Montag, 15. August 2022

Ein ehrlicher Bericht über die Trauer nach einem Suizid: "In meinem Mann muss es unvorstellbar dunkel gewesen sein" - Svenja Gropper über die Jahre nach dem Tod ihres Mannes und ihren Weg zur Trauerbegleiterin

Osnabrück - Wie war das noch, am ersten Todestag? Von mir gefragt, was sie an diesem Tag gemacht hat, kann sich Svenja Gropper gar nicht mehr so genau erinnern. Ist das schlimm? Nein. Denn dass diese Gedächtnislücken zu ihrem Trauerprozess dazugehören - wie bei anderen auch -, zeigt sich im weiteren Verlauf unseres Gesprächs. Eines Gesprächs über die Trauer nach einem Suizid, das es jetzt in meinem Podcast als neue Episode zu hören gibt (hier geht es direkt zu der Podcastfolge).

Svenja Gropper ist heute als Trauerbegleiterin nicht nur im Allgäu aktiv sowie als Bloggerin und als Host eines eigenen Podcasts, sondern auch über die digitalen Medien verfügbar. Als sich vor einigen Jahren ihr Mann das Leben nahm, war das Thema Trauer für sie noch vergleichsweise weit entfernt. Zwar wusste sie, dass ihr Mann eine Krankheit hatte - die Svenja Gropper gerne als "Seelenkrebs" bezeichnet -, aber natürlich war da die Hoffnung, dass es eine Besserung geben könnte. "Es muss unvorstellbar dunkel gewesen sein in meinem Mann", diesen prägenden Satz sagt sie unter anderem in unserem Gespräch über den Suizid ihres Mannes. Was dieses Gespräch für mich so besonders gemacht hat, waren die zwei Ebenen, auf denen es stattfindet.

Warum es besser "Schuldgedanken" heißen sollte

So bleiben wir überwiegend bei Svenjas persönlichem Erleben, bei ihrer eigenen Trauer nach dem Suizid ihres Mannes und bei der Frage, wie sich diese über die Jahre gewandelt hat. Und andererseits heben wir das Gespräch immer mal wieder auch auf die kollegiale Metaebene, indem wir die Trauer nach einem Suizid als Phänomen besprechen und alles, was dazugehören kann. Warum Schuldgefühle so wichtig sein können, um in Verbindung zu bleiben mit dem gestorbenen Menschen, beispielswiese. Warum es sinnvoller sein kann, dem Vorschlag der Trauerbegleiterin Chris Paul zu folgen und von "Schulgedanken" statt von "Schuldgefühlen zu sprechen". Und warum das zweite Trauerjahr fast noch härter war als das erste.


Svenja Gropper ist als Trauerbegleiterin aktiv und bietet ebenfalls einen eigenen Podcast mit vielen spannenden Themen an (Foto: Gropper).


"Ich würde gar nicht sagen dass es im zweiten Jahr so viel einfacher und besser war", sagt Svenja in unserem Gespräch. Stattdessen ist es "auf eine andere Art schwieriger". Außerdem berichtet Svenja darüber, warum sie ohne genaue Kenntnis der Umstände trotzdem ganz genau hat erspüren können, wie ihr Mann sich das Leben genommen hat, wie sich anfühlt, wenn der Leichnam erstmal beschlagnahmt werden muss, warum diejenigen, die wirklich von dieser Welt gehen wollen, sich vermutlich gar nicht aufhalten lassen und warum sie noch die Reise nach Island gemacht hat, von der ihr Mann oft gesprochen hatte. Unser Gespräch über Svenjas Trauer und die Trauer nach einem Suizid allgemein füllt die zehnte Episode meines Podcasts "Trauergeschichten - Menschgeschichten" und ist unter diesem Link direkt erreichbar über die Plattform podcast.de (auch über Spotify erreichbar, einfach unter Podcasts nach den Trauergeschichten - Menschgeschichten suchen). 

Übrigens bietet auch Svenja selbst einen Podcast an, in dem ich dann im Gegenzug zum Thema Männer und Trauer zu Gast sein durfte, worüber ich mich sehr gefreut habe. Dieses Gespräch soll ebenfalls in Kürze veröffentlich werden (Link folgt)


----------------------------------------------------------------------------------------

Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-------------------------------------------------------------------------------------------

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: 27 gute Rituale für eine Trauerfeier - wie sich eine Gedenkfeier so gestalten lässt, das sie den Angehörigen/Trauenden gut tun kann

Ebenfalls auf diesem Blog: Ist Trauerbegleitung ein echter Beruf? Kann man von Trauerbegleitung leben? Und wie werde ich überhaupt Trauerbegleiter?  

