch schön“. 


Die Briefeschreiberin erinnert sich an Kinder aus der Nachbarschaft, die zum Abschiednehmen vorbeigekommen waren, und an gute Momente des gemeinsamen Schweigens mit Kondolenzbesuchern. Seither feiert die Familie jedes Jahr Antonias Geburtstag als großes Fest mit vielen Gästen – und als Abschieds- wie auch als Lebensfest. Und am im Winter liegenden Todestag trifft man sich auf dem Friedhof, je nach Kälte auch mal mit Glühwein dabei.


Ein Brief, der anderen Mut machen kann


Beim Lesen dieses Briefes habe ich gemerkt, wie diese Zeilen etwas mit mir gemacht haben und wie in mir der Wunsch wach geworden ist,  dass viele Menschen diesen Brief lesen könnten, um eine Ahnung davon bekommen zu können, was selbst in diesen Momenten – die ja immer Augenblicke eines großen Überfahrenseins und eines Preisgegebenseins an Ohnmächte sind – doch noch alles möglich sein kann. Dass es immer noch Möglichkeiten der Gestaltung gibt und dass es gut ist, diese auch wahrzunehmen. Das ist oft Thema in diesem Blog. Von solchen Erfahrungen haben mir auch andere Trauernde berichtet - und ich habe es seinerzeit beim Tod meiner Mutter selbst so erleben können: 


Trotz aller Tragik können sich in diesen Tagen nach dem Tod auch Augenblicke von einer großen Klarheit ergeben, einer wohltuenden Abgerücktheit von der Welt und eines ganz menschlichen Miteinanders, das seinesgleichen sucht. Vermutlich ist das eine Erfahrung, die sich anderen Menschen nur schwer plausibel beschreiben lässt, wenn sie ein solches Erlebnis noch nicht hatten. Und doch ist es eine, von der manchmal berichtet wird. Ein herzliches Danke an die Eltern von Antonia, dass wir das hier teilen dürfen – und ich wünsche Ihnen von Herzen einen weiteren Trauerweg, der in aller Schwere auch gut sein darf.

Alle Folgen aus der Serie "Wie Trauernde ihre Gefühle erleben":


- Darf ich einen Menschen auf seinen Trauerfall ansprechen - oder mache ich damit alles nur viel schlimmer - zur Folge 1 der Serie, hier klicken

- Wie eine Familie den Geburtstag der gestorbenen Tochter als Abschieds- & Lebensfest gestaltet - und warum das anderen Mut machen kann - zur Folge 2 der Serie, hier klicken

- Warum Trauernde sich schlichtweg zerrissen fühlen müssen - wie das "Duale Prozessmodell" das Erleben von Trauernden abbildet zur Folge 3 der Serie, hier klicken 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum das Sterben in Deutschland seit Januar 2020 nochmal deutlich teurer geworden ist - Die so genannte Leichenschau steht in der Kritik

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Mittwoch, 20. Mai 2020

Darf ich einen Menschen in Trauer auf seinen Trauerfall ansprechen - oder mache ich damit alles noch viel schlimmer? Antworten auf einige der Fragen, die oft gestellt werden (und nach denen hier oft gesucht wird) / Serie: Wie Trauernde ihre Gefühle erleben, Teil 1 von 3

Osnabrück - Es gibt manchmal Fragen, die sich viele Menschen stellen - die sie aber nicht unbedingt öffentlich zu fragen wagen. Zum Beispiel die Frage: Darf ich einen Menschen in Trauer auf seinen Verlust ansprechen - oder mache ich damit alles noch viel schlimmer? Was mich in dieser Vermutung bestärkt, ist die Technik im Hintergrund dieses Blogs, also die Software vom Portal blogger.com. Was ich daran sehr schätze: Sie bewahrt und schützt die Anonymität der Leser, zeigt mir aber trotzdem, wie diese mir unbekannt bleibenden Menschen zu meinem Blog gefunden haben. So habe ich zum Beispiel die Möglichkeit, mir die Suchbegriffe anzeigen zu lassen, die manche Leser zu meinem Blog geführt haben, ohne dass ich dabei irgendetwas Anderes über sie erfahre. Das ist sehr gut so. Und immer wieder tauchen Suchbegriffe auf wie: "Trauernde auf ihren Trauerfall ansprechen?" 

Das zeigt mir, wie groß die Unsicherheiten oft sind - und das ist völlig verständlich. Die Gefahr steht im Raum, dass man etwas Falsches sagen könnte. Etwas falsch machen könnte, immerhin geht es hier um den Umgang mit sensiblen Themen und sensiblen Gefühlen. Da steht die Sorge im Raum, es womöglich noch schlimmer machen könnte als es überhaupt schon ist. Das macht einem Angst, verständlicherweise. Zumal es um ein Thema geht, das uns Menschen grundsätzlich Angst macht: den Tod. Je weniger Erfahrung wir mit diesen Gefühlen und diesem Thema haben, desto verunsicherter sind wir selbst im Umgang mit anderen Menschen, die gerade in so einer Verlustsituation sind. Also entscheiden wir uns oftmals lieber für das vermeintlich Sicherste: Wir sagen mal lieber nichts. Aber damit werden wir den Menschen, die einen Verlust erlitten haben, am wenigsten gerecht.



(Alle Fotos/Symbolfotos: Thomas Achenbach)

Es war die Sternenkindmama Kena Woodnig, die kürzlich zum Muttertag diese zwei Sätze auf Twitter veröffentlichte: "Wir Eltern reden eigentlich ganz gern über unsere Sternenkinder. Vorausgesetzt unser Gegenüber hört uns wirklich aufrichtig zu". Was Kena Woodnig hier zusammenfasst, trifft nicht nur auf Sternenkindeltern zu. Denn die Menschen, die einen Verlust erlitten haben, wollen meist sehr, sehr gerne darüber reden. Wäre dem nicht so, gäbe es z. B. keine Trauergruppen, Trauercafés und keine professionellen Trauerbegleiter wie mich. Aber warum traut sich das keiner?


Was kann ich einem Menschen in Trauer denn sagen?


Hartnäckig hält sich der Irrglaube, dass es besser wäre, diese Menschen nicht auf ihren Verlust anzusprechen, weil sie dann ja noch trauriger werden könnten. Aber das Gegenteil ist der Fall: Es tut vielen Menschen gerade gut, wenn sie ihren Verlust besprechen und ihre eigenen Gefühle ins Wort bringen können. Meistens ist es genau das, was fehlt. 
Bleibt bloß noch die Frage: Was sagen ich diesen Menschen denn? Was hilft wirklich?



