Osnabrück - Irgendwann in der Coronazeit, irgendwann im zweiten oder dritten Lockdown, hatte ich einen Durchhänger. Zuerst war da nur eine unbändige Wut, ein paar Tage lang, doch dann gesellte sich die Melancholie dazu und überlagerte alles. Immer lähmender das Gefühl der Ohnmacht wegen des Eingesperrtseins im Dauer-"Home"-Zustand, ohne Aussicht auf Veränderungen, das kratzte an meiner Motivation und an der Lebensfreude. Die Akkus waren leer, die inneren Ressourcen aufgebraucht. Der Blues klopfte an die Tür - und mit ihm die Frage, ob in all dieser lähmenden Müdigkeit nicht auch mal der Lebens-Wert verloren geht. Dann habe ich etwas getan, was ich lange nicht mehr gemacht hatte: Ich habe fotografiert - und geschrieben. Nicht etwa, weil mir das Ergebnis wichtig war. Sondern das Tun. Ich hatte mich an das erinnert, was ich in Vorträgen und Trauerbegleitungen gerne anderen Menschen erzähle. Die Sache mit der Selbstwirksamkeit.
Wenn ich über Trauer und Hilflosigkeit spreche, erzähle ich gerne eine Geschichte, die sich auch in meinem Buch "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" finden lässt. Es ist die Geschichte des Witwers, der kurz nach dem Tod seiner Frau damit anfängt, Buddelschiffe zu basteln. Was seine Freunde und Verwandte sehr befremdet. Wieso ein Mann, der eigentlich in Trauer sein sollte, nun plötzlich ein so merkwürdiges Hobby wie das Basteln von Buddelschiffen pflegt, noch dazu mit großem Enthusiasmus und dem Hingegebensein an das Tun, können sie nicht wirklich verstehen. Kopfschüttelnd erklären sie den Mann für vorübergehend nicht ganz bei Verstand. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Denn der psychologische Mechanismus, der sich hier zeigt, ist im Grunde sehr einfach zu entschlüsseln:
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Drinnensein. Rausgucken. Krise. (Alle Fotos: Thomas Achenbach). |
Um dem unerträglichen Gefühl der Ohnmacht entgegenzuwirken, suchen wir uns eine Tätigkeit, in der wir uns als wirksam erleben können. Da reicht schon eine ganz kleine Tätigkeit - es geht nicht darum, ein Haus zu bauen. Vielmehr geht es darum, einen ganz kleinen Bereich seines eigenen Lebens wieder als kontrollierbar erleben zu können. Es geht darum, all der Ohnmacht, der wir uns ausgeliefert sehen, etwas entgegenzustellen. Es geht darum, dass wir uns selbst wieder als ein klitzekleines bisschen wirkmächtig erleben können, auch nur im Kleinen - es geht genau um diese Selbst-Wirksam-Keit. Es kann hilfreich sein, dieses Wort in all diese einzelnen Bestandteile zu zerteilen. Wir selbst schaffen es, dass wir uns als wirksam erleben. Man könnte auch sagen: Wir ziehen uns mit den Haaren ein kleines Stück hinaus aus dem Sumpf. Also dem emotionalen Gefühlssumpf, in dem wir gerade feststecken. Jedenfalls für einen kurzen, wohltuenden Augenblick.
Sogar Staubsaugen hilft gegen die Düsternis
Notfallseelsorger arbeiten nach genau diesem Prinzip: Beim Überbringen einer Todesnachricht achten sie mit sehr feinen Antennen auf alles, was der Empfänger dieser Botschaft so tut. Was sie dabei alles Bizarres erleben, war schon öfter Gegenstand von Vorträgen auf der Messe "Leben und Tod". So kann es zum Beispiel geschehen, dass eine Frau, die vor einigen Minuten vom Tod ihres Sohnes erfahren hat, plötzlich mit dem Staubsaugen beginnt. Eine Reaktion, die für Außenstehende zunächst einmal genauso befremdlich wirkt wie das Basteln von Buddelschiffen nach dem Tod der Ehefrau - doch zeigt sich hier wieder das psychologische Wirkprinzip der Selbstwirksamkeit. Wer staubsaugt, der reinigt seine Wohnung. Wer staubsaugt, der kann etwas tun. Etwas, das einen erkennbaren Nutzen bringt. Wer etwas tun kann, was auch immer, der muss nicht gelähmt von der Ohnmacht auf dem Boden liegenbleiben, wenigstens einen wertvollen Moment lang. Geschieht also so etwas nach dem Überbringen einer Todesnachricht, weiß der Seelsorger, dass seine Aufgabe nun erledigt ist. Die Menschen wieder ein kleines Stück aus dem Schattenreich des Überfahrenseins hinauszuführen, die der erste Schock oft bedeutet, ist eine der wesentlichen Aufgaben in der Notfallseelsorge. Und jeder, der sich gerade jetzt in einer - wie auch immer gearteten - seelischen Notlage befindet, kann es selbst ausprobieren.