Ebenfalls auf diesem Blog: Macht es die Hinterbliebenen nicht noch trauriger, wenn wir sie auf ihren Verlust ansprechen? - Impulse bei großer Unsicherheit 

Ebenfalls auf diesem Blog: Das Trauer-Zitat des Monats - jeden Monat neue berührende Sätze aus Zeitungen, Zeitschriften oder der Literatur 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum die Formulierung "Mein Beileid" immer noch das Beste ist, was Du einem Menschen mit einem Verlust sagen kannst

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie lange darf Trauer dauern? Ist es normal, wenn es jahrelang weh tut? Und ab wann wird trauern krankhaft?

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

------------------------------------------------------------------------------------------


Sonntag, 7. August 2022

"Er hätte so gerne noch gelebt..." - und was hat er vom Leben gehabt? Wie Du erkennen kannst, ob Dein Leben gerade auf den richtigen Bahnen läuft - Impulse und Gedankenanstöße zum "Memento Mori"-Tag (jeweils am 8. August) - Lebenstipps aus der Trauerbegleitung

Osnabrück - Es sind zwei große Todesanzeigen und sie stehen direkt untereinander. Die untere, geschaltet von der Firma, rühmt die Loyalität und Verbindlichkeit des gestorbenen 63-Jährigen, seine stete Treue zum Unternehmen, seine unermüdliche Einsatzbereitschaft. Der oberen der beiden, geschaltet von der Familie, reichen zwei Sätze, um die ganze Tiefe der Bestürzung hineinzulegen: "Er hätte so gerne noch gelebt - wir hätten so gerne noch Zeit mit ihm gehabt". Das Spannungsfeld, dass zwischen diesen beiden Anzeigen liegt, ist gewaltig – und so facettenreich wie das Leben. Und heute, während ich diese Zeilen schreibe, ist der perfekte Tag um sich das bewusst zu machen. Und um sich alle Fragen einmal selbst zu stellen, die damit einhergehen. Angenommen, in wenigen Tagen wäre es Deine eigene Todesanzeige, die in der Zeitung stehen müsste: Ist Dein Leben gerade auf dem richtigen Kurs? Hast Du die richtigen Akzente gesetzt? Könntest Du "gut gehen", auch von heute auf morgen? 

Schreib Dir einen Zettel und lege ihn neben Dein Bett. Und wenn Du morgen früh aufwachst, wenn Du Dich streckst und räkelst, vielleicht noch mit dieser wohligen Mischung aus Geborgenheit und Restmüdigkeit in Dir, wirf einen Blick auf diesen Zettel. Was auf ihm draufstehen sollte? Vier Wörter: "Es ist nicht selbstverständlich." Denn das ist es nicht. Dass Du wachgeworden bist, wieder; dass Du atmest, weiter; dass Du weiterhin weißt, wer Du bist; dass Dein Herz schlägt, weiterhin. Nichts davon ist selbstverständlich. Das ist ebenso eine Binsenweisheit wie die tiefste und wichtigste Wahrheit, die wir verinnerlichen können (und sollten). Vielleicht die einzige Wahrheit, die es braucht: 

Nichts im Leben ist  selbstverständlich. Gar nichts.


(Alle Fotos: Thomas Achenbach)
 

Ich habe so oft in meiner Tätigkeit als Trauerbegleiter (und ganz generell in meinem Leben als Mensch auf dieser Welt) mit Fällen zu tun gehabt, die das Gegenteil gezeigt haben. Das 10-jährige Mädchen, gestern kerngesund, das morgens tot im Bett lag, keiner weiß warum (bis heute nicht). Der 35-Jährige, der an Heiligabend nachmittags plötzlich einen Herzschlag erlitt, während der Rest der Familie in der Kirche war - auf der Stelle tot. Die Mittzwanzigerin, die plötzlich keinen Handy- oder Mailkontakt mehr zu ihrer Schwester bekam, weil diese - von ihrem eifersüchtigen Freund erdrosselt - tot in einem Fluss lag. Der mittelständische Geschäftsführer, vermutlich Anfang 60, wenn überhaupt, bei dem eine OP schieflief, die als "Routine" bezeichnet worden war. Die Kinder, die im Mutterleib gestorben waren, all die stillen Geburten, bei denen kein Schrei am Ende eine Erlösung bringt. All die vielen, vielen, vielen SuizideUnd, und, und.... 