Das ist in Wahrheit gar nicht so schwer, wie es scheint: Am besten einfach Fragen stellen. Die erste Frage könnte lauten: Möchtest Du von Deinem Verlust erzählen? Möchtest Du erzählen, wie es Dir gerade geht? Was macht das mit Dir? Wie war der gestorbene Mensch so, was mochtest Du an ihm am liebsten? Möchtest Du mir von dem gestorbenen Menschen etwas erwählen? Oder, im Fall von Sternenkindern: Wie heißt Euer Kind (übrigens, "heißt" ist in dem Zusammenhang immer besser als "hieß"). Solche und andere Fragen sind hilfreich, um ein Gespräch langsam in Gang zu bringen. Meiner Erfahrung nach reicht oft ein erster Impuls dieser Art schon aus, dann findet sich der Rest fast von selbst. Hilfreich ist es außerdem zu wissen, dass die wirklich schlimmen Phasen nach einem Verlust oft erst nach der Beerdigung oder der Trauerfeier eintreten können, oft sogar erst lange nach der Beerdigung. Auch ein Jahr später noch und weitaus länger sind die Menschen innerlich oft noch ganz aufgelöst, können es jedenfalls sein - auch ohne es zu zeigen. Trauer ist immer ein individueller Prozess, das ist die Grundregel Nr. 1 - und sie dauert oft viel, viel länger als wir, die wir keinen Verlust erleiden mussten, uns das vorstellen können, das ist die Grundregel Nr. 2. 


Sich selbst zurückhalten und Fragen stellen



Wichtig ist im Gespräch jedoch, dass man sich selbst zurückhält. Menschen, die gerade einen Verlust erleiden mussten und die daran leiden, haben das Recht darauf, dass ihr persönlicher Verlust jetzt die Hauptrolle spielen darf, auch im Gespräch mit ihnen. Es ist wichtig, diesen Menschen dann möglichst nicht die eigenen Erfahrungen mit Tod und Trauer mitteilen zu wollen oder gut gemeinte Tipps geben zu wollen, mag die Versuchung auch groß sein. 



Was es mit den Menschen in Trauer macht, wenn sie nicht über ihre Verluste sprechen können, zeigt ebenfalls ein Tweet aus dem Bereich Sternenkindmamas: "Viele Betroffene sprechen nicht über ihre Fehlgeburt(en). Deshalb scheint es nicht-Betroffenen oft so, als sei eine Fehlgeburt die schreckliche Ausnahme." Und auch das lässt sich ganz außerhalb des Themas Sternenkinder als generelle Aussage definieren: Eben weil wir diese Themen noch allzu oft in den Bereich von Scham, Tabu und Verschwiegenheit verschoben haben, macht es auf viele Menschen den Eindruck, als sei das alles ganz unnormal, ganz merkwürdig, mehr so etwas für ganz Verschrobene. Ist es aber nicht. Ist alles ganz normal. So normal wie der Tod. 

Und am Ende dieses Tweets heißt es dann: "Wieviele Betroffene kennst Du?"


Alle Folgen aus der Serie "Wie Trauernde ihre Gefühle erleben":


- Darf ich einen Menschen auf seinen Trauerfall ansprechen - oder mache ich damit alles nur viel schlimmer - zur Folge 1 der Serie, hier klicken

- Wie eine Familie den Geburtstag der gestorbenen Tochter als Abschieds- & Lebensfest gestaltet - und warum das anderen Mut machen kann - zur Folge 2 der Serie, hier klicken

- Warum Trauernde sich schlichtweg zerrissen fühlen müssen - wie das "Duale Prozessmodell" das Erleben von Trauernden abbildet zur Folge 3 der Serie, hier klicken 

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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Einmal angenommen, deine Trauer bleibt viele Jahre lang so groß wie sie jetzt ist - und dir gelingt es, drumherum zu wachsen - Wie?  

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: 27 gute Rituale für eine Trauerfeier - wie sich eine Gedenkfeier so gestalten lässt, das sie den Angehörigen/Trauenden gut tun kann

Ebenfalls auf diesem Blog: Ist Trauerbegleitung ein echter Beruf? Kann man von Trauerbegleitung leben? Und wie werde ich überhaupt Trauerbegleiter?  

Ebenfalls auf diesem Blog: Macht es die Hinterbliebenen nicht noch trauriger, wenn wir sie auf ihren Verlust ansprechen? - Impulse bei großer Unsicherheit 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum die Formulierung "Mein Beileid" immer noch das Beste ist, was Du einem Menschen mit einem Verlust sagen kannst

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie lange darf Trauer dauern? Ist es normal, wenn es jahrelang weh tut? Und ab wann wird trauern krankhaft?

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

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Freitag, 8. Mai 2020

Wie die Coronakrise unseren gesellschaftlichen Umgang mit Tod, Trauer und Sterben verändert hat und weiter verändern könnte - Ein Interview aus der Verlagsbeilage "Blick nach vorne" der Neuen Osnabrücker Zeitung vom Freitag, 8. Mai 2020 (hier die ungekürzte Fassung)


Osnabrück - Ich will es ganz ehrlich gestehen: Als mich diese Interviewanfrage erreichte, war das eine wohltuende Abwechslung, über die ich mich sehr gefreut habe. An einem Tag, der mir zwei weitere coronabedingte Absagen von in der nahen Zukunft geplanten Workshops und Vorträgen gebracht hatte, bekam ich eine Mail meines Redakteurskollegen Lothar Hausfelds aus dem Hause NOZ Medien. Die Neue OZ plane eine "Mutmacherbeilage" und ob ich nicht Lust hätte, dafür ein kleines Interview zu geben. Natürlich musste das Original-Interview noch gekürzt und an die in der Beilage zur Verfügung stehende Länge angepasst werden, das gehört dazu. Aber dass ich in Absprache mit der Neuen OZ das ungekürzte Originalinterview hier auf meinem Blog veröffentlichen darf - dafür bin ich sehr dankbar.

Die Beilage ist übrigens in zwei verschiedenen Versionen erschienen - Anfang Mai in der Region Osnabrück unter dem Titel "Blick nach vorne". Und dann am 24. 5. 2020 unter dem Titel "Wir packen das!" in den Emsland-Ausgaben der Tageszeitung für die Regionen Lingen, Meppen und Papenburg. Aber damit jetzt zum Interview von Lothar Hausfeld... 

Neue OZ: Erst einmal vorweg: Wie – und warum – wird man Trauerbegleiter?

Das Warum ist schnell gesagt: Ich war nach vielen Jahren und eigenen Erfahrungen mit Todesfällen – unter anderem der Krebstod meiner Mutter – meine eigene Sprachlosigkeit und die der anderen leid. Ich wollte gerne sprachfähig werden, was die Themen Tod, Trauer und Sterben angeht. Meine Qualifizierung habe ich dann im Haus Ohrbeck absolvieren dürfen. Das hat sich über rund eineinhalb Jahre erstreckt und war ein ungemein wertvoller Prozess. Seither darf ich mich zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des Bundesverbands Trauerbegleitung nennen – ich habe die so genannte Große Basisqualifikation und bin seit einigen Jahren aktiv.

Neue OZ: Wer kann auf Ihre Unterstützung zurückgreifen?