Also: Er (also der Mensch) kann etwas tun, das etwas bewirkt. Etwas ganz Kleines. Irgendwas. Staubsaugen. Die Wohnung putzen. Ein Bild malen. Etwas basteln. Etwas schreiben. Lego bauen. Ein Puzzle legen. Was auch immer. Hauptsache, es tut einem gut im Moment des Tuns, weil es als aktiv erlebt wird. Das ist gerade in der aktuellen Coronakrise besonders wichtig. Denn vermutlich haben viele Menschen, so wie ich, gerade die Nase voll vom ewigen Home-Alles: Home-Office. Home-Schooling. Home-Cooking. Home-Sleeping. Home-Cocooning. Home-Reading. Home-Drinking. Home-Netflixing. Home-Hocking. Home, Home, Home, so schön es dort auch ist, auf Dauer ist es einfach zuviel des Guten. Darf einem das so sehr auf die Nerven gehen? Streng genommen: Nein. Schon gar nicht, wenn man den unverschämten Luxus erleben darf, ein ganzes Haus in exponierter Lage bewohnen zu dürfen. So wie wir.
Kollektive Ohnmacht, und alle werkeln daheim
Aber selbst
in einem komfortablen Einfamilienhaus wie unserem kann es ein zu enges Miteinandersein geben, dessen Reibungen nichts darüber aussagen, ob man
sich in Wahrheit gern hat oder nicht. Selbst Menschen, die sich ungemein liebhaben,
brauchen ihr Eigenes und ihre Einsamkeiten, um ihre Beziehungen zueinander frisch zu halten. Schwierig, wenn alle so eng beieinander hocken. Wohltuend, wenn jeder zumindest seinen eigenen Hobbies nachgehen kann, soweit das im Inneren eines Hauses möglich ist. Wohltuend, wenn jeder bemüht ist, ganz für sich sein eigenes Tätigkeitsfeld für seine Selbstwirksamkeit zu finden. Damit hier kein falscher Eindruck entsteht - es ist wichtig zu betonen, dass dies kein Allheilmittel ist!
Und doch darf die Wirksamkeit dieses Tuns nicht unterschätzt werden. Das zeigen alleine schon die Erfahrungen aus dem ersten Lockdown im März 2020. Schon damals haben wir erleben können, wie eine ganze Gesellschaft vom Drang nach Selbstwirksamkeit erfasst worden ist - das erste Mal überhaupt für längere Zeit an ihr Zuhause gebunden, fingen die Menschen an, wie besessen etwas zu reparieren und auszumisten, den Garten oder den Balkon zu pflegen, ihr Daheim zu gestalten. Ein ganzes Land stemmte sich gegen diese neue Ohnmacht, die das Coronavirus mitgebracht hatte. Und ich habe wieder erfahren dürfen, dass es das Fotografieren ist, das mir am meisten hilft. Und das Schreiben. Und so ist also an den Tagen meiner persönlichen größten Trübnis dieser kleine Beitrag entstanden, der meiner Melancholie Raum geben und mich durch dieses Tun wieder aus dieser Stimmung herausheben sollte. Hat geklappt.
Letztlich ein Mechanismus, der auch in einer Trauerbegleitung als Wirkprinzip sichtbar werden kann.
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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke
Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden
Der Podcast von Thomas Achenbach: "Trauergeschichten - Menschgeschichten", Gespräche über Leben, Tod und Sterben, unter diesem Link
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