Samstag, 24. August 2024

Kommentar/Meinung: Die "Re-Erdigung" stellt die Frage nach der Bestattungspflicht mit neuer Dringlichkeit - und gerade deshalb werden Bestatter immer wichtiger in ihrer Funktion als Lotsen - ein ganz persönlicher Kommentar zur Frage: Die Bestattungspflicht abschaffen?

Da gibt es die Frau, die nur ein klitzeklein wenig von der Asche ihres gestorbenen Mannes haben wollte und sich wie eine Verbrecherin fühlte, weil ein Aufpasser des Friedhofsbetriebs die Urne bewachte. Wie ein Türsteher. Dabei wollte sie nur ein kleines bisschen davon an jenem Baum im Garten verstreuen, den der Mann so gemocht hatte. Da gibt es den Mann, der sich und seiner Frau die Grabstätten schon selbst gebaut hat, weil sie sich wohler fühlen, wenn sie wissen, dass sie dort bestattet sein dürfen. Doch beide dürfen das, was sie vorhaben, nach geltendem Recht nicht tun - weil sich die deutschen Bestattungsgesetze auf Texte beziehen, die seit 1934 größtenteils unreformiert geblieben sind. Gesetze aus der Nazizeit, die Menschen dazu zwingen, Verbrecher zu werden, wenn sie ihre Trauer leben oder ihr (Ab-)Leben gestalten möchten. Höchste Zeit, das zu überdenken. 

Es ist eine schöne Grabstätte geworden. Mitten in einem Wald gelegen, den der  Mann selbst bewirtschaftet, an einem Steinkreis, den er dort selbst errichtet und zu einer Sonnenuhr ausgebaut hat. Die Grabplatten sind bereits beschriftet - seine und die seine Frau -, nur das Todesdatum fehlt. Neben den Grabplatten ist eine Gedenkstätte für die Vorfahren errichtet. Der Blick geht in die Weite, rundherum sind Felder und Wälder. Ein friedlicher Ort. Aber einer, der so nicht sein darf. 


Rasen. Platte. Klassische Friedhofskultur. Aber muss das immer so? (Foto: Pexels.com/CC-0-Lizenz)


Private Friedhöfe sind verboten, in jenem Landkreis, wo der Mann wohnt. Eine entsprechende Nutzungserlaubnis für eine kleine Fläche wie diese zu bekommen ist fast unmöglich. Ein Amt reicht weiter an das nächste Amt, ein Ansprechpartner jagt den nächsten. Man werde zurückrufen, man tut es nicht. Dabei will der Mann nur alles richtig machen und eben nicht zu einem von denen werden, die einfach machen, ohne sich um geltendes Gesetz zu scheren. Inzwischen ist seine Strategie: Herausfinden, wie hoch die Strafgebühr für diese Ordnungswidrigkeit wäre, und die Bezahlung einfach in Kauf nehmen.

Gezwungen, zu Verbrechern zu werden

Ich kenne diese beiden erwähnten Menschen - und einige andere, denen es so geht wie ihnen - und halte sie für intelligente, aufgeklärte, rechtschaffende Zeitgenossen. Und doch sind sie quasi dazu gezwungen, zu Verbrechern zu werden. Es gibt viele wie sie. Ganz oft denke ich bei meinen Begleitungen: Das ist nicht gut, wie es derzeit ist. Mit dem Friedhofszwang. Und der Bestattungspflicht. Das tut nicht allen gut. Und das ganze Durcheinander, die vielen Schlupflöcher, das erst recht nicht.


Mehr als Fotos - Menschen wollen Urnen zuhause haben (Foto: Pexels.com/Pavel-Danil)


Sich einen privaten Friedhof anzulegen - ganz so ungewöhnlich ist das gar nicht. Bessergestellte und Adelsgeschlechter haben das durchaus getan. Früher.  