Oder noch vor kurzem, dieser Fall, von dem ich oben erzähle, der mit den beiden Todesanzeigen. Auch einer, den ich kannte.

Du auch. Erst irgendwann? Morgen früh? In zwei Tagen? Noch nie darüber nachgedacht? Vielleicht wäre es mal an der Zeit. Und zwar: Genau heute, genau jetzt. "Gedanken an den Tod und das Sterben werden in unserer Gesellschaft oft verdrängt. Wir reden zu wenig über unsere Wünsche, Ängste und Sorgen in Hinblick auf das Lebensende", so schreibt es die Initiative "Memento-Tag" in einer Mitteilung. Und deswegen soll jeweils am 8. August eines Jahres allen Menschen ihre Endlichkeit ins Bewusstsein gerufen werden. Oder wie es die Initiatorin Iris Willecke aus dem Sauerland formuliert: "Meiner Meinung nach ist es an der Zeit, Themen wie Endlichkeit, Tod, Sterben und Trauer wieder etwas mehr ins gesellschaftliche Bewusstein zu holen". Also, nochmal, liebe Leserin, lieber Leser: Auch Du wirst sterben. Jedes Ausamten - nach dem Einatmen - bringt Dich wieder ein klitzekleines Stückchen näher heran an Deinen eigenen Tod. Bist Du auf einem guten Weg? 



So zu leben, dass man jederzeit gut sterben könnte, das ist vermutlich ein Ding der Unmöglichkeit. Der Mann, der oben beschrieben wird, hat sein Leben ganz klaren Prioritäten unterworfen: Das Unternehmen kam zuerst. Aber weil jede Entscheidung für etwas immer eine Entscheidung gegen etwas anderes ist - ganz zwangsläufig -, stecken so viele verschiedene unterschiedliche Wertekonzepte und Lebensentwürfe in dem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Todesanzeigen. Und wer kann das schon, in unserem modernen Leben alle seine Prioritäten stets perfekt ausbalanciert zu halten, so dass nichts verloren geht? Wer kann schon allen und allem gerecht werden im Leben? Selbst, wenn wir unser Bestes tun, irgendwas bleibt immer auf der Strecke. Einfach nur, weil wir eben Menschen sind - und keine Übermenschen sein können. 

Und doch bleibt manches Mal, wenn wir von einem Todesfall hören, einem solchen wie oben, so eine leise Irritation zurück - nach dem Schock und dem Entsetzen. So eine leise Unruhe, ein ungutes Gefühl. Die Frage: Ist mein Leben auf dem richtigen Kurs? Aber wie lässt sich das erkennen?

 


Vielleicht am besten durch eine recht radikale Übung, die aus der Persönlichkeitsentwicklung stammt und in Coachings gerne empfohlen wird: Stell Dir vor, Du wärest jetzt gestorben und hättest die Chance, irgendwie bei Deiner eigenen Trauerfeier zugegen sein zu können. Stell Dir vor, es würden ein enger Freund, ein Kollege von der Arbeit und ein entfernter Bekannter etwas über Dich sagen. Was würde wohl in diesen Trauerreden alles über Dich gesagt werden? Und was nicht? Wären es jeweils freundliche Trauerreden? Oder welche, die sich um Lücken und Leerstellen herumwinden müssen? Oder in denen zarte Andeutungen auf etwas verweisen, das gerade schwierig ist? Setz Dich hin und schreib die von anderen gehaltenen Trauerreden auf Dein jetziges Ich. Durch diesen Perspektivwechsel - sich selbst mit anderen Augen sehen in der Radikalität eines Abschieds -, hast Du eine Chance, Dich kritisch zu durchleuchten. Deinen Werten auf die Spur zu kommen.  

Was willst Du einmal hinterlassen? Ist Dein Leben schon geprägt davon? Was ist der rote Faden Deines Lebens? Was ist für Dich wesentlich? Es lohnt sich, gelegentlich darüber nachzudenken.

