Freitag, 20. Dezember 2019

Eine bewegende Geschichte rund um das Jahresende: Wie eine gestorbene Tochter und der ihr gewidmete Internetbeitrag der ganzen Welt bewiesen, dass das Netz mehr kann als nur Hass: #einElefantfürDich - Neue Folge meiner Serie über Trauer und Musik: Wenn Töne und Texte die Seele ins Schwingen bringen, Teil #04

Osnabrück - Das Internet kann mehr als nur Hass und Verachtung. Eine der berührendsten Geschichten, die das Netz geschrieben hat, ist die von dem Popsong "Ein Elefant für Dich" der deutschen Indierockgruppe "Wir sind Helden". Da stirbt ein vierjähriges Mädchen - und die darüber bloggende Mutter erhält plötzlich unerwartete und hochprominente Unterstützung. Damit ist diese Geschichte rund um den Hashtag #einElefantfuerdich ein Muss für meine vor kurzem gestartete Serie über Trauer und Musik. Es ist eine Geschichte darüber, wie Trauer ist und was sie mit uns macht. Und warum es so wichtig sein kann, sie zuzulassen. Deswegen ist die Geschichte so bedeutsam und bleibt es jetzt noch, drei Jahre nach ihrem Geschehen.

Sie war die "erste Kaiserin", die schwerstbehinderte Tochter der Bloggerin Marice Kaiser aus Berlin. In ihrem Blog mit dem Namen "Kaiserinnenreich" berichtet die Mutter zweier Kinder über das nicht immer leichte Familienleben - übrigens auch weiterhin. Allen, die sich als berufstätiges Elternteil von ihrem Leben generell mal überfordert fühlen, sei beispielsweise ihr Artikel über "Das Unwohlsein der modernen Eltern" empfohlen (heißt eigentlich "der modernen Mutter" und richtet sich nur an Frauen, war aber für mich als generall mal überforderten Vater genauso lesenswert, deswegen nahm ich mir die Freiheit einer Namensanpassung). Kurz nach Weihnachten vor drei Jahren, am 30. Dezember 2016, starb die vierjährige erste Kaiserin im Alter von vier Jahren. Und Marice Kaiser ließ ihrer Trauer freien Lauf - in einem mittlerweile nicht mehr verfügbaren Blogbeitrag berichtete sie von ihrem Schmerz und dem, was der Tod ihrer Tochter in ihr ausgelöst hatte. Und sie fügte ein paar Zeilen aus dem Lied "Ein Elefant für Dich" mit dazu - tatsächlich ein paar Textzeilen, die einem den Hals immer wieder aufs Neue zuschnüren können:


(Alle Fotos: Thomas Achenbach)

"Ich werde riesengroß für dich, ein Elefant für dich, ich trag dich meilenweiter, über's Land - und ich trag dich so weit wie ich kann". Gefolgt von der Textstelle, die mich persönlich jedes Mal aufs Neue tief im Inneren berührt: "Und am Ende des Wegs, wenn ich muss - trage ich dich, trag' ich dich über den Fluss." Denn, mal ehrlich, wir alle, die wir einen Menschen, vielleicht auch einen kleinen Menschen, wirklich lieb haben: Würden wir das nicht alle tun bzw. es tun wollen? Sofern es möglich ist? Meilenweiter gehen, ausloten, was dieses Schicksal an letzter Energie in uns freisetzen kann, den Menschen soweit begleiten, wie es irgendwie geht? Und nicht mehr als das steckt in diesen Textzeilen darin. Doch geht die Geschichte damit erst richtig los. 