Jeder, der das Bedürfnis hat – ganz egal, wann. Gelegentlich werde ich unmittelbar nach einem Trauerfall angefragt, manchmal erst Monate danach. Manchen reicht ein einzelnes Gespräch oder ein Telefonat als Intervention, andere brauchen ein paar Gespräche mehr. Im Ehrenamt bin ich dazu bei der Trauergruppe für Junge Erwachsene bei Spes Viva aktiv, als einer von zwei Begleitern in der Gruppenleitung. Und ich durfte zwei Bücher schreiben und veröffentlichen.

Neue OZ: Gibt es gewisse Dinge, sozusagen „Standards“, die Sie in jedem Fall einer Trauerbegleitung anwenden, oder ist jeder Trauerfall in Gänze unterschiedlich und individuell zu betrachten?

Tatsächlich ist das immer ein ganz individueller Prozess und bei jedem Menschen anders. Dementsprechend ist auch meine Vorgehensweise immer anders. Zu mir kommen allerdings mehr Männer als Frauen. Und den meisten Männern tut es gut, wenn sie einfach nur reden können. Da arbeite ich so gut wie nie mit Methoden – die kommen bei Frauen dagegen besser an.

Neue OZ: Hat sich Ihre Arbeit als Trauerbegleiter in Zeiten von Corona verändert?

Im Emsland gibt es viel Platz - das gilt auch für die dort erscheinen Zeitungsbeilagen... (Foto: Christiane Adam) 

Ja, massiv. Man kann von Trauerbegleitung leider nicht leben, deswegen mussten diese Aktivitäten in meinem Lebensentwurf immer die Begleitmusik sein. Dafür ist jetzt immer weniger Raum da, nicht bloß organisatorisch, weil meine Frau meinen Raum jetzt braucht für ihr Home Office, sondern auch, weil eine überhaupt nicht ausgelastete Sechsjährige von morgens halb sechs bis abends halb neun durchs ganze Haus wirbelt. Auch das Ehrenamt muss jetzt pausieren. Abends noch Trauergruppen anbieten, das geht derzeit einfach nicht, da ist keine Energie mehr für da. Siehe oben unter „Sechsjährige“ (lacht). Und zwischen März und Mai waren umfangreichere Vortragsreisen geplant, die sind alle ausgefallen. Salzburg, Nürnberg, Oldenburg, Bremen – vielleicht wieder in 2021…

Neue OZ: In vielen Berufen ist es wichtig, dass man nach getaner Arbeit Abstand von dem Erlebten gewinnt. Wie schaffen Sie es, dass Sie in Ihrer Trauerbegleitung die Trauer nicht mit nach Hause nehmen?

Mir hilft enorm, dass ich schon während meiner Qualifizierung eine eigene Haltung entwickeln konnte über all solche und andere Fragen. Wie möchte ich begleiten, was wird mir selbst dabei helfen, wie kann ich anderen ein Halt sein, wie reagiere ich auf Fragen – auch die ganz großen Fragen wie die „Warums“ und solche, all das und mehr. Und natürlich gilt immer der Leitsatz: Wenn es mir selbst zuviel werden sollte, muss ich selbst begleitet sein, um begleiten zu können. Also Supervision und ähnliches.

Neue OZ: Durch die weltweite Corona-Pandemie ist der Tod für viele Menschen deutlich nähergekommen, viele Menschen haben Elternteile, den Partner, Freunde oder Arbeitskollegen verloren. Haben Sie das Gefühl, dass die Corona-Pandemie die Menschen in irgendeiner Weise hinsichtlich des Todes verändert? Haben sie sich vielleicht sogar mehr mit dem Tod beschäftigt?



Darin sehe ich tatsächlich bei aller Tragik auch eine der großen Chancen dieser Krise. Klar, wer seine Angehörigen verloren hat, der steckt jetzt in einem eigenen Trauerprozess, der wieder individuell betrachtet werden müsste. Aber die Frage, was dieses so plötzliche und so viele Sterben mit uns als Gesellschaft macht, darf glaube ich nicht unterschätzt werden. Ich glaube ganz grundsätzlich, dass diese Erinnerung daran, wie zerbrechlich und sterblich wir Menschen doch sind, viel Gutes mit sich bringen kann. Meine Trauerbegleiterkollegin Iris Willecke aus dem Sauerland hat vergangenes Jahr erstmals den „Memento Mori“-Tag für Deutschland eingeführt, einen Tag, an dem wir uns einmal im Jahr ganz bewusst mit unserer Sterblichkeit auseinandersetzen sollten. Fand ich großartig. Ich glaube aber, dieses Jahr brauchen wir den nicht. Wir haben gerade jeden Tag Memento Mori. Solange wir nicht italienische Verhältnisse bekommen, liegen darin auch Chancen für uns.

Neue OZ: Welche denn? Und was würde sich verändern, wenn sich die Krise doch noch verschärfen sollte?

Wenn wir uns unserer Endlichkeit bewusst werden – und vor allem der Tatsache, wie schnell wir aus dem Leben gerissen werden können, übrigens auch ganz ohne das Coronavirus – kann das dazu führen, dass wir bewusster leben. Wir nehmen dann nicht mehr so vieles als selbstverständlich hin. Ist es übrigens auch nicht, es ist in Wahrheit überhaupt nichts selbstverständlich, nicht einmal, dass wir atmen. Das könnte ein Weg sein zu mehr Dankbarkeit und Demut. Und ein Weg raus aus all diesen Wenn-dann-Schleifen.  Also sowas wie: Wenn ich erstmal im Ruhestand bin, dann… Wenn der Impfstoff gegen Covid-19 erstmal gefunden ist, dann… Stattdessen mehr im Jetzt sein können, das kann gut tun. Wenn diese Krise allerdings ins gesamtgesellschaftliche Trauma kippt, wie in Italien geschehen, dann drohen uns auch seelisch gesehen als Gesellschaft wieder Verhältnisse wie nach den Weltkriegen. Das wäre tragisch. Wo wir ja gerade erst begriffen haben: Was eine Gesellschaft an Traumata nicht aufarbeitet, verschiebt sich bis in die Enkelgenerationen.

Neue OZ: In der derzeitigen Situation kommt noch hinzu, dass Beerdigungen nur im engsten Familienkreis stattfinden können, was insbesondere auf dem Land, dort, wo eine Beerdigung ein wichtiges soziales und gesellschaftliches Ereignis ist, den Umgang mit dem Tod noch erschwert. Gab es für Sie zu diesem Thema schon einmal Handlungsbedarf?

Nur theoretisch, weil ich einen Artikel darüber für meinen Blog recherchiert und geschrieben habe. Was mir ehrlich gesagt noch viel mehr Kummer macht als die Beerdigungen, sind die radikalen Veränderung im Kontext des Sterbens. Wenn heute immer mehr Menschen dazu gezwungen sind, ganz einsam und ohne jeden Kontakt zu ihren Angehörigen, Sterbebegleitern oder irgendeinem anderen Menschen sterben zu müssen, ohne eine Hand, die hält, dann ist das eine Katastrophe und eine radikaler Abbruch all der Fortschritte, die Hospiz- und Palliativkultur in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut haben. Und auch für die Angehörigen ist das brutal – nicht da sein zu können, obwohl es ginge. Das wird uns in der Zukunft noch stark beschäftigen, vor allem im Kontext von Therapie und Begleitung.