Jeder Tag ist ein guter Tag dafür. Ein Tag im Jahr ist ein beonders guter Tag dafür: Der 8. 8. - am "Memento-Tag". Dieser soll, der Philosophie des "Memento Mori" folgend (Bedenke, dass Du sterblich bist), die Menschen an ihre eigene Vergänglichkeit erinnern. Also: An ihren eigenen Tod, der ja unweigerlich einmal folgen wird. Vorbild dafür ist der australische "Dying To Know Day", der bereits seit 2013 einmal im Jahr begangen wird. Wobei die Zahl Acht hier als aufrecht stehendes Symbol der Unendlichkeit zu verstehen ist und der Tag nicht nur als Impulsgeber dienen soll für ein Nachdenken über das eigene Leben, sondern auch für allerlei Aktionen in ganz Deutschland (und für diesen Blogbeitrag). 




Im Zenbuddhismus gibt es eine Weisheit, die - sinngemäß - besagt: Wir atmen das Leben ein - und den Tod aus. 

Hast Du bis zum Ende dieses Textes durchgehalten? Wie oft, was glaubst Du, hast Du ein- und ausgeatmet, während Du ihn gelesen hast? Die Medizin geht davon aus, dass ein erwachsener Mensch pro Minute im Durchschnitt 16 Atemzüge nimmt. Sagen wir, Du hast fünf Minuten lang gelesen, macht das 80 Atemzüge. Atmen, das ist vielleicht das Einzige, das wir wirklich jemals besitzen können im Leben. Auch das ist, wie alles, nicht selbstverständlich. Und jeder Atemzug, den wir tun, bringt uns wieder ein Stück näher heran an unseren eigenen Tod. 80 mal näher bist Du jetzt herangerobbt an diesen Augenblick.  

Wir atmen das Leben ein - und den Tod aus. An dieser Stelle brauchen wir noch eine Tonspur zum Text: Den Klang eines Herzfrequenzmessers. Du kennst den, aus Fernsehserien. Er malt Kurven und macht "Piep - piep - piep". Wenn es gut läuft. 

Ein. "Piep... -  piep...  - piep.. ". Und aus.

Ein. "Piep... -  piep...  - piep.. ". 

Aus

Piiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee.........
.
So gerne noch gelebt? 

Zu spät

.... 

----------------------------------------------------------------------------------------

Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-------------------------------------------------------------------------------------------

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: 27 gute Rituale für eine Trauerfeier - wie sich eine Gedenkfeier so gestalten lässt, das sie den Angehörigen/Trauenden gut tun kann

Ebenfalls auf diesem Blog: Ist Trauerbegleitung ein echter Beruf? Kann man von Trauerbegleitung leben? Und wie werde ich überhaupt Trauerbegleiter?  

Ebenfalls auf diesem Blog: Macht es die Hinterbliebenen nicht noch trauriger, wenn wir sie auf ihren Verlust ansprechen? - Impulse bei großer Unsicherheit 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum die Formulierung "Mein Beileid" immer noch das Beste ist, was Du einem Menschen mit einem Verlust sagen kannst

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie lange darf Trauer dauern? Ist es normal, wenn es jahrelang weh tut? Und ab wann wird trauern krankhaft?

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatter bewegen - Plädoyer für eine moderne Bestattungskultur, Beispiele für zeitgemäße Rituale

------------------------------------------------------------------------------------------


Montag, 1. August 2022

Warum ich die Frage nach Trauer als Krankheit inzwischen anders beurteile als noch vor wenigen Jahren - was sich seit Januar 2022 für Ärzte und Trauernde verändert hat - der neue Code, um den es geht, heißt "6B42" (Anhaltende Trauerstörung) - warum Trauernde manchmal als "krank" gelten wollen, salopp formuliert

Osnabrück - Seit Anfang 2022 ist also Realität, was vielen Fachleuten lange Zeit ein Dorn im Auge war, ja, was teilweise sogar mit einem großen Eifer regelrecht verteufelt wurde. Überspitzt formuliert: Trauer ist jetzt offiziell als "Krankheit" anerkannt. Auch ich habe lange Zeit gegen diese Einführung argumentiert - und habe dann immer wieder feststellen müssen, dass viele Menschen meinen Standpunkt gar nicht verstanden haben - oder ihn fundamental anders gesehen haben. Und zwar vor allem Trauernde. Das hat mich nachdenklich gemacht. Inzwischen glaube ich: Vielleicht sollten wir das Thema "Trauer als Krankheit" einmal aus einer anderen Perspektive beleuchten und nochmal drüber nachdenken.

Das Folgende ist mir öfter passiert, wenn es um die Frage nach Trauer als Krankheit ging: Ich habe viel erzählt. Viel argumentiert. Habe gesagt, dass Trauer nicht als Krankheit gesehen werden dürfte, dass es eine ganz natürliche Reaktion ist. Und danach habe ich oft in ratlose Augen geguckt. Denn der Standpunkt der Betroffenen lautete, manches Mal, trotz allem: Wieso darf Trauer denn keine Krankheit sein, wieso darf ich denn bitte nicht wegen Trauer als krank(-geschrieben) gelten - wir fänden das durchaus begrüßenswert? Und wieso nicht sofort, wieso denn erst nach mehreren Monaten? Hmmja... Das hat mich nachdenklich gemacht. Aber gucken wir uns zunächst mal etwas Anderes an: Was hat sich denn überhaupt verändert? Denn um zu verstehen, worum es hier wirklich geht - und was das alles zudem mit Computerspielsucht zu tun hat - müssen wir ein bisschen weiter ausholen...


(Alle Fotos: Thomas Achenbach)

Seit dem 1. Januar 2022 gilt in deutschen Arztpraxen ein neues Regelwerk, nämlich der "ICD 11". Dabei handelt es sich um ein Verzeichnis aller Krankheiten, sozusagen. Herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation WHO und in regelmäßigen Abständen überarbeitet, lassen sich in diesem Katalog die international geltenden Klassifikationen aller derzeit bekannter Krankheiten finden, ausgedrückt in Zahlencodes. Mit denen hatte jeder von uns schon einmal zu tun: Denn die Codes, die in der ICD geregelt sind, werden auf den so genannten gelben Schein aufgedruckt. Die Abkürzung ICD steht für "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems", es handelt sich also um einen weltweit genormten Standard. Jetzt ist eine Neuauflage davon in Kraft getreten.

Ebenfalls neu ist die "Computerspielsucht" 

Hintergrund sind neue oder sich verändernde Krankheitsbilder, die in der Neuauflage mit aufgenommen worden sind. So lassen sich in der ICD-11 beispielsweise die bislang nicht als Krankheit anerkannte "Computerspielsucht" (6C50.0) oder eine "zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung" (6C72) finden, gleichermaßen gibt es jetzt genauere Abstufungen beim Burn-Out-Syndrom. Auch für Trauer gab es bislang keinen eigenen Diagnoseschlüssel, was sich mit der Neueinführung geändert hat.



Wobei es dabei nicht um Trauer allgemein gilt, sondern genauer gesagt um die so genannte verkomplizierte Trauer, die auch als "Anhaltende Trauerstörung" definiert wird (6b42). Wenn ein Arzt diese Diagnose stellt, kann sich ein Betroffener zu einem Psychologen und in eine Therapie überweisen lassen (und leider noch nicht zu einem Trauerbegleiter - weil noch nicht von Krankenkassen anerkennt). Aber: Ab wann hat sich eine Trauer zu einer "verkomplizierten Trauer" gewandelt? Im ICD steht dazu, knapp zusammengefasst: Immer dann, wenn ein Mensch länger als sechs Monate unter sehr heftigen durch die Trauer verursachten Symptomen leidet. Dazu kann gehören: Eine enorme Sehnsucht nach den Verstorbenen, Anzeichen von anhaltenden Konzentrationsschwächen, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, etc. Als Leitfaden gilt die Unfähigkeit, wieder in einen geregelten Alltag zurückzukehren. 

 
Sechs Monate sind nicht lang genug


Hier sagen die meisten Fachleute, so auch ich (auch weiterhin): Das ist zu früh. Auch wenn unbestritten ist, dass sich Trauer verkomplizieren kann und dass diese so genannten prolongierte Trauer besser professionell angesehen und besprochen werden sollte, reichen sechs Monate als Zeitraum für eine solide Diagnose nicht aus. Aus zwei Gründen. 