Und dann kam Judith Holofernes persönlich


Denn kurz nachdem Marice Kaiser ihren Artikel veröffentlicht hatte, meldete sich die Sängerin der Band "Wir sind Helden", Judith Holofernes, und schrieb auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: "Ich bin sprachlos, kann nicht aufhören zu weinen. Mein Elefant soll immer #einElefantfuerDich sein, und für euch." Die Twitternachricht verbreitete sich rasant. Das Internet hatte einen neuen viralen Erfolg, aber es war mehr als das. Denn die Anteilnahme war gewaltig. Jeder, der seine Solidarität mit der Familie bekunden wollte, stellte unter dem Hashtag #einelefantfuerdich zum Beispiel Fotos von Elefanten oder ein paar Zeilen der Anteilnahme für das verstorbene Mädchen und seine Familie ein. Für ein paar Tage gab es im Netz des Hasses und der Bösartigkeit mal nichts als Zuneigung, Zuwendung und Menschlichkeit. Und eine Ahnung davon, was Trauer mit uns Menschen machen kann und warum es so wichtig ist, davon zu wissen. Ich habe mit Marice Kaiser keinen Kontakt und kenne sie nicht, aber ich könnte mir vorstellen: Auch jetzt noch geht die Trauer tief, drei Jahre nach dem Tod, auch wenn sich das sicher kaum jemand vorstellen kann, der so etwas noch nicht selbst erlebt hat. Kein Mensch kennt diese Gebirge der Trauer, der noch nicht seine Schroffheit selbst gespürt hat. 


Zwar ist der Original-Blogbeitrag über den Tod der "Ersten Kaiserin" nicht mehr verfügbar - vielleicht war es der Familie am Ende doch etwas zuviel der Öffentlichkeit und es brauchte wieder mehr Privates -, doch findet sich in einem Artikel des Sterns über diese Ereignisse noch das folgende Zitat aus diesem Text: "Am 30. Dezember 2015 ist unsere Tochter in unseren Armen eingeschlafen und gestorben", habe sie geschrieben, zitiert der Stern. "Wir sind fassungslos und traurig - und unendlich dankbar, vier Jahre und zwei Monate mit ihr gelebt haben zu dürfen. Wir wünschen uns kein Beileid; wir möchten uns lieber darüber freuen, dass sie da war. Dass sie uns verzaubert hat und glücklich mit uns war."

Und am Ende des Wegs, wenn ich muss - trage ich dich, trag' ich dich über den Fluss.

Die besten Songs & Alben über Trauer und Tod - die ganze Serie:


  1. Folge 1 - Auftakt mit Mumford & Sons, Genesis, Eric Clapton - hier klicken
  2. Folge 2 - Auf dem Rücksitz, mitten in der Trauer, Arcade Fire - hier klicken 
  3. Folge 3 - Ein alter Mann, der in einem Raben die gestorbene Schwester entdeckt




---------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Über diese Serie: Musik ist meine größte Leidenschaft. Die Trauerbegleitung ist eine meiner Professionen und eine meiner Tätigkeiten. Beide Themen zu vermischen, das habe ich schon lange vorgehabt. Jetzt ist eine gute Zeit dafür. Denn in den vergangenen Jahren habe ich emsig gesammelt: Ganz viel Musik über Trauer und Schmerz. Songs, Alben, Orchesterwerke; dazu ganz viele Geschichten, die sich in diesen Tönen und Texten verstecken. Seine eigene Trauer über Musik kreativ auszudrücken, das hat für Komponisten Tradition - überwiegend für männliche Komponisten, übrigens, aber dazu ein andermal mehr. Manchmal führt ein einziger Tod sogar zu mehreren Songs darüber. 

--------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


Freitag, 13. Dezember 2019

Wie die menschliche Sterbeuhr alle in diesem Jahr bereits Gestorbenen misst und wo sie zu finden ist - und warum die dazugehörige Website verständnisvolle Inspirationen für Trauernde geben kann

Osnabrück - Wer hätte das gewusst? Alle 33 Sekunden stirbt, statistisch gesehen, ein Mensch in Deutschland. Das macht pro Stunde etwa 108 gestorbene Menschen. Und wer wissen möchte, wieviele Menschen in diesem Jahr bereits gestorben sind, kann sich jetzt auf einer neuen Website die so genannte Sterbeuhr ansehen, die einem das in eindrucksvoller Weise und immer ganz aktuell zeigt. Doch das damit verbundene Online-Magazin "Trauer now" ist noch aus einem ganz anderen Grund ein empfehlenswerter Lesetipp (zu erreichen über diesen Link hier). 