Davon zeugt beispielsweise ein privater Mini-Friedhof, der sich als Relikt aus der Vergangenheit in einem kleinen Waldstück zwischen den Osnabrücker Stadtteilen Wüste und Sutthausen befindet, direkt neben der Autobahn A30 und nicht unweit von der Bahnstrecke ins Ruhrgebiet entfernt. Ich hatte mich auf einem Spaziergang, den offiziellen Weg suchend, einmal dorthin verirrt. Ich hätte gerne ein paar Fotos von diesem Privatfriedhof hier gezeigt. Allerdings ist auch ein halbwegs öffentliches Waldgebiet rein rechtlich gesehen immer noch ein Privatgebiet - also darf ich dort nicht ohne Weiteres fotografieren. 

In NRW erlaubt: Die Urne im Garten

Private Friedhöfe im eigenen Garten - in Nordrhein-Westfalen ist so etwas übrigens, unter gewissen Auflagen, durchaus möglich, wenn zuständige Ämter einem solchen Antrag vorab zugestimmt haben. Dazu mehr im nächsten Blogartikel aus dieser Serie. Aber warum nur dort? Sollte man so etwas nicht überall dürfen? Oder würde es für den Anfang reichen, wenn wir überall dem Beispiel Bremens folgten und Urne samt Asche "freigeben"? 


Mitten im Leben - dürfen die Toten bei uns sein (Foto: Pexels.com/Maria Bortolotto) 

Von einer Sache bin ich zutiefst überzeugt: Selbst wenn wir in Deutschland die Bestattungspflicht abschaffen, werden wir nichts so dringlich brauchen wie Bestatter. Gute Bestatter, die als Lotsen fungieren und den Menschen das geben können, was ihnen gut tut. Bestatter, die umfassende Kenntnis über die Vielfalt aller Möglichkeiten haben und gemeinsam mit dem Klienten auskundschaften, welches Angebot das Passende wäre. Von einer zweiten Sache bin ich genauso tief überzeugt: Einen Ort zum Trauern braucht jeder Hinterbliebene, einen, wo wir unsere Toten verorten können. Ohne den geht es nicht. Aber ob das unbedingt der Friedhof sein muss - womöglich ein ganz weit entfernter? 

Der Game Changer heißt Re-Erdigung

Und daher, das ist meine dritte feste Überzeugung, wie ich sie auch dem epd sagteDie Bestattungspfllicht in Deutschland ist hinfällig geworden. Spätestens, wenn sich die Re-Erdigung überall durchgesetzt haben sollte - und die Anforderung nach einer Re-Erdigung lautet, man möge bitte Erde in Erde bestatten. Die eine Erde auf die andere Erde, aber teuer bezahlt, weil offizielle Bestattung.  

Denn was da derzeit in Schleswig-Holstein ausprobiert wird - die Re-Erdigung, das Kompostieren von Leichen -, hat das Zeug dazu, die deutsche Bestattungskultur nachhaltig zu verändern. Es hat das Zeug dazu, ein Game Changer zu werden. Einerseits. Und andererseits lohnt der Blick nach Amerika: Dort ist das Verfahren zum Teil bereits anerkannt, scheint sich aber nicht zum neuen Standard entwickelt zu haben (alle Hintergründe zum Thema gibt es in meinem Blogbeitrag dazu).


(Foto: Pixabay.de/CC-0-Lizenz)


Klar, Friedhöfe sind wunderschön. Die meisten, die ich kenne, jedenfalls. Ich möchte sie nicht missen, ich gehe gerne dorthin. Ich zumindest brauche sie, fürs Seelenheil. 

Und dennoch leuchtet heutzutage nicht mehr allen Menschen ein, warum sie eine Urne voller Asche überhaupt auf einem Friedhof bestatten müssen. Und mal ehrlich: So richtig überzeugende Argumente für einen derart verordneten Zwang gibt es ja auch nicht wirklich (siehe dazu meinen Blogartikel "Warum die deutschen Bestattungsgesetze noch immer aus der Nazizeit stammen")

Regeln müssen nachvollziehbar sein

Und überhaupt: Je erzwungener etwas ist, desto größer der Trotz. Ist schon bei kleinen Kindern so. Oder in der Arbeitswelt, wenn Teams gemeinsam etwas entwickeln sollen. Das habe ich zu meinen Zeiten als Führungskraft oft genug erlebt (es war ein Mitgrund dafür, warum ich vor über einem Jahrzehnt meine Position als Führungskraft gerne aufgegeben habe). 

