Gestolpert über den Verein war ich wegen dessen Aktivitäten in Minden. Dort hatte sich der Verein Kriegsenkel mit dem dortigen Hospiz zusammengetan und eine sehr erfolgreiche Veranstaltungsserie organisiert. Das hatte mich neugierig gemacht. Der Autor und Coach Sven Rohde erläutert mir im Interview, warum es so sinnvoll sein kann, die Themen Hospizkultur und Kriegsgenerationen in Einklang zu bringen - und warum die heutige Generation der Kriegsenkel, zu der ich ebenfalls gehöre, gerade jetzt soviel Interesse an dem Thema entwickelt....
Sven Rohde vom Verein "Kriegsenkel e. V." (Foto mit freundlicher Genehmigung). |
Sven Rohde, eine meiner Kernaussaugen, die ich auf diesem Blog immer wieder bearbeite, lautet: Wir als moderne Gesellschaft können Trauer noch gar nicht „können“, also vor allem nicht richtig zulassen, weil uns immer noch die Kriegserfahrungen der vorhergehenden Generationen im Wege stehen. Das würden Sie als Mitglied des Vereins Kriegsenkel vermutlich unterstreichen, oder?
Sven Rohde: Ja, das ist ganz gewiss so. Seelische Härte und eine
Abschottung vor Gefühlen, die ein Funktionieren beeinträchtigen, ist in
Kriegszeiten eine wichtige Überlebensstrategie. Das haben die Menschen, die im
Krieg Kinder waren, von ihren Eltern gelernt, und sie haben es an ihre Kinder –
die sogenannten Kriegsenkel – weitergegeben. Sich der Trauer und der Ohnmacht
angesichts des Verlusts zu öffnen, sie bei anderen auszuhalten, muss man dann
erst wieder lernen.
In Minden haben Sie zum Thema Kriegsenkel eine
Veranstaltungsreihe mit dem dortigen Hospiz zusammen angeboten und sind quasi
überrannt worden. Was kamen da für Menschen und wie erklären Sie sich dieses
große Interesse?
Sven Rohde: Es waren ganz einfach Menschen, die zwischen 1955 und 1980
geboren wurden und neugierig waren, was die Prägung ihrer Kindheit mit ihrem
aktuellen Leben zu tun hat. Das große Interesse entstand sicher auch, weil der
Hospizverein seit vielen Jahren eine wertvolle Arbeit in Minden macht, die in
der Öffentlichkeit und der Presse geschätzt wird. Davon hat die Kooperation sehr
profitiert.
Warum ausgerechnet die Anbindung an ein Hospiz – wie kam es
denn dazu?
Sven Rohde: Ausgangspunkt war eine persönliche Bekanntschaft des
Geschäftsführers Helmut Dörmann mit dem Vorsitzenden des Kriegsenkel e.V.
Michael Schneider. Aber die Nähe ist durchaus inhaltlich. Am Lebensende drängen
belastende Themen an die Oberfläche – und natürlich gehören in Deutschland dazu
die Erfahrungen des Krieges und der Nazizeit.
Seit wann gibt es denn einen eigenen Verein zum Thema
Kriegsenkel und vor allem: Warum und wozu gibt es ihn?
Sven Rohde: Kriegsenkel e.V. gibt es seit 2010. Der Verein entstand aus
einer Gruppe, an der auch die Autorin Sabine Bode teilnahm, die mit ihren
Büchern über Kriegskinder und Kriegsenkel Bahnbrechendes für die Wahrnehmung
der Problematik geschrieben hat. Über die Jahre hat sich gezeigt, wie stark
sich die Prägungen dieser Generation, die viele ja auch als Babyboomer kennen,
noch heute auswirken: familiär, beruflich, gesundheitlich. Das in Tagungen,
Veröffentlichungen oder eben in Seminaren aufzuarbeiten, ist der Zweck des
Vereins. Die Nachfrage bestätigt uns, dass diese Arbeit mehr denn je gebraucht
wird.
Seit kurzem gibt es das Thema auch als Dokumentarfilm – Der
Krieg in mir -, der Film tingelt seit
März 2020 durch verschiedene Kinos, findet sich jedoch mehr in einzelnen
Sondervorstellungen als im laufenden Programm. Haben Sie den Film schon
gesehen?
Sven Rohde: Ja, er hatte Vorpremiere auf der Tagung des Kriegsenkel e.V.
im vergangenen Herbst. Der Verein hat die Entstehung auch mit inhaltlicher
Unterstützung begleitet. Wie so Vieles aktuell wurde die große Resonanz durch
die Pandemie abrupt unterbrochen. Was ich sehr schade finde: Der Film ist nicht
nur inhaltlich bedeutsam, sondern auch gut erzählt.
Der Regisseur des Films ist 1971 geboren worden und hat nie
Kriege oder andere Gewalt persönlich erlebt. Dann ist er plötzlich von
Alpträumen voller Kriegserlebnissen geplagt worden, die ihm bizarr real
erschienen – das kam ihm so vor, als ob er die Erfahrungen des Großvaters
nochmal in Träumen durchleben müsste, obwohl der Opa nie über diese Erlebnisse
gesprochen hatte. Das mutet fast wie eine mystische Erfahrung an. Kennen Sie
solche Geschichten?
Allgegenwärtig: Die Schatten der Vergangenheit (Foto: Thomas Achenbach) |
Sven Rohde: Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Seminaren erzählen immer wieder davon, und das Phänomen ist auch aus der Literatur bekannt. Da Träume ein besonders schwierig zu erforschender Bereich sind, gibt es im Moment keine wissenschaftlich abgesicherte Erklärung. Allein: Wir erleben auch auf diese Weise, dass wir Teil einer Ahnenreihe sind, deren Erfahrungen wir in uns tragen.
Aber hat das nicht eine gewisse Nähe fast schon zur Esoterik
– durch Vererbung weitergegebene Traumata in Bild und Ton, wie im Kino? Gibt es
sowas wirklich?
Sven Rohde: Ich halte es mit Hans-Peter Dürr, einem Physiker und Träger
des Alternativen Nobelpreises. Er sagte: „Wir erleben mehr, als wir begreifen.“
Aber tatsächlich gibt es seit etwa 1995 eine neue Forschungsrichtung der
Neurobiologie, die Epigenetik. Sie hat erste Beweise dafür, dass über unser
Erbgut auch Erfahrungen an kommende Generationen weitergegeben werden, also
auch Traumata. Forschungen wie die der Neurowissenschaftlerin Isabelle Mansuy,
Professorin in Zürich, sind hier wegweisend.
Wie es scheint, ist es gerade die Generation der um die 1970
bis 1980 geborenen, die jetzt mit diesen Themen konfrontiert wird, also die
eigentlich so wohlbehütete Gummibärchengeneration, der der Autor Florian Illies
den Stempel „Generation Golf“ aufgedrückt hatte. Die sind jetzt alle so 40 oder
50. Warum nimmt das Thema ausgerechnet jetzt soviel Fahrt auf?
Sven Rohde: Es mag daran liegen, dass die Eltern dieser Generation jetzt
hinfällig werden und ihre Kinder in für sie bewährter Weise in Dienst nehmen.
Was Sie „wohlbehütet“ nennen, haben viele als erstickend erlebt.
„Parentifizierung“ heißt das Phänomen. Es ist in meinen Seminaren
allgegenwärtig. Viele dieser alten Menschen haben die Eigenständigkeit ihrer
Kinder nie wirklich akzeptiert und nehmen vollkommen selbstverständlich ihre
Aufmerksamkeit, Zeit und Betreuung in Anspruch. Das kann zu einer enormen
Belastung werden. Zudem erleben viele Kriegsenkel eine Sinnkrise. Sie haben das
Gefühl, ihr Leben immer mit angezogener Handbremse gelebt und nie ihr wahres
Potenzial entfaltet zu haben. Die Diskussion über Kriegsenkel zeigt ihnen, dass
das kein individuelles Versagen ist, sondern die Prägung einer Generation. Das
ist ebenso befreiend wie schockierend. Und ein möglicher Punkt der Umkehr.
Angela Merkel hat in ihrer großen Corona-Fernsehansprache
die Pandemie als „die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“
bezeichnet – ist das nicht angesichts dieser gerade besprochenen Gemengelage
eine fast schon gefährliche Analogie, weil sie damit genau an den
psychologischen Stellschrauben für Traumata dreht?
Sven Rohde: Ja und nein. Einerseits hat die Kriegsrhetorik vor allem zu
Beginn der Berichterstattung gewiss viele Menschen verunsichert. Das wissen wir
auch aus einer Umfrage unter unseren Mitgliedern. Aber zugleich hat diese
Generation eben auch eine gut ausgeprägte Krisenkompetenz – von ihren Eltern
geerbt, aber auch aufgrund eigener schwieriger Erfahrungen. Das ist mir als
Botschaft sehr wichtig: Viele aus unserer Altersgruppe haben in Kindheit und
Jugend Dinge erlebt, die wir unseren eigenen Kindern nicht zumuten wollten.
Aber auf diese Weise eben auch Kompetenzen und Ressourcen aufgebaut, die uns
verlässlich, verantwortungsbewusst und ziemlich resilient machen...
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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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