Denn in mehreren Artikeln auf diesem Portal gibt es wertvolle Impulse und viele Anregungen für Trauernde - und für die Menschen, die sie begleiten, sei es als Angehörige oder Freunde oder Kollegen. Ergänzt wird das Angebot um berührende Porträts von Menschen, die mit den Themen Tod, Trauer und Sterben und zu tun haben. Darunter ist beispielsweise der Sternekoch Vincent Klink, der Tipps für das "Totenmahl" gibt. Anregungen für hilfreiche Trauer-Rituale in und eine Linkliste für weitere Angebote runden die Website ab. Aber wer steckt dahinter?


Sie tickt für bzw. in jedem Menschen: die menschliche Sterbeuhr (alle Fotos: Thomas Achenbach). 

Als Macher des Onlineportals fungiert die Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V., die sich - ausgehend vom Kasseler Museum für Sepulkrakultur -  für eine neue Trauerkultur in Deutschland einsetzt. In einer Pressemitteilung über die "Trauer Now"-Website heißt es dazu: Tod und Trauer sind in der Gesellschaft in vielen Bereichen immer noch tabu, viele sind darauf nicht vorbereitet, viele damit allein. Es braucht eine neue, respektvolle, öffentliche Diskussion darüber, wie eine heilsame Trauer besser gelingen kann – wie aus ihr eine unbelastete Erinnerung werden kann. Was muss sich dafür verändern? Antworten darauf sollen sich der Mitteilung zufolge auf dem Portal finden. Hier sollen zudem neueste, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse präsentiert werden, wie es in der Mitteilung weiter heißt. Und dass es wichtig sei, dieses Thema immer wieder ins Bewusstsein der Menschen zu bringen. Warum?


Es braucht mehr Orte zum Trauern


"Trauer ist etwas, über das wir ungern sprechen, aber sie geht uns früher oder später alle an", wird der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft und Direktor des Zentralinstituts und Museums für Sepulkralkultur in Kassel, Dirk Pörschmann, zitiert. Das Problem sei jedoch: Viele sind auf Trauer nicht vorbereitet. Dann zieht es ihnen nochmal in besonderer Weise den Boden unter den Füßen weg. Deswegen sei es so wichtig, eine Trauerkultur zu etablieren, "die die Hinterbliebenen in den Mittelpunkt rückt", wie es Dirk Pörschmann weiter sagt: "Wir wollen Inspirationen geben, wie der Abschied von geliebten Menschen wahrhaftig, würdevoll und heilsam gelingen kann." Fast 955 000 Menschenn sterben insgesamt jedes Jahr. Rechnet man pro gestorbenem Menschen eine statistisch wahrscheinliche Größe von 1,5 Trauernden hinzu, ergibt sich eine gewaltige Menge an Betroffenen - jedes Jahr aufs Neue. "So brauchen Menschen beispielsweise Orte, an denen sie mit ihrer Trauer so frei umgehen dürfen und können, wie es ihnen gut tut", sagte Pörschmann. Menschen benötigten auf dem Friedhof Beisetzungsorte, die einen positiven und lebendigen Trauerprozess ermöglichen.


Doch gerade die Friedhöfe sind es, die aktuell in die Kritik geraten sind. Auf dem 2019 in Köln stattfindenden Kongress "Heilsame Abschiede" stellten zwei Soziologen eine Studie vor, die zu dem eindeutigen Ergebnis kommt: Der Friedhof könnte ein Auslaufmodell sein, wenn sich dort nicht bald etwas ändert. Eine umfangreichere Berichterstattung zu diesem Thema findet sich unter anderem bei der Neuen Osnabrücker Zeitung (registrierungspflichtig) oder ebenfalls beim Portal Trauer Now unter diesem Link.... 