Neue OZ: Lässt sich dennoch aus Ihrer Erfahrung und Ihrer Arbeit etwas schöpfen, das anderen in der Coronakrise Mut machen könnte?

Die Brücke zwischen Trauer und der Corona-Pandemie ist die Ohnmacht. In beiden Situationen müssen wir uns als Menschen eingestehen, dass wir machtlos sind und einfach nichts tun können. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir noch nicht einmal, ob es jemals wirklich einen Impfstoff geben kann. Sich als Mensch an diesen Punkt zu begeben und sich diese Ohnmacht zuzugestehen, das ist hart, aber darum geht es jetzt. Zu gucken: Wie können wir das aushalten? Wie kann das gehen? Was hilft? Und ich bin überzeugt, dass den Menschen genau das helfen könnte, was ihnen auch in der Trauerbegleitung hilft: Wenn sie ihre Ängste und Sorgen, ihre Verzweiflung und Mutlosigkeit und ihre Erschöpfung ins Wort bringen, wenn sie sie irgendwo besprechen und sie irgendwo lassen können. Nichts anderes tun wir in der Begleitung. 

Neue OZ: Mal Hand aufs Herz – schaffen Sie es selbst, in der Krise gelassen zu bleiben?


(Foto Christof Haverkamp, Osnabrück)

Das schaffe ich durchaus nicht immer. Aber ich finde, das ist auch okay so. Das darf jetzt so sein, das ist einer der Sätze, die ich in einer Begleitung oft benutze. Wir dürfen jetzt Angst haben, Zukunftssorgen, dürfen auch mal schlechte Laune haben, dürfen auch mal pessimistisch sein. Ich glaube, es wäre noch kontraproduktiver, sich das nicht zuzugestehen. Und was ich ganz wichtig finde: Wir dürfen jetzt auch ganz egoistisch sein und gucken, wie kann ich mich selbst als Erstes stabilisieren, um dann wieder besser für meine Familie oder andere um mich herum da sein zu können, auch und gerade in diesem sehr dichten Aufeinanderhocken in Zeiten von Quarantänen und Ausgangssperren. Da können kleine Details schon eine Menge ausmachen. Ich habe von einer Familie gehört, die das mit Noise-Reduction-Kopfhörern probiert hat. Wer den Kopfhörer auf hat, ist in seiner eigenen Zone und alle wissen dann: Jetzt nicht ansprechen. Sowas hilft schon. Und vielleicht ist es ja schon am nächsten Tag wieder besser. In meinem Fall ist es das eigentlich immer, wenn ich mal im Loch gesteckt habe. Was durchaus vorgekommen ist in den vergangenen Wochen. 

Neue OZ: Wenn die Corona-Krise überstanden ist – worauf freuen Sie sich dann am meisten, was vermissen Sie gerade ganz besonders?

Ich hoffe, ich kann einen Teil meiner ausgefallenen Vorträge nachholen, das vermisse ich wirklich sehr - vor allem der gemeinsame Austausch und die Diskussion am Ende eines Vortrags, das ist digital nicht ersetzbar. Ganz persönlich vermisse ich vor alllem Kulturerlebnisse. Theater, allen voran. Aber auch Rockkonzerte. Wenn ich irgendwann mal wieder eine Pink-Floyd-Coverband erleben und aus vollem Hals und so schief wie sonstwas „Wish You Were Here“ mitgröhlen darf – dann ist meine Welt wieder in Ordnung!

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Thomas Achenbach bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de


Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 


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Im Trauer-ist-Leben-Podcast zu finden: Warum eine bayerische Behörde mit einer bislang einmaligen Initiative zum Vorreiter in Sachen Trauerkultur wird - ein Interview

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 


Ebenfalls auf diesem Blog: Warum das Sterben in Deutschland seit Januar 2020 nochmal deutlich teurer geworden ist - Die so genannte Leichenschau steht in der Kritik


Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Sonntag, 3. Mai 2020

Quo Vadis Trauerbegleitung in Zeiten des Coronavirus...? Warum Trauerbegleitung aktuell nicht dort stattfindet, wo sie besonders dringend gebraucht würde und was sich alles ändern müsste, damit das geschieht - Gedanken zur Zukunft der Trauerbegleitung (und zu meiner) - und wie die Politik uns junge Familien eiskalt im Stich gelassen hat

Osnabrück - "Können wir uns so einen Luxus wie einen guten Umgang mit Trauer - und so etwas wie Trauerbegleitung - als Gesellschaft nicht auch deswegen erlauben, weil es uns gerade so gut geht und weil wir gerade eben nicht von traumatischen Großereignissen wie Weltkriegen betroffen sind?" Es ist jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, keine zwei Monate her, dass mir - sinngemäß - diese ebenso wichtige wie kluge Frage am Rande meines Vortrags über Männer und Trauer auf der Wiener Messe "Seelenfrieden" gestellt worden ist (und es war übrigens Claudia Fricke vom frisch gegründeten Trauerportal bohana.de, die sie mir gestellt hatte). Das war Anfang März 2020 und das Coronavirus klopfte da bereits zaghaft an die Tür. Aus zaghaft wurde brutal, aus dem Klopfen ein Einmarsch, alles wurde und ist weiterhin geschlossen und die ganze Welt war plötzlich auf den Kopf gestellt. Jetzt ist alles anders - und langsam drängt sich die Frage auf: Wie verändert die Coronakrise unseren Umgang mit Trauer? Und wie verändert die Krise die Trauerbegleitung in Deutschland? Welche Schwachstellen macht sie sichtbar, was muss geschehen?

Was die Trauerbegleitung in Deutschland angeht - und allgemein den Umgang mit den Themen Tod, Trauer und Sterben -, hatten wir es mit einer wertvollen, gut gepflegten und mit zahlreichen hervorragenden Angeboten gefüllten Landschaft zu tun. Bis das Coronavirus kam und auch hinsichtlich der Trauerbegleitung alles auf den Kopf stellte. Und jetzt? Temporär geschlossene Einrichtungen wie beispielsweise das Trauerland in Belm. Kurzarbeit bei manchen Hospizdiensten. Wegbrechende Spenden. Auf ein neues Treffen wartende Trauergruppen. Und viele Unklarheiten bei der Frage, wie es weitergehen könnte. Und wann. Und ob.



Auch aus Trümmern lässt sich etwas Neues bauen -  heißt es. Doch was genau liegt eigentlich in Trümmern? Und was bauen wir jetzt daraus? (Fotos: Thomas Achenbach)


Das wäre ja alles noch zu verkraften, wenn nicht vielerorts rundherum das Leiden der Menschen wüchse. Verluste allerorten. Alleine schon der Verlust von Autonomie und Freiheit durch Quarantänen und Ausgangssperren, aber natürlich auch der von Menschen. Der Verlust der alten Welt und ihrer Normalität. Der Verlust von sozialen Kontakten und der Interaktion von Mensch zu Mensch. Der Verlust von Sicherheiten, weil Kurzarbeit, Entlassungen und finanzielle Einbußen drohen. Ohnmacht und Eingesperrtsein. Hoffnungslosigkeit und existenzielle Fragen. Vermutlich mehr Suizide als vorher. Wo wir auch hinsehen: Wir treffen auf Fragen und Themen, die im Kontext von Trauerbegleitung oft schon zur Sprache gekommen sind. Nicht, dass wir "uns damit auskennen", nicht dass wir "die Antworten darauf" hätten. Aber wir hätten eine Idee davon, wie sich darüber reden ließe. Was in Gesprächen hilfreich sein könnte. Jedenfalls haben wir etwas Vergleichbares schon mal getan. Und trotzdem sind viele, wenn auch nicht alle, Begleitungen derzeit erstmal gestoppt, finden Gruppentreffen nicht statt, ist manches von den Angeboten, die es einmal gab, auf Pause. In Erwartung eines Neustarts, falls es sowas mal geben sollte. 


Was macht die Krise mit den Begleitern?


Parallel stellt sich die Frage: Was macht diese Krise eigentlich mit uns als Menschen, die wir Begleitung anbieten wollen? Welche Spuren hinterlässt sie auf unseren Seelen? Die Wichtigkeit dieser Frage darf nicht unterschätzt werden: Nur wer selbst standfest genug ist, kann anderen soviel Stand anbieten, dass sie sich anlehnen können. Wer selbst ins Wanken gerät, der sollte sich zuerst einmal selbst stabilisieren, das ist die wichtigste Grundlehre, die in der Qualifizierung zum Trauerbegleiter, Notfallseelsorger oder Sterbebegleiter immer wieder betont wird. Und doch gibt es einige wenige Wackere, die jetzt in diesen Zeiten als Trauerbegleiter aktiv sind (und es sein können). Sie suchen sich bewundernswerte Wege, um gute Alternativen zu finden. Sie bieten Telefonkontakte, digitale Kanäle, Chatrooms, Videokonferenzen, sie zeigen ein bemerkenswertes Engagement und viel Erfindungsreichtum in schwierigen Zeiten. Dafür verdienen sie Respekt und Anerkennung.  


Keine Ressourcen mehr - über Nacht alleine gelassen


Andere, so wie ich, würden jetzt gerne weiterhin helfen, aber können einfach nicht mehr. Als junge Familie mit zwei berufstätigen Eltern und einem mit viel zuviel Energie ausgestatteten Kindergartenkind gehören wir zu den Verlierern dieser Krise. Die Erwachsenen ins Home Office einkaserniert, das nicht mehr kita-betreute Kind seit zwei Monaten zuhause, jeden Tag unausgelasteter, eine Big-Brother-Versuchsanordnung ungewissen Ausgangs - mit kritischer Energiemasse. Anstrengend von der ersten Sekunde an. Jahrzehntelang war die Vereinbarkeit von Familie und Beruf DAS wichtigste Schlagwort sozialer Politik. Es war das Versprechen, auf dem wir unser Leben aufgebaut haben. Dann wurde es von einer Nacht auf die andere lapidar vom Tisch gewischt. Kitas zu und Basta. Einen Monat, zwei Monate. Und dann noch länger. Eltern, seht zu, wo ihr bleibt. Das ist eine der bittersten Lehren aus dieser Coronakrise: Dass die Politik uns Familien nicht bloß eiskalt im Regen stehenlässt, wenn es einmal wirklich drauf ankäme, sondern sich dazu noch über uns lustig macht ("Micky-Maus-Politik", "Pipi-Kacka-Fragen", die Links finden sich am Ende des Artikels). Es wird wirklich allerhöchste Zeit, unsere Parlamente massiv zu verjüngen, und die Leopoldina aus Halle gleich mit dazu - viel zu viele alte weiße Säcke Männer und ebenso kinder- wie in Familienfragen ahnungslose Führungsfrauen. Bemerkenswert, dass gerade jetzt unsere Ex-Familienministerin Kristina Schröder mit klugen und kritischen Beobachtungen aus der Versenkung emportaucht.




Kurz vor dem Coronavirus hatte ich gerade mein ganzes Leben neu sortiert und alles darin in eine gute Balance gebracht: Einen Hauptberuf zum Geldverdienen in Teilzeit, ansonsten Freiräume für Trauerbegleiter-Tätigkeiten, mit denen sich nun einmal kaum Geld verdienen lässt, dazu Vorträge und Workshops als Nebenjob, um die Kasse aufzufüllen und den Buchverkauf anzukurbeln, plus Zeit für Kinderbetreuung, alles im Einklang. Vorbei. 


Und in der Nachtschicht einen Podcast einsprechen


Jetzt entzieht die seit fast acht Wochen weder ausgelastete noch ausgetobte Sechsjährige - die von morgens 5.30 Uhr bis abends 20.30 Uhr wie ein Wirbelwind durchs Haus fegt - mir vieles von den Kraftressourcen, die grad noch so da sind. Der Rest geht drauf für Kochen, Einkaufen, Home Office und so. Nebenher noch zwei Sonderpodcasts für die "Leben und Tod" einsprechen, das ist dann ein Programm für die heimische Nachtschicht.


Menschen ab 60: Vulnerabel / Menschen ab 40: Einkommensgefährdet


Ich bin sicher nicht der einzige, der wegen der Coronakrise sein Ehrenamt vorübergehend auf Eis gelegt hat. Aber ich frage mich, ob es wohl beim Vorübergehend bleiben kann? Denn aktuell könnte ich keine Prognose darüber abgeben, wie mein Alltag und mein Leben in wenigen Monaten aussehen werden. Ob mich die wirtschaftliche Gesamtentwicklung nicht doch noch dazu zwingt, im nächtlichen 450-Euro-Nebenjob Toilettenpapier in Supermarktregale zu sortieren. Wir werden sehen. Dabei gehöre ich mit meinen knapp 45 Jahren noch zu den Jüngeren im Segment der Trauer- und Sterbebegleitung in Deutschland. Ich habe in den vergangenen zwei Jahren eine ganze Reihe an Workshops im Kontext von Hospiz- und Palliativ- und Trauerinitiativen gegeben und würde die vorsichtige These wagen: Das Durchschnittsalter bei diesen Kursen lag bei 55 Jahren. Mit einer klaren Tendenz zum eher älteren Publikum. Da hat man es dann ganz klar vor Augen, dass Sterbe- und Trauerbegleitung tatsächlich Luxus in unserer Gesellschaft waren (bzw. sind?). Meistens handelt es sich dabei um ein Ehrenamt. Das muss man sich erstmal leisten können. Finanziell. Und zeitlich. Und von den Kraftressourcen her. Dann kommt noch hinzu, dass Menschen ab 60 Jahren als besonders vulnerabel gelten, was das Coronavirus angeht. Derweil ich diese Zeilen schreibe, ist der direkte Kontakte von Mensch zu Mensch sowieso noch nicht wieder erlaubt. Womit wir bei der nächsten Frage sind:





