Osnabrück - Ich nenne es gerne das "systemische Fünfer-Feld für die Betrachtung von Männern in Krisen" - etwas hochgestochen, zugegeben, aber irgendeinen Namen braucht dieses Schaubild halt. In meinen Vorträgen oder in Workshops über Männer und Trauer male ich es gern auf ein Flipchart. Es vereint fünf Aspekte, die wir im Hinterkopf haben müssen, wenn wir mit Männern in Krisensituationen zu tun haben - oder wenn Männer sich selbst hinterfragen wollen, warum sie so ticken, wie sie nun einmal ticken. Es sind fünf Aspekte, die in Wechselwirkungen zueinander stehen und die sich alle gegenseitig beeinflussen. Fünf Aspekte, die ein differenzierteres Bild ermöglichen - differenzierterer als "Männer sind eben so". Übrigens ein Satz, den ich strikt zu vermeiden versuche. Einerseits... Und andererseits?
Wenn es um die Frage geht: Wie tickt eigentlich der moderne Mann und was bedeutet das für unsere Angebote in Trauerbegleitung, Seelsorge, etc., dann möchte ich erstmals nach über sieben Jahren intensiver Beschäftigung mit diesem Thema bei einem Menschen ins Innenleben hineinblicken, der noch nicht dran war. Einer, den ich mich in keinem Buch zu zitieren getraut habe, einer, den ich niemals für qualifiziert genug gehalten hätte, um ihn einen "Experten" zu nennen, obwohl er das in mancherlei Hinsicht ist. Nämlich bei mir selbst. Ich bin ja auch einer. Ein Mann.
Dazu noch einer mit der vollen Dröhnung 80er-Jahre-Männer-Sozialisation. Wie die ausgesehen hat? Dazu bietet sich ein interessantes Experiment an.
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(Alle Fotos/Zeichnungen: Thomas Achenbach) |
Man versuche einmal, in einem Streamingdienst wie Spotify oder auf dem freien CD-Markt die ersten 99 Folgen der Hörspielserie "TKKG" irgendwo aufzufinden, also einer der beliebtesten Kinder-Detektiv-Serien aus Deutschland, erschienen zwischen 1981 und 1996. Wer diese Episoden schließlich findet - über einen Umweg ist das inzwischen wieder möglich, nachdem sie ab 2009 komplett vom Markt genommen waren -, der stößt auf einen neu hinzugefügten Warnhinweis vor jeder einzelnen Episode. Motto: "Vieles von dem, was hier dargestellt wird, ist heute nicht mehr zeitgemäß". Und es stimmt. Zum Beispiel die probate "Ermittlungsmethode" des jugendlichen Helden Tim bzw. Tarzan: Erst draufhauen. Dann reden. Falls überhaupt. Weil Tarzan nämlich Karate kann.
So war Männlichkeit in den 80ern - wo du auch hingesehen hast: Unironisch. Zynisch. Knallhart. Guck sie Dir an, all die Helden aus jener Zeit: Schimanski. Rambo. John McLane (aus "Stirb langsam"). He-Man. Conan. Und, und, und.... Heute würde man sagen: Toxisch. Damals hat man gesagt: Männlich.
Draufhauen und ganz der Harte sein, das war nie so wirklich was für mich - aber Muckis aufbauen, das hat mich doch irgendwie gereizt. Muckis fand ich, nun ja, männlich. Soviel Einfluss hatte es auch auf mich - das Männerbild dieser Zeit.
Und damit sind wir wieder beim Thema angekommen: Die Sozialisation. Ein ganz zentraler Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt. Warum das so wichtig ist, gerade im Kontext von Trauerbegleitung? Nun ja, zum Beispiel, weil schon ein ganz simpler Stuhlkreis bei einem 80er-Jahre-Kind wie mir ganz andere innere Schwingungen auslöst als vielleicht bei Menschen einer anderen Generation. Und das ist auch nicht aus mir rauszukriegen. Auch nach all den Jahren noch, auch nach hunderten selbst aufgebauter Stuhlkreise, auch nach mehreren mitgeleiteten Trauergruppen - meine erste Assoziation, wenn ich einen Stuhlkreis sehe, bleibt dennoch stets die gleiche: Auweia - Eso-Alarm!
Oder, überspitzt formuliert: Stuhlkreise sind für ein 80er-Kind wie mich unmännlich. Immer noch. Ist so einprogrammiert. Sozialisation.
Wobei sich das Thema Sozialisation in verschiedene Unteraspekte aufgliedern lässt, die sich wiederum in meinem systemischen Fünfer-Feld finden lassen. Dieses Feld besteht aus diesen fünf Facetten, zu denen ich im Folgenden jeweils noch etwas ergänzen werde:
- Kriegsnähe
- Herkunft
- Vorbilder
- Männlichkeitsbild
- Alter/Geburtsjahr
Aber was bedeutet das, jeweils - und wie können wir diese Faktoren in unseren Gespräche mit trauernden Männern mit einbauen, was bedeutet das für uns als Begleiter, Freunde oder Verwandte? Okay, der Reihe nach - betrachten wir die einzelnen Faktoren einmal etwas näher.
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Autor dieses Beitrags: Thomas Achenbach (Foto: Ulrike Lehnisch/Luxteufelswild) |
1.) Kriegsnähe: Alle Männer, die in meine Begleitungen kommen, sind noch vom Zweiten Weltkrieg geprägt, ob ihnen das bewusst ist oder nicht. Sogar ich selbst bin noch vom Zweiten Weltkrieg geprägt - und das mehr als mir selbst viele Jahre bewusst gewesen ist, wie mir die aktuell aufkeimende Forschung rund um das Thema der Kriegsenkel/Kriegskinder immer wieder zeigt.
Sogar bei dem bislang jüngsten Mann, den ich begleiten durfte, waren diese Prägungen auch in seinem Alter von noch nicht einmal 20 Jahren noch spürbar - und sie waren ein Thema in der Begleitung. Ohne, dass ich es von mir aus hätte ansprechen müssen. Denn das Thema kommt zur Sprache. Auch, natürlich, weil es modern und zeitgemäß ist, weil es in den Medien thematisiert wird und weil sich junge Menschen zuweilen selbst fragen, wieviel Krieg noch in ihren Seelen steckt. Die Recherchen von Sabine Bode über die Kriegskinder und die Kriegsenkel und die damit begonnene Forschung haben uns - auch wenn sie noch am Anfang steht - bereits deutlich gezeigt, dass der Krieg auch zwei Generationen weiter noch so starke Spuren in den Menschen hinterlassen hat, dass diese Prägungen nicht unberücksichtigt sein dürfen. Das gilt vor allem für das Thema Trauer. "Je näher ein Mensch dem Krieg ist, ob zeitlich oder räumlich, desto weniger kann er Trauer können", lautet eine meiner Thesen, die ich in meinen Vorträgen gerne anbringe und diskutiere.
Beim Angriff Russlands auf die Ukraine haben wir alle erlebt, wie tradierte und längst überholt geglaubte Männlichkeitskonzepte mit einem Fingerschnippen wieder im Raum stehen: "Frauen und Kinder in Sicherheit, Männer an die Front, ohne jede Diskussion" - so lautete die Ansage.
2.) Herkunft: Was die Frage nach Männlichkeitsidealen angeht, ist es wichtig, einen Blick auf das Herkunftsland des Mannes zu werfen, mit dem wir gerade zu tun haben. Das gilt vor allem innerhalb Deutschlands. Es kann einen enormen - und meiner Meinung nach in der aktuellen Trauerforschung viel zu wenig berücksichtigten - Unterschied machen, ob der trauernde Mann, mit dem wir gerade zu tun haben, aus West- oder aus Ostdeutschland kommt.
Man werfe einen Blick in die Bücher junger ostdeutscher Autoren wie Domenico Müllensiefen, Hendrik Bolz oder Daniel Schulz, alle in den 80ern geboren und im Nachwendedeutschland groß geworden. Im Osten, wohlgemerkt. In den sozialen Medien ist unter dem Hashtag "Baseballschlägerjahre" treffend zusammengefasst, wovon sie berichten: Alkohol, Gewalt und Desillusionierung beherrschten die Stimmungslage. Und das allgemein propagierte Männerbild in dieser Gesellschaft atmet allerorten noch die Kruppstahlmentalität der 30er Jahre. Nicht alleine nur auf der Straße, auch in den Küchen der Plattenbauten. Härte und Enge, im Inneren, haben indes maßgeblichen Einfluss auf einen jeden Trauerprozess. Und das ist auch heute noch ein Thema. Zu diesem Themenkomplex passt auch das nächste Stichwort (denn, wie gesagt, all diese hier genannten Aspekte stehen in systemischen Wechselwirkungen zueinander):
3.) Vorbilder. Welche Art Vorbilder habe ich erlebt, wenn es um Männer in Trauer geht? Wie habe ich die Männer in meinem Umfeld wahrgenommen - in Familie, Freundeskreis, Bekanntenkreis, im Arbeitskontext? Wie haben diese Männer reagiert, wenn sie in eine seelische Krise geraten waren? Haben sie ihre Hilflosigkeit in Worte fassen können oder sind sie still geblieben? Sind sie eher aggressiv geworden, haben sie vielleicht versucht, den Aufruhr im Innern mit Alkohol oder anderen Suchtmitteln abzumildern? Kurz: Was wurde mir ganz persönlich vorgelebt, wie "Mann" mit einer Krise umgehen sollte/könnte? Und welche inneren Werte könnten in mir selbst dadurch entstanden sein? Haben vielleicht auch in meine Generation hinein die stillen Großväter weiter hineingewirkt, die aus dem Weltkrieg zurückkamen (falls sie zurückkamen). Jene Großväter, die der Psychologe Wolfgang Schmidbauer so treffend als die "Freudlosen Riesen" umschreibt?
Das Thema der Vorbilder muss sich dabei, wie oben bereits erwähnt, gar nicht auf das persönliche Umfeld beschränken - wenigstens genauso wichtig sind all die medialen Vorbilder, zumal bei Menschen, die - so wie ich - in immer stärker durch Medienverfügbarkeit geprägten Zeiten groß geworden sind. Tarzan von TKKG ist da nur ein Beispiel von vielen. Politiker, die immer gefasst sein müssen, immer alles im Griff haben müssen und niemals Schwäche zeigen dürfen, beispielsweise, gehören auch dazu. All das wirkt in uns hinein und beeinflusst uns.
4.) Mein ganz persönliches Männlichkeitsideal (also: Deins, liebe Leserin, lieber Leser). Aus all den oben genannten Faktoren leitet sich meistens das individuelle Männlichkeitsideal ab. Denn wir alle haben eine innere Vorstellung davon, was bzw. wie Männlichkeit eigentlich sein sollte. Nur dass uns das meistens nicht sehr bewusst ist. In meinen Workshops zum Thema Männer und Trauer starte ich manchmal gerne mit genau dieser Übung: Macht Euch einmal Euer ganz eigenes Männlichkeitsbild bewusst? Dann male ich eine Mannessilhouette auf ein Flipchart und sammele die Attribute, die mir die Teilnehmer zurufen. Die Ergebnisse sind keinesfalls immer eindeutig - und doch immer nah am Stereotyp. Interessanterweise. Und da ist es wieder, das Einerseits und das Andererseits, eine schmale Grenze, über die wir immer entlangtänzeln, wenn wir über Männer, Männlichkeit und Geschlechterfragen in der Moderne sprechen.
Und schließlich spielt bei der Betrachtung all dieser Faktoren noch eine letzte Facette eine ganz entscheidende Rolle: 5.) Das Geburtsjahr/das Alter. Denn Männlichkeitsbilder sind immer auch eine generationale Frage. Die heute 18- bis 25-Jährigen haben bei diesem Thema ganz, ganz andere Vorstellungen als noch jemand wie ich, Baujahr 1975 und in der staubtrockenen Männlichkeitswüste der 80er sozialisiert. Und selbst einer wie ich ist für neue Ideen, zumindest teilweise, offener als viele Männer in den Generationen, die vor uns kamen.
Denn Geschlechterfragen sind eben immer auch Generationsfragen.
Stellt sich jetzt bloß die Frage: Was können wir mit diesem Modell anfangen, wenn wir entweder a) selbst als Mann von einer Krise betroffen sind oder b) Männer begleiten wollen, die gerade in einer seelischen Krise stecken?
Auch hierzu ein paar Stichworte:
1.) Gesprächsthemen/Gesprächsangebote in den Aspekten sehen: Über das Aufwachsen zu reden bzw. über das eigene Aufwachsen nachzudenken, dabei die Themen Vorbilder und Sozialisation zu streifen, das ergibt sich oft aus dem Gesprächsfluss oder dem Gedankenfluss heraus, ohne dass es künstlich "abgefragt" werden muss. Ich selbst habe eine kleine Checkliste all solcher und ähnlicher Fragen zwar stets im Hinterkopf, warte aber bei einer Begleitung gerne ab, ob es und wann thematisch passt. Nicht vergessen: Die Regie bei einer Trauerbegleitung führt nicht der Begleiter, sondern stets der Gast.
2.) Auf eine Metaebene wechseln: Manchmal mache ich meine eigene Stuhlkreis-Zerrisenheit, wie oben erwähnt, unmittelbar zum Thema, indem ich zu Beginn einer Trauergruppe das Setting anspreche, in dem wir uns gerade befinden. Ich erzähle, mit einer Prise Eigenironie, was Stuhlkreise manchmal in mir auslösen und frage, wem von den Anwesenden es womöglich ebenfalls so geht. Das sorgt manches Mal regelrecht für Erleichterung, es lockert den Rahmen auf und gibt uns eine Chance für einen augenzwinkernden Einstieg - und schon sind wir mitten im Thema: Wieviel Bammel hatte ich vor dem ersten Treffen dieser Trauergruppe (und da hat so ziemlich jeder Bammel, vorher, nach meinen Erfahrungen)...?
3.) Sich die "Lautstärkeregler" angucken: Wer sich die von mir aufgemalten systemischen Bilder näher angesehen hat, dem werden die Pfeile aufgefallen sein, die zwischen den jeweiligen Polen sitzen. Diese Pfeile kann man auch als "Lautstärkeregler" betrachten - man kann ein ähnliches Schaubild anfertigen und den Klienten - vermutlich einen trauernden Mann? - befragen, was er glaubt, wie "laut" es zwischen den jeweiligen Polen ist. Auf einer Skala von 1 bis 10. Gemeint ist mit der Frage, welche Begriffspaare in der persönlichen Einschätzung des Klienten aktuell eine größere Rolle spielen und welche nicht. Das ermöglicht einen differenzierten Zugang ins Seelenleben und kann ggf. weitere Themen eröffnen oder weitere Anknüpfungspunkte fürs Gespräch anbieten.
Wann ist der Mann ein Mann? Herkunft, Kriegsnähe, elterliche Prägung, das in der Gesellschaft vorherrschende Männlichkeitsbild, das Alter, die gemachten Erfahrungen, das alles sind Faktoren, die die Grönemeyerfrage maßgeblich beeinflussen - und die Frage danach, wie ein Mensch in einem Trauerfall reagiert.
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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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