Übrigens: Lust drauf, diesen Blog auch als Podcast zu hören? Dann bitte hier klicken für die Übersicht über alle bisher veröffentlichten Episoden, darunter meine Interviews mit dem Buchautoren Pierre Stutz, dem "Letzte Lieder"-Macher Stefan Weiller und dem Trauer-Chat-Moderator und Ex-Spielsüchtigen Kai Sender....

----------------------------------------------------------------------------------------------------

Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


Donnerstag, 5. Dezember 2019

Ein alter Mann, der in einem Raben seine gestorbene Schwester wiederentdeckte und andere traurige Geschichten - Wenn Töne und Texte die Seele ins Schwingen bringen, Teil #03: Serie über Trauer und Musik - die besten Songs und Alben über Trauer und Tod #3

Osnabrück - Menschen, die einen anderen Menschen verloren haben, tun manchmal Dinge, von denen sie sich vorher nie hätten vorstellen können, dass sie sie tun. Dass sie mit ihren Toten in einen Dialog treten und mit ihnen reden, kommt relativ oft vor. Manche Trauernde berichten aber auch davon, dass sie sich wie in einer Art Zwischenreich fühlen. Ob sie dort auch sowas wie Geister sehen? Mit dieser Idee beschäftigt sich jedenfalls das Rockalbum "The Raven That Refused To Sing" des Musikers Steven Wilson, der nicht nur in Musikkreisen als eine Art Überfigur des modernen Progressive Rocks gehandelt wird. Tod und Trauer sind zentrale Motive seiner Arbeit. Anlass genug, seine Werke zum Thema meiner Serie über Trauer und Musik zu machen.

Wenn ein Mensch in eine Extremsituation gerät, die seinen Verstand ebenso überfordert wie das gesamte menschliche System, können sich die Grenzen zwischen Realität und Fantasiewelt schnell auflösen. Auch der Tod eines einem nahenstehenden Menschen oder einfach nur der Tod als Ereignis an sich kann eine solche Extremsituation auslösen. Sein Vater war gerade gestorben, als er mit dem Album "The Raven That Refused To Sing" beschäftigt war, so berichtete es Steven Wilson der Frankfurter Rundschau in einem Interview aus dem Jahr 2017. Unter anderem deswegen habe er sich mit der Frage beschäftigt, was die massive Sehnsucht nach einem gestorbenen Menschen alles auslösen könnte. Und dass es vorkommen könnte, dass einem - zumindest in der Phantasie - Geistwesen und Fabelwesen begegnen. Dass ausgerechnet der Rabe zur Titelfigur des Albums geworden ist, ist da ein naheliegender Schritt: Raben gelten prinzipiell als Todesboten. Und der britische Dichter Edgar Alan Poe ist auch nie weit entfernt, wenn es um (Song-) Texte über Raben geht. Sicher kein Zufall. 


Eine gute Kombination: Trauer und Musik (alle Fotos: Thomas Achenbach).


Ein alter Mann, der in einem Raben seine verstorbene Schwester zu entdecken glaubt. Ein Straßenmusiker, der eigentlich längst gestorben ist, bloß dass es keiner merkt. Ein Uhrmacher, der nach Jahrzehnten der Ehe seine Frau ermordet, bloß dass sie ihm auch danach nicht von der Seite weichen will. Das sind drei der insgesamt fünf Geschichten, die das Album unter anderem erzählt. Wobei sich Steven Wilson zur musikalischen Vertonung dieser Stoffe eines breiten Spektrums an Einflüssen und Stilmitteln bedient. Das Ergebnis ist eine sehr spannende Mischung aus Pop, Rock, Jazz und gelegentlichen Metal-Würzungen. Wer sich also noch nicht allzu intensiv mit dem Genre des Progressive Rocks beschäftigt hat - und wem die hier als Übervorbild immer durchwirkende Rockband "King Crimson" nichts sagt -, dem sei dringend empfohlen, das Album in einer anderen Reihenfolge zu hören als so, wie die Titel hier angeordnet sind. Jedenfalls nicht mit dem zu Beginn stehenden "Luminol" als ersten Track, denn dessen frickeligere Jazz-Anmutungen sind schon die Sorte Musik, in die man sich ein bisschen reinhören muss. Da ist ein bisschen Mitarbeit beim Zuhörer gefordert. Anders als bei dem ebenso eingängigen wie intensiven "Drive Home". 