Erstens, weil das wichtige "erste Jahr" nach dem Todesfall noch gar nicht abgelaufen ist. Dabei sind genau diese ersten zwölf Monate nach dem Tod eines Menschen für die Hinterbliebenen von einer besonderen Bedeutung. Sind sie doch gefüllt mit zahlreichen "ersten Malen", für die es jeweils noch keine Lernerfahrungen gibt: das erste Mal Todestag, das erste Mal Geburtstag der verstorbenen Person(en), das erste Mal Weihnachten, etc. Und zweitens, weil sehr viele Trauernde davon berichten, dass sich erst im zweiten Jahr, also nach wenigstens zwölf Monaten (und mehr), erste merkliche Veränderungen bei ihnen eingestellt hätten. Bei manchen mehr, bei manchen weniger. Überhaupt müssen wir an dieser Stelle mit Pauschalisierungen sehr vorsichtig sein. Denn die Grundlage ist immer: Es gibt nicht die eine Trauer, die immer gleich verläuft - Trauer ist ein hochindividueller Prozess. Anders gesagt: Es gibt nur Deine Trauer, Deinen Weg. Jeder muss seinen eigenen gehen. 
  

Menschen wollen die Bestätigung: Ausnahmezustand!


Ein weiterer Grund, warum es soviel Empörung über die Frage nach "Trauer als Krankheit" gegeben hat: Weil die meisten Trauerbegleiter ebenso wie die in der Hospiz- und Palliativszene engagierten Menschen davon überzeugt sind, dass Trauer ein ganz normaler, ganz natürlicher und keinesfalls krankhafter Prozess ist. Schon gar nicht sollte Trauer eine "Störung" gewertet werden. Dieser Meinung hatte ich mich lange vollumfänglich angeschlossen. Aber ich bin damit nicht zu den Menschen durchgedrungen, die mitten in diesen Prozessen stecken. Denn in deren Erleben drehte sich die Argumentation wieder um: Eben weil sie ihre Trauer über weite Strecken als zu stark erlebten, als unaushaltbar, eben weil die Trauer sie in ihrem natürlichen Sein behinderte, erlebten sie das gerade als enorm belastend - und damit durchaus als störend. Gleichzeitig handelt es sich um ein Leiden, das von den Wenigsten wirklich gesehen wird, geschweige denn anerkannt, zumal über einen so langen Zeitraum wie ein Jahr und mehr. Auch das stört. Und genau deswegen wünschen sich die Menschen oft, die Trauer möge bitte ein Siegel bekommen, eine offizielle Legitimation, ein Amtsschreiben, das allen anderen dokumentiert: Jawohl, haben wir geprüft; ist vorhanden; ist sehr belastend, diesen Menschen geht es tatsächlich eher schlecht, Stempel drauf, können wir bestätigen.




Folgen wir einmal dieser Logik, stößt die bislang versuchte Gegenargumentation - nein, Du bist nicht krank, nein, Trauer ist niemals eine Krankheit - unter Umständen in genau das falsche Horn, weil sie den oben beschriebenen Wirkmechanismus wieder entkräften könnte.  Und so gesehen müsste man nochmal ganz neu denken: Warum gibt es keinen ICD-Code für durch Trauer verursachte Erstsymptome, die sofort gelten, wenige Tage nach dem Todestag bzw. dem Auslöser für die Trauer? Warum können sich Menschen nicht binnen der ersten drei Monate offiziell als durch Trauer arbeitsunfähig einordnen lassen? Wäre das nicht der viel richtigere Schritt? Müssten wir alle aus dem Kontext von Trauerbegleitung, Hospiz- und Palliativbewegung, die wir dies bislang so eingeordnet haben, ggf. ebenfalls nochmal neu denken?

WHO, wir haben da vermutlich ein Problem. #ICD12, könnten wir schon mal reden, wir beiden....? Also so ganz unter uns...? 

----------------------------------------------------------------------------------------

Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-------------------------------------------------------------------------------------------

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: 27 gute Rituale für eine Trauerfeier - wie sich eine Gedenkfeier so gestalten lässt, das sie den Angehörigen/Trauenden gut tun kann

Ebenfalls auf diesem Blog: Ist Trauerbegleitung ein echter Beruf? Kann man von Trauerbegleitung leben? Und wie werde ich überhaupt Trauerbegleiter?  

Ebenfalls auf diesem Blog: Macht es die Hinterbliebenen nicht noch trauriger, wenn wir sie auf ihren Verlust ansprechen? - Impulse bei großer Unsicherheit 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum die Formulierung "Mein Beileid" immer noch das Beste ist, was Du einem Menschen mit einem Verlust sagen kannst

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie lange darf Trauer dauern? Ist es normal, wenn es jahrelang weh tut? Und ab wann wird trauern krankhaft?

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

------------------------------------------------------------------------------------------