Donnerstag, 7. Januar 2021

Viel mehr als nur Kaffeetrinken nach einer Beerdigung: Warum der Leichenschmaus als Kulturgut unentbehrlich ist - und was ohne ihn alles wegbricht in diesen Coronazeiten, in denen wir auf so viel verzichten müssen

Osnabrück - Mit dem Ausbrechen der Pandemie hat sich heimlich, still und leise, jener allgemein übliche Dreiklang aus der Gesellschaft verabschiedet, den eine Beerdigung in unserem Kulturkreis üblicherweise darstellte: Trauerfeier, Bestattung und Leichenschmaus. Es ist vor allem der Leichenschmaus, dessen gesellschaftliche Wirkung nicht unterschätzt werden darf. Was mit ihm alles wegfällt, ist mehr als nur Kaffeetrinken. Für das Feuilleton der "Neuen Osnabrücker Zeitung" durfte ich jüngstens einen Beitrag zur Printserie "Orte der Sehnsucht" beisteuern, in dem es um dieses Thema ging. Hier ist eine leicht geänderte Fassung dieses Textes.

"Hoffentlich sehen wir uns auch mal außerhalb von Beerdigungen...“. Es hat eine Zeit gegeben, in der gehörte dieser Satz zum am meisten Gesagten und Gehörten bei einer Trauerfeier im Familien- oder Freundeskreis – und diese Zeit ist noch gar nicht so lange her. Mit dem Ausbrechen der Pandemie hat sich inzwischen, ganz heimlich, still und leise, jener allgemein übliche Dreiklang aus der Gesellschaft verabschiedet, den eine Beerdigung in unserem Kulturkreis üblicherweise darstellte: Trauerfeier, Bestattung und Leichenschmaus waren seine Kernkomponenten – wobei die Bestattung entweder als gemeinsamer Gang zum Grab direkt im Mittelteil absolviert wurde oder, bei der häufiger gewählten Urnenvariante, später nachgeholt wurde. 

Leichenschmaus als symbolischer Übergang

Mag uns der Friedhof als Kulturort auch in Zeiten der Coronakrise erhalten bleiben und mit seinem wenig überfüllten Außendasein als Ort des Nicht-Masken-Tragen-müssens eine gut besuchbare Alternative zum pandemischen Alltag darstellen: Es ist der Leichenschmaus, dessen Fehlen die größte kulturelle Lücke reißt. Denn dieses gemeinsame Mahl ist so viel mehr als eine nur gesellschaftliche Verpflichtung: Es ist ein symbolischer Übergang – und ein mehrfacher dazu. Aus der Zone des Schreckens und der Ohnmacht führt er zurück in den Trost der sozialen Gemeinschaft, nach der Zeit der Organisationspflichten und To-Do-Listen öffnet er die Türen für die Zeit der tatsächlichen Trauer, aus der Zone des Todes und des Sterbens führt er zurück in alles, was das Leben ausmacht, Essen, Trinken, Beisammensein, ja, nicht selten auch Fröhlichkeit und Sinnenfreude.

(Foto: Thomas Achenbach)

So gesehen ist der hierzulande gern genutzte Begriff des Leichenschmauses mit all seiner sprachlichen Härte viel passender als das andernorts gewählte „Trösterkaffee“: Erst die Leiche, dann der Schmaus; erst der Tod, dann das Leben; diesen Kontrast gilt es auszuhalten. Wie so vieles mehr. Es ist oftmals das letzte Wiedersehen eines Kreises, der so nie wieder zusammenkommen wird. In alten Zeiten war es die letzte erlaubte Feier vor dem Trauerjahr, das gleich am Anschluss begann. Viele Trauernde haben gerade diesen Trauerkaffee als besonders tröstend erlebt.  

Dem Tod das pralle Leben entgegenstellen

Noch bevor der Kaffee durch ist, wird bei einem Leichenschmaus oft schon der Zapfhahn aufgedreht. Dass am Ende eines Leichenschmauses oft eine überraschend hohe Menge an Alkohol geflossen ist und sich die Teilnehmer verbrüdernd in den Armen liegen – sogar das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ soll unpassenderweise schon einmal angestimmt worden sein, berichten professionelle Teilnehmer –, ist da gar kein Widerspruch, nein, vielmehr macht es eindrucksvoll deutlich, welchen gesellschaftskulturellen Auftrag so ein Leichenschmaus erfüllt: Einerseits geht es darum, einfach da zu sein und den Trauernden Respekt und Zugehörigkeit zu vermitteln. Aber auf einer anderen Ebene geht es darum, den Tod wieder in seine Bannzone des Schreckens zu verdrängen, indem man ihm gemeinsam das pralle Leben entgegenstellt. Ihm eine lange Nase zu drehen und in einer Art mythologischer Ächtung mutig entgegenzutreten: Den da in der Erde hast Du jetzt. Aber uns kriegst Du nicht. 

(Foto: Pixabay.com/Svetlanabar, Sweden, Cc-0-Lizenz)

Noch nicht.

Wenn dieser Übergang nun wegfällt, ja, in Viruszeiten berechtigterweise wegfallen muss (und das unbedingt „alternativlos“ – siehe oben unter „überraschend viel Alkohol“ etc.), dann fehlt ein wichtiger Mechanismus, der uns wieder in der Kraft des Lebens verankern kann, der unsere eigene Angst ein Stück lindern kann. Und so schleichen sich heutzutage am Ende einer Trauerfeier die wenigen zugelassenen Teilnehmer nach einigen sehr peinlichen Ellbogenverrenkungen dort, wo vielmehr Umarmungen angebracht wären, hinfort zu ihren Autos und verschwinden isoliert in eine ungewisse Zukunft. Ohne Bannstrahl, ohne Lebensvergewisserung – ohne Trost. 

Peinliches Ellbogenverrenken, ab ins isolierte Auto

Selbst wenn manche der Menschen, die in der jüngsten Vergangenheit ihre Trauerfeiern ausrichten mussten, ein Nachholen des Leichenschmauses versprochen haben, sobald möglich, ist es doch nicht dasselbe – denn ihre wohltuende Kraft bezieht diese Veranstaltung alleine aus dem unmittelbaren Anschluss an einen Abschied. Je weiter der zeitliche Abstand, desto verbannter scheint der Tod ja bereits wieder zu sein. Dieser seelische Schutzmechanismus ist für uns Menschen von existenzieller Bedeutung: Alleine mit der Vergewisserung, dass der Tod uns selbst nichts anhaben wird, uns nicht, sobald nicht, allen anderen vielleicht schon, lässt sich die Hilflosigkeit ertragen, die unser Erdendasein oft mit sich bringt. Dass die Coronakrise unseren  menschlichen Gestaltungsspielraum massiv einschränkt und uns unsere existenzielle Ohnmacht ahnen lässt, ist eine ihrer Wahrheiten. Das auszuhalten ist Aufgabe genug.

(Foto: Thomas Achenbach) 

„Hoffentlich sehen wir uns auch mal außerhalb von Beerdigungen...“. Wie oft haben wir diesen Satz gehört. Vielleicht auch selbst gesagt. Und dann traf man sich eben doch das nächste Mal erst… - auf einer Trauerfeier. Zumindest darauf konnte man sich verlassen. Heute ist selbst diese Verlässlichkeit brüchig geworden. In Zeiten der Krise muss es eher heißen: „Hoffentlich sehen wir uns überhaupt nochmal"...

(Dieser Artikel erschien in seiner ursprünglichen Fassung am 2. 12. 2020 in der Printausgabe der Neuen Osnabrücker Zeitung sowie aller Ihrer Kopfausgaben im Ressort Feuilleton).

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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