Wobei die Geschichte, die dieser fast romantisch-melancholische Song erzählt, erstmal schwer zu knacken ist - und wie es sich für einen richtig guten Song gehört, ist sein Text durchaus offen für Interpretationen und ließe mehrere Deutungsmöglichkeiten zu, so dass letztlich viele Hörer an irgendeiner Stelle andocken und sich etwas für sich rausziehen können. Doch hat Steven Wilson selbst in einem Interview beschrieben, wie der Song gemeint ist: Er beschreibt den Zustand eines schweren Traumas nach einem Unfall, eines Traumas, bei dem die brutale und monströse Realität des Erlebten durch seelische Schutzmechanismen automatisch weggeblockt, abgespalten und schlicht nicht wahrgenommen wird.


Worum es wirklich geht: Ein Trauma nach dem Autounfall


In manchen Textfragmenten dieses Lieds wird klar, dass es offenbar einen Unfall gegeben haben muss, bei dem sich ein Auto überschlagen hat. Dabei muss wohl die Frau tödlich verunglückt sein, der Mann hingegen hat den Unfall überlebt. Und nun trägt er über die kommenden Jahre schwer daran, überhaupt zu verstehen, was geschehen ist und es kommt ihm meistens so vor, als sei er immer noch im Auto und einfach nur auf dem Weg nach Hause - und die Frau, die gerade noch neben ihm gesessen hat, ist einfach verschwunden. Ohne dass das Auto gehalten hätte oder die Türen auf- oder zugegangen wären. So in etwa ließe sich der Text verstehen. Verpackt in eine einen hinwegspülende Musik, wird ein kleines Erlebnis aus dem Song.




Ebenso wie bei dem von tiefer Traurigkeit vollgesogenen Titeltrack "The Raven That Refused To Sing", ein sich auf fast acht Minuten ausdehnendes Stück mit wachsendem Pathos, das nach dem Anhören noch lange im Kopf bleibt (beim zuletzt erlebten Konzert von Steven Wilson in Hamburg bildete es den kongenialen Abschluss). Das Erstaunlichste aber ist, wie sehr es Wilson hier gelingt, Gefühle in Musik zu übersetzen: Diese knapp acht Minuten sind vertonte Gram und Einsamkeit, sicher keine besonders geeignete Musik für nebelgraue Novembertristesse, manchmal schwer zu ertragen - aber gerade deswegen so wertvoll. Denn so, wie diese Musik klingt, kann es den Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise manchmal gehen, so kann sich das anfühlen. Und wer das noch nie erlebt hat, versteht nach dem Hören dieses Songs vielleicht ein bisschen besser, wie das so ist. 


Die besten Songs & Alben über Trauer und Tod - die ganze Serie:


  1. Folge 1 - Auftakt mit Mumford & Sons, Genesis, Eric Clapton - hier klicken
  2. Folge 2 - Auf dem Rücksitz, mitten in der Trauer, Arcade Fire - hier klicken 
  3. Folge 3 - Ein alter Mann, der in einem Raben die gestorbene Schwester entdeckt

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Über diese Serie: Musik ist meine größte Leidenschaft. Die Trauerbegleitung ist eine meiner Professionen und eine meiner Tätigkeiten. Beide Themen zu vermischen, das habe ich schon lange vorgehabt. Jetzt ist eine gute Zeit dafür. Denn in den vergangenen Jahren habe ich emsig gesammelt: Ganz viel Musik über Trauer und Schmerz. Songs, Alben, Orchesterwerke; dazu ganz viele Geschichten, die sich in diesen Tönen und Texten verstecken. Seine eigene Trauer über Musik kreativ auszudrücken, das hat für Komponisten Tradition - überwiegend für männliche Komponisten, übrigens, aber dazu ein andermal mehr. Manchmal führt ein einziger Tod sogar zu mehreren Songs darüber. 

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------