Die Asche des Verstorbenen haben zu dürfen, das wünschen sich viele. 

Es muss ja gar nicht die ganze Asche sein. Aber zumindest ein kleines bisschen davon an sich nehmen zu können, das wünschen sich doch viele. Ein letzter Rest dessen, was von den Verstorbenen übriggeblieben ist. Ob sie diesen nun in einer kleinen Dose am Hals tragen oder als Diamant gepresst bei sich aufbewahren: Das Gefühl, den verstorbenen Menschen irgendwie bei sich zu haben, so nah am Körper (und am Herzen) wie irgend möglich, das ist Menschen heute wichtig. Das ist gelebte moderne Trauerkultur. Das tut gut. Das sollte möglich sein. 


Deutschlands wohl eindrucksvollstes Krematorium steht in Leipzig (Foto: Pexels.com/Timo Volz)

Und nun gibt es also eine Bestattungsform, bei der wir am Ende einen Sack Erde erhalten anstelle einer Urne voller Staub. Erde, die dann wieder unter die Erde muss. Weil die Behörden das verlangen. Bizarrer geht's kaum. Und wer bitte soll kontrollieren, dass die tatsächlich unter der Erde verbuddelte Erde wirklich die leichnamskompostierte ist - und nicht die aus dem Baumarkt?

Du kriegst Erde - die musst du bestatten

Noch ist die Re-Erdigung ein Verfahren, das sich in der Testphase befindet, dazu nur in einem Bundesland. Noch sind wir sehr weit davon entfernt, von einer etablierten dritten Bestattungsart sprechen zu dürfen. Aber dieser Tag wird kommen. Alleine schon, weil die Re-Erdigung mit den Stichworten nachhaltig, ökologisch und umweltfreundlich punkten kann. Und weil sie kein Gas verbraucht.  

Gesetzestexte dürfen niemals leichtfertig verändert werden. Das zu tun, ist in Europa und der ganzen Welt neuerdings zu einem unguten Trend geworden, zumal, was die Grundgesetze angeht: Zum Beispiel in Ungarn oder im Polen noch vor wenigen Monaten/Jahren, überall dort, wo die Radikalen mitregieren, wird allzu schnell die Axt an die Grundregeln der Gesellschaft gelegt. Wohin das führen kann, zeigt das Beispiel Polen: Wieder in demokratischere Fahrwasser geraten, bleibt die juristische Zerreißprobe eine große, weil man die Grundgesetze bereits angepackt hat. So darf es nicht gehen.


Liebevoll gestalteter Erinnerungsplatz - mit Urne (Foto: Pexels.com/Cottpnbro)


Aber Gesetze, die de facto längst ausgehebelt sind, wo sich sogar eine Art der Umgehungsindustrie gebildet hat; die, wenn nicht offiziell geduldet, zumindest leichtfertig so hingenommen wird, gehören auf den Prüfstand. Zumal, wenn sie fast 100 Jahre alt sind - nämlich von 1934. So auch die Bestattungspflicht. 

Klar, die Sorge ist groß: Wenn es sie nicht mehr gibt, wer braucht dann noch Bestatter? Aber blicken wir einmal nach Bremen: Dort gibt es immer noch Bestatter. Viele, sogar. Obwohl der Friedhofszwang dort seit 2015 quasi aufgehoben ist, obwohl Menschen ihre Urnen mit nach Hause nehmen können. Und die Bestatter dort verkaufen weiterhin Särge für Erdbestattungen, sie organisieren Trauerfeiern und Einäscherungen. Sogar Re-Erdigungen haben sie schon durchgeführt - und überhaupt haben sie gut zu tun.

Familienzwist: Wer erbt die Urne?