Wie lässt sich die Transformation zur digitalen Trauerbegleitung gestalten? Die meiner Meinung nach jetzt dringend nötig ist und hier und da ja auch bereits geschieht, in Form von Videochat-Trauergruppen beispielsweise. Ich finde das einerseits großartig und andererseits ein bisschen vorschnell. Denn was mir persönlich noch fehlt, sind neben Kenntnis- und Erfahrungswerten auch die nötigen W-Lan-Upload-Kapazitäten. Aber die größten Fragezeichen habe ich beim Thema Datenschutz. Zum Beispiel bei Facetime oder WhatsApp-Video: Natürlich stimmen wir auch einer durch Fremde erfolgenden Auswertung all unserer Videochats zu, wenn wir aktiv unser "Ja" bei den AGBs dieser Portale anklicken. Darum geht es doch nur bei diesen Portalen: Um Daten. Und wenn schon bei Alexa aktiv von Fremden zugehört wird, um das Gehörte auszuwerten, wie sich immer wieder gezeigt hat, dann wird auch bei Videoportalen aktiv zugeguckt. Logisch. Aber wie verträglich ist das mit einer Trauerbegleitung, bei der es ans ganz Persönliche geht? Einfach einen Videochat auf wackliger Datenbasis zu organisieren, wäre mir selbst aktuell noch zu heikel. Ich bräuchte mehr Expertise. Aber woher nehmen?


Trauerbegleitung mit Gesichtsmasken auf?


Was wären die Alternativen? Eine Trauerbegleitung mit Gesichtsmaske anbieten, geht das überhaupt? Wollen wir das? Braucht es nicht gerade die Mimik, wenn es um unsere tiefsten Gefühle und Zustände geht? Reichen einem die Augen für so ein Gespräch? Was würde ein Carl Rogers mit seiner Spiegel-Gesprächs-Technik dazu sagen (mehr Infos dazu siehe hier)? Nein, dann doch besser Trauerbegleitung in Form eines Telefonats, da ist dann wenigstens die Maske ab und das Gesagte lässt sich auch gut verstehen. Auch das könnte eine der Lehren sein, die wir langfristig aus dieser Krise ziehen: In der Qualifizierung zum Trauerbegleiter müsste das Gespräch aus der Ferne eine zusätzliche Rolle spielen zum Vier-Augen-Gespräch. 





Es gibt vieles, das mich im Zusammenhang mit der Coronakrise und der Zukunft der Trauerbegleitung in Deutschland beschäftigt. Hier ein paar Gedanken, Thesen und Ideen dazu - mehr so als lose Sammlung, gedacht als Anregung zum Diskutieren, Träumen, Mitdenken und Mitgestalten. Als erster Impuls für neue Visionen. Auch dafür können Krisen geeignet sein: Neue Visionen zu entwickeln.

1.) Die Trauerbegleitung müsste dort andocken, wo sie gerade jetzt, in der Krise, am dringendsten gebraucht würde (oder besser gesagt: wo sie zusätzlich gebraucht würde, denn natürlich wird jede Begleitung dringend gebraucht). Was mir großen Kummer macht, sind die radikalen Veränderung im Kontext des Sterbens. Wenn heute immer mehr Menschen durch das Coronavirus dazu gezwungen sind, ganz einsam und ohne jeden erlaubten Kontakt zu ihren Angehörigen, Sterbebegleitern oder zu irgendeinem anderen Menschen sterben zu müssen, ohne eine Hand, die hält, dann ist das eine Katastrophe und eine radikale Abkehr von all den Fortschritten, die Hospiz- und Palliativkultur in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut haben. Und auch für die Angehörigen ist das brutal – nicht da sein zu können, obwohl es ginge. Hier müssten wir als Trauerbegleiter jetzt sofort reagieren können. Wir müssten die Angehörigenbegleitung der von Corona betroffenen Familien als Akuthilfe anbieten und organisieren können. Wir müssten uns an all die Sportvereine und Nachbarschaftshilfen andocken, die jetzt akute Notfallhilfen organisieren und auf die Beine stellen. Wir müssten unseren Tätigkeits- und Ankopplungs-Horizont über den Kontext von Hospiz- und Palliativkultur hinaus erweitern, weil die gesellschaftlich größeren Notfälle, bei denen wir gebraucht werden könnten, im Augenblick an anderen Orten ausbrechen. Wir müssten für all diejenigen Menschen zur Verfügung stehen, die ihre sterbenden Angehörigen gerade nicht besuchen und sehen dürfen. Wir müssten viel schneller und flexibler reagieren auf das, was jetzt gesellschaftlich gebraucht wird. Wir müssten, müssten, müssten... Ich habe da gut reden. Ich tue es ja selbst nicht. Und warum nicht? Wegen der altbekannten Gründe: Mich zwingt die Coronakrise in ein mich zunehmend erschöpfendes Alltags-Home-Office-Kinder-Orga-Korsett - und es gibt kein Geld für Trauerbegleitung. Dazu später mehr. 

2.) Trauerbegleitung sollte in viel größere Netzwerke eingebunden sein als bisher, oder anders gesagt: Die Angebote von Trauerbegleitung müssten noch viel sichtbarer und vor allem allgemein bekannter werden. Die Seelsorger in den Krankenhäusern, die Ärzte und Pflegekräfte auf den Stationen, die Pflegekräfte in Alten- und Pflegeheimen, aber auch die Kräfte in Notfallseelsorge und Rettungsdiensten, sie alle (und mehr) müssten von den Angeboten der Trauerbegleitung wissen, um sie weiterempfehlen oder um vermitteln zu können. Oder zusammengefasst: Eben alle, die zwar in einem direkten Kontakt mit Patienten und deren Angehörigen stehen, aber diesen Kontakt zwangsläufig verlieren (müssen), sobald sich die Situation verändert. Viele der Menschen, die Trauerbegleitung anbieten, sind zumindest mit den Bestattern aus ihrer Region recht gut vernetzt, manche auch darüber hinaus. Den meisten der Menschen, die Trauerbegleitung anbieten, fehlt berechtigterweise die Zeit und die Muße dafür, sich aktiv um eine solche weit ausholende Netzwerkpflege zu kümmern. Was wiederum mit der kritischen Frage zusammenhängt, wie diese Angebote finanziert werden und an welche Einrichtungen sie angedockt sind und sein sollten.

3.) Die Digitalisierung sollte die Sterbe- und Trauerbegleitung durchdringen. Jetzt. Und zwar im Bereich der Fortbildungen und Qualifizierungen. Wir brauchen eine fundierte Ausbildung im Segment des Digitalen. Wir müssen die Kenntnislücken stopfen, die es überall noch gibt. Das gilt auch für meine eigenen Kenntnislücken. Wie biete ich eine Trauergruppe per Chatroom an? Welche Software ist dafür geeignet? Wie richte ich Videokonferenzen ein? Welche Software ist dafür datensicher genug, welche nicht, zumal für Teilnehmer, die viel Persönliches von sich preisgeben? Was gibt es hinsichtlich des Personen- und Datenschutzes zu berücksichtigen? Welche juristischen und datenschutztechnischen Fallstricke muss ich beachten? Wie kann ich meine Angebote auch online sichtbar machen und digital darauf hinweisen? Wie kann ich als Trauerbegleiter effiziente SEO-Hinweise im Internet platzieren? All solche und weitere Fragen müssten sowohl Bestandteil der kommenden Grundqualifizierungen werden als auch Inhalte der Fortbildungen für Haupt- und Ehrenamtliche. Wir haben im Bereich der Sterbe- und Trauerbegleitung die technischen Aspekte moderner Kommunikation zu lange und zu sträflich vernachlässigt und uns zu sehr auf Methoden und die Interaktion von Mensch zu Mensch verlassen. Beides spielt jetzt nicht mehr die Hauptrolle und ist anfälliger, als wir das jemals geahnt hätten, das könnte eine der späteren Lehren aus dieser Krise sein. In Ahrensburg ist kürzlich in Sachen Sterbebegleitung ein I-Pad mit Video-App für den Kontakt von Seelsorgern und Begleitern zu den Sterbenden getestet worden - das ist ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung.





4.) Aller Digitalisierung zum Trotz dürfen wir auch die analogen Lösungen nicht aus den Augen verlieren. Trauerbegleitung per Brief, im Hin und Her des geschriebenen Wortes, auch das wäre ja möglich. Es wäre eine klassische, angenehm langsame Art und Weise sich zu verständigen, die ihre ganz eigenen Qualitäten mit sich bringt. Sich Briefe zu schreiben, ganz altmodisch auf Papier, einen Brief in den gelben Kasten zu werfen und dann erstmal ein paar Tage lang auf die Antwort zu warten, das war zu meinen Sturm-und-Drang-Zeiten Anfang der 90er - vor E-Mails und Internet - fast die einzige Möglichkeit der Konversation. Jedenfalls war es damals die günstigere Art, denn das Telefonieren hatte je nach Uhrzeit noch schwankende Preise und war naturgemäß dann am Teuersten, wenn es alle taten (außerdem haben es die Eltern nicht so gerne gesehen, wenn sie an ihr Telefon gar nicht mehr drankamen). Kürzlich habe ich über das Bremer Stadttheater gelesen, dass dieses als Antwort auf die Coronakrise zahlreiche neue Brieffreundschaften angeboten und eingerichtet hat und dass vom technischen Direktor über die Sänger und Sängerinnnen, sogar  bis zur Souffleuse, alle dort Arbeitenden angeschrieben werden können und dann auch antworten. Das hat mir gezeigt: So wichtig die Digitalisierung jetzt auch ist, sie ist nicht die einzige und nicht die letzte Möglichkeit. Wer sich bislang in einer Trauer- und Verlustkrise hat begleiten lassen, freut sich vielleicht über einen ganz persönlichen Brief und natürlich per Telefon, das sind gute Möglichkeiten, in Kontakt zu treten und zu bleiben.

5.) Müssen wir noch einmal neu darüber nachdenken, wie wir mit Schuldfragen im Trauerkontext umgehen wollen? Sollten wir uns hierfür neu professionalisieren? Noch sind wir von den befürchteten Katastrophenzuständen verschont geblieben, die gerne als "Triage" bezeichnet werden - aber falls sie kommen sollten, vielleicht auch erst in der befürchteten zweiten Welle im Herbst, werden wir die Themen Schuld und Trauer ganz neu erleben. Denn dann haben wir es plötzlich mit einer tatsächlichen Schuld zu tun, die Ärzte willentlich und wissentlich auf sich genommen haben, weil es zu ihren Aufgaben gehörte. Was macht das mit den Angehörigen, deren Corona-Infizierte von einem Arzt zu den nicht mehr zu Rettenden, im Wortsinne, "sortiert" wurde (das Wort "Triage" leitet sich vom Sortieren von Kaffeebohnen ab, sagt Wikipedia)? Wie wollen wir mit der berechtigten Wut der Angehörigen auf diese Übermacht der Ärzte umgehen? Wie wollen wir damit umgehen, dass Schuld jetzt einen Kanal finden kann, auf den sie sich berechtigterweise fokussiert? Was macht das mit den Ärzten selbst? Müssten wir nicht auch sie mit in den Blick nehmen? Wäre überhaupt Zeit und Raum dafür? Chris Paul kann sich auf viel Arbeit und Anfragen einstellen, denn es braucht jetzt Experten wie sie, damit wir diese Fragen neu durchdenken und neu bewerten können. Wichtig wäre vor allem: Sich jetzt und in Ruhe vorzubereiten. Wenn das Chaos erstmal ausgebrochen sein sollte, dürfte es zu spät sein, wenn es ausbleibt, ist es trotzdem gut, dass wir diese Themen nochmal neu durchdacht haben. Wobei wir es dann mit einer Gesellschaft zu tun hätten, die immer mehr in Richtung eines kollektiven Traumas torkelt, was wiederum alles in Frage stellt - braucht es dann noch Trauerbegleitung? Gerade dann? Braucht es etwas anderes?





6.) Wir müssen über Geld reden. Wir müssen die Finanzierung von Trauerbegleitung auf neue Beine stellen und groß denken. Eine Spende hier, eine Spende dort, ein paar Einzelanbieter hier, ein paar dort. So weit, so gut. Und das große Ganze? Trauerbegleitung krankt am Geld, überall. Auch die paar wenigen versprengselten Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter sowie die Institutionen, die bislang mit ihrer Arbeit autonom sein konnten, dürften jetzt ins Straucheln geraten. Mit einer ausbrechenden Rezession, mit Kurzarbeit überall und mit wirtschaftlich düsteren Prognosen wird die Spendenbereitschaft der Unternehmen und Menschen einknicken. Wobei, die Bereitschaft eher nicht, vielmehr die finanziellen Möglichkeiten dafür. Wer kann diese Lücken füllen? Wie kann das deutschlandweit aufgestellt werden? Es wird Zeit, einmal ganz groß und "Out Of The Box" zu denken, kreativ und ohne Scheuklappen, Tür auf und alle mit rein in das Walt-Disney-Traumzimmer. Wie wäre es mit einem "Finanzierungs-Think-Tank", einer Denkfabrik, gesteuert vielleicht durch den Bundesverband Trauerbegleitung, aber nicht alleine darin implementiert. Wie wäre es mit Messe-Vorträgen und -Beiträgen nicht alleine über unsere wertvolle Arbeit, sondern auch über die Frage, wie wir sie finanziert bekommen/bekommen haben. Der Fundraising-Vortrag von Nici Friederichsen auf der digitalen "Leben und Tod" ist da ein sehr guter Start. Es ist an der Zeit für das aktive Suchen nach Stiftungen und anderen Geldgebern, die bereit sind, hier mit einzusteigen und die selbst gut durch die Krise manövrieren können. Und wir müssen da noch größer werden, vielleicht auch selbstbewusster. Was wir jetzt dringend verhindern sollten: Dass es der Trauerbegleitung so geht wie dem Journalismus. Der erfährt gerade eine enorme Trendwende, weg von "Fake News" und "überflüssig" hin zu "Wir brauchen das!", lässt sich aber trotzdem nicht mehr überall finanzieren. Gerade in dem Augenblick, wo die Leute wieder Journalismus wollen, ist er finanziell gesehen auf dem Sterbebett. Und unsere Begleitungsaktivitäten? Vielleicht kommt zu den vielen Verlusten, die wir als Gesellschaft derzeit erleiden, auch der stückweise Verlust von Trauerbegleitung dazu. Alles hängt am Gelde. Punkt.  

7.) Lasst uns durch noch professionellere Öffentlichkeitsarbeit die Relevanz von Trauerbegleitung unterstreichen. Wieso gibt es eigentlich keine professionell gemachte Publikumszeitschrift in den Kioskregalen an Bahnhöfen und im Buchhandel, die die Themen Tod, Trauer und Sterben für eine allgemein interessierte Leserschaft breitenwirksam anzubieten versteht? Also eine richtige Zeitschrift, mit Lesegeschichten, konkreten Tipps, mit einem angenehmen Wechsel aus Kleinteiligem und Großzügigem. Zwar gibt es bereits zwei Projekte, die in diesem Segment gut unterwegs sind. Das ist zum einen das Magazin "Drunter und drüber", herausgegeben von der Funus-Stiftung, bereits ein gut gemachtes Heft, das diese Themen ansprechend rüberzubringen versteht - aber auch dieses Magazin hat es noch nicht an den Kiosk geschafft und will das auch gar nicht. Und zum zweiten ist es die Zeitschrift "Leben und Tod" aus Dresden, die auf ihrer Website immerhin dem Buchhandel eine Möglichkeit für die Bestellung angibt. Im Bahnhofskiosk ist sie mir allerdings ebenfalls noch nicht untergekommen. Dabei wäre es gerade jetzt an der Zeit dafür, jetzt, wo allen Menschen in unserer Gesellschaft die Themen Tod, Trauer und Sterben nochmal ganz neu ins Bewusstsein geraten sind. Eine solche Zeitschrift in den Markt zu geben, ist ein alter und großer Traum von mir. Ich träume von einer Erstausgabe, die auf ihrem Cover die aneinandergereihten Särge aus Italien zeigt. Das wäre der richtige Knaller zur richtigen Zeit. Es ist ganz sicher ein gewaltiges finanzielles Wagnis, zumal in diesen Zeiten der wegbrechenden Anzeigenmärkte und des nicht mehr überall gegenzufinanzierenden Journalismus'. In einem solchen Heft könnten zudem professionelle Trauerbegleiter zu Wort kommen und auf speziellen kleinen Anzeigenseiten zu einem kleinen Preis ihre Angebote präsentieren. Ansonsten gilt auch für Trauerbegleiter, dass sie sich selbst und ihre wertvolle Arbeit weiter sichtbar machen müssen - und viele tun das ja auch bereits. Wobei es da immer noch Luft nach oben gibt. Viel zu viele Angebote und Anbieter verlassen sich nach meinen persönlichen Erfahrungen alleine auf die Meldungsspalten der gedruckten Tageszeitungen. Und wer zusätzlich bei Facebook unterwegs ist, muss immer wieder die eigentlich frustrierende Erfahrung machen, dass das, was man dort postet, die eigene Filterblase selten verlässt. Man bleibt also unter sich. Das ist sinnvoll im Sinne des Netzwerkens und Informationsaustauschs untereinander, aber wer ein breiteres Publikum ansprechen möchte, braucht andere Kanäle und Möglichkeiten.  

Eine Bemerkung noch zum Schluss: Dieser Artikel ist entstanden über einen Zeitraum von eineinhalb Wochen Ende April bis Anfang Mai 2020, während sich hier und da ganz langsam erste Lockerungsdiskussionen in manchen Bereichen entspannten und jungen Eltern andernorts wieder neue Frechheiten zugemutet wurden, nach dem Motto: Regelt mal Eure Kinder-Kita-Ersatzbetreuungen besser selbst.... Sei's drum: Wenn ich diesen Artikel veröffentlichen werde, spätestens zur Messe am 8./9. Mai, wird die Welt vermutlich schon wieder etwas anders aussehen, vielleicht auch meine Welt. Aber vielleicht rollt spätestens im Herbst schon die nächste Welle mit Infektionen, Kontaktsperren, geschlossenen Einrichtungen über uns hinweg. Auch das ist neu: Diese Unplanbarkeit und Unwägbarkeit in allem, was sich tagtäglich tut. Wir werden auch damit leben müssen. Über das Wie müssten wir uns dann noch unterhalten. Beim nächsten Mal.  

Und jetzt bin ich gespannt auf Meinungen, Kommentare, Ergänzungen, Diskussionen, gerne hier im Kommentarfeld oder per E-Mail an thomas-achenbach@gmx.de. 

Und hier noch, wie versprochen, die Linksammlung der in diesem Artikel benutzten Informationen und Fakten:

1.) Laptops in der Sterbegleitung - Pilotversuch aus Bargteheide:
https://www.bargteheideaktuell.de/aktuell/63532/niemand-soll-alleine-sterben-digitale-sterbebegleitung-in-zeiten-der-corona-pandemie/

2.) Wie sich das Magazin "Drunter und Drüber" publikumswirksam dem Tod widmet:
https://trauer-ist-leben.blogspot.com/2016/06/leute-beschaftigt-euch-mit-den-themen.html

3.) Wie sich Angela Merkels Kabinett über "Pipi-Kacka"-Familienfragen lustig macht:
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-beschluesse-zu-schulen-und-kitas-mehr-pipi-kacka-fragen-wagen-kommentar-a-731443e9-7374-4dac-8bf3-b78b592a3246

4.) Wie Markus Söder Familienfragen als "Micky-Maus-Politik" abtut:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-beratungen-mit-angela-merkel-von-micky-maeusen-und-ministerpraesidenten-a-00fcef90-e1bc-46e4-9e3f-c16779b7cce1

5.) Wie das Gremium der Leopoldina-Berater zusammengesetzt ist:
https://ze.tt/leopoldina-warum-expertinnenteams-zu-homogen-sind-corona-krise/

6. ) Kristina Schröder sagt: Familien werden komplett im Stich gelassen: 
https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-kitas-kristina-schroeder-1.4886195

7.) Eltern in Niedersachsen sollen Kita-Kinder-Ersatzbetreuung selbst regeln:
https://www.noz.de/deutschland-welt/niedersachsen/artikel/2046219/corona-lockerungen-neue-moeglichkeiten-in-der-kinderbetreuung

Und - weil er einfach so treffend ist - als Extralink hier noch mein Lieblingskommentar zum Thema Kitas zu und Basta:
https://www.sueddeutsche.de/bildung/coronavirus-corona-krise-schulen-kinderbetreuung-1.4876048


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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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