Klar, auch diese Sorge ist berechtigt: Wenn der Tote keinen festen Platz mehr hat, wird das dann nicht zu viel mehr Streit um die Urne führen? Vor allem, wenn diese nach dem weiteren Tod der Hinterbliebenen zu den Hinterlassenschaften gehört? Dazu muss man ganz klar sagen: Ja, das wird wohl so sein. Und das ist nicht schön. Andererseits, so wie es sich heute oft fügt, ist es ja auch nicht schön: Da gibt es meistens eine Grabstätte, irgendwo, auf einem Friedhof, der meist am Heimatort der gestorbenen Menschen liegt - aber es ist keinesfalls garantiert, dass die Angehörigen dort ebenfalls leben. Womöglich leben sie sehr weit entfernt. Und so besucht keiner diesen Friedhof, außer vielleicht ein zur Pflege bestellter Gärtner. Der - jährliche?, wenn überhaupt - Pflichtbesuch ist eher lästig. Auch nicht wirklich optimal.  


Einmal im Jahr zum Friedhof. Muss ja. (Foto: Pixabay.de/CC-0-Lizenz) 


Alles ist im Wandel, nur die Bestattungspflicht nicht. Das sollte sich ändern. Und es wird allen gut tun. Denn je größer die Auswahlmöglichkeiten werden, was Bestattungen angeht, desto kompetentere Lotsen braucht es, die einem dabei helfen, sich zurechtzufinden. Seine eigene Trauer leben zu können. 

Wer sollte das nicht sein, wenn nicht eine Bestattungsfachkraft unserer Wahl?


Mini-Serie "Bestattung in der Moderne" - dieser Text ist Bestandteil einer vierteiligen Serie rund um die Themen Re-Erdigung, Friedhofspflicht, Urnentourismus und moderne Bestattungsformen. Weitere Teile folgen...

Teil 1: Warum die deutschen Bestattungsgesetze aus der Nazizeit stammen
Teil 2: Die neue Bestattungsform Re-Erdigung - alles, was man wissen muss 


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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer" (Patmos-Verlag, Herbst 2023)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag).
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Auf dem Portal der Neuen OZ zu finden: Das ABC der Trauer - wie der Osnabrücker Trauerbegleiter trauernden Menschen Halt geben möchte

Ebenfalls auf diesem Blog: Ein neuer Raum und neue Möglichkeiten - wo ich in Osnabrück jetzt Trauerbegleitung anbieten darf (weiterhin auch als Spaziergang)  

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Menschen nach einem Verlust für selbst schuldig halten 

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatter bewegen - Plädoyer für eine moderne Bestattungskultur, Beispiele für zeitgemäße Rituale 

Ebenfalls auf diesem Blog: Macht es die Hinterbliebenen nicht noch trauriger, wenn wir sie auf ihren Verlust ansprechen? - Impulse bei großer Unsicherheit 

Ebenfalls auf diesem Blog: Weil Trauernde nicht die Konzentration für lange Texte haben und weil es manchmal kurze Erläuterungen sein müssen 

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

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Mittwoch, 3. Juli 2024

Das Trauer-Zitat des Monats - #Juni/Juli 2024 - bemerkenswerte Sätze über Trauer, Tod und Sterben aus Literatur, Interviews und Zeitschriften, Teil 17

   


"Wenn einer freiwillig aus dem Leben scheidet, stellt er den kleinsten gemeinsamen Nenner infrage, den es zwischen Menschen gibt: leben wollen. Um weiterzuleben, müssen die Verbliebenen demjenigen widersprechen, um den sie gerade trauern. (...) und es lag mehr Absurdität darin als aushaltbar, mit einem Toten Schluss zu machen."


 Paula Fürstenberg, "Weltalltage"


(Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2024, Seite 61)


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Das Trauerzitat des Vormonats: Bitte hier klicken

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Sonntag, 9. Juni 2024

An deutschen Schulen wird viel zu unbedarft mit dem Thema Suizid umgegangen - vor allem, was die Lektüren im Deutschunterricht angeht - eine neue wertvolle Broschüre informiert umfassend über "Suizid im schulischen Kontext" - Wenn der Schuluntericht zur weiteren Katastrophe für die Hinterbliebenen wird

So viele Bücher - in denen sich womöglich Menschen das Leben nehmen (Foto: Pixabay.com/Silviarita)

An deutschen Schulen wird viel zu unbedarft mit dem Thema Suizid umgegangen. Vor allem im Deutschunterricht angesichts zahlreicher Bücher, in denen das Thema eine Rolle spielt und die zum Kanon der Schullektüre gehören. Das ist das generelle Fazit einer sehr lesenswerten neuen Broschüre, die der Bundesverband der Angehörigen um Suizid (AGUS) herausgegeben hat. Darin kommen unter anderem Hinterbliebene zu Wort, die nach dem Suizid eines Angehörigen allerlei Schullektüren rund um dieses Thema im Deutschunterricht behandeln mussten. Das Heft gibt aber auch wertvolle Hinweise für Lehrer und Eltern, wie in der Schule sinnvoller und achtsamer mit dem Suizid als Thema umgegangen werden kann.

„Der Suizid eines Familienmitglieds ist ein Lebensthema“, schreibt die Grundschullehrerin Cordula Tomberger in ihrem Beitrag zum Thema „Umgang mit konkreten Suizidereignissen an Schulen“. Die Autorin ist, wie die meisten in dieser Broschüre, selbst Betroffene, aber auch Mutter von mehreren Kindern. Vor allem macht sich Cordula Tomberger dafür stark, die tatsächliche Todesursache nicht zu verschweigen oder zu verschleiern, wie es ja noch sehr häuftig geschieht: „Das Verschweigen der Todesart Suizid trägt zur Tabuisierung der Krankheit Depression und der Krankheitsfolge Suizid bei“, schreibt sie. Und: „Es ist ein Stück Wertschätzung der verstorbenen Person gegenüber, wenn auch die Todesursache benannt und betrauert werden darf, als eine Facette ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit neben anderen.“

Ich möchte diesen Aspekt gerne noch einmal betonen: Die Todesursache ist eine Facette des Lebens der gestorbenen Person – eine Facette ihrer Persönlichkeit. Eine integrative. Das ist wichtig. Es ist wichtig, das zu anerkennen. Es kann wichtig sein, das besprechbar machen zu können, wo es geht.

So viele Bücher, so viele Suizide - alle Pflicht

Führt man sich die Liste der Bücher vor Augen, die an deutschen Schulen üblicherweise durchgenommen werden (müssen) und in denen der Suizid eine Rolle spielt, wird einem erst bewusst, wie häufig das Thema vorkommt – die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ließe sich vermutlich beliebigb verlängern: „Frühlingserwachen“ von Frank Wedekind, „Die Leiden des jungen Werther“, von Johann Wolfgang von Goethe, „Alle Farben Grau“ von Martin Schäuble, „Zweier ohne“ von Dirk Kurbjuweit, „Tote Mädchen lügen nicht“ von Jay Asher und schließlich „Unterm Rad“ von Hermann Hesse, das mich selbst als Jugendlichen in einer schwierigen Krisensituation mit Suizidgedanken in Kontakt gebracht hat (dazu bald mehr in einem eigenen Artikel auf diesem Blog).

Spannend ist allein schon die Geschichte, wie diese Broschüre entstanden ist. 

 

(Fotos: Thomas Achenbach)
 

Denn die Inspiration kam unmittelbar aus der Erlebniswelt von zwei Schülern, denen es genauso ergangen ist: Nach dem Suizid ihres Vaters – die beiden waren da gerade 14 und 16 Jahre alt – waren sie in der Schule mit Lektüren im Deutschunterricht konfrontiert, in denen der Suizid vorkommt. Und mit der Tatsache, wie unbedacht dieses Ereignis behandelt wird. Die Folge: Verweigerung der Lektüre, Rückzug, Wut, aber auch der Wunsch, sich nicht in der Schule „outen“ zu müssen oder unangenehm aufzufallen. So beschrieben sie ihre Reaktionen zunächst in einem einzelnen Text, den sie für den Rundbrief der Angehörigen um Suizid geschrieben hatten – unter dem Titel „Von Schiller, Goethe und Büchner bis zu aktueller Literatur – der Umgang mit Suizid im Unterricht“. Darin formulieren die beiden Schüler: „Da die meisten der gelesenen Werke auch noch Abi-relevant sind, sind die Schülerinnen und Schüler gezwungen, sich mit ihnen zu befassen. Das empfinden wir (…) als eine regelrechte Katastrophe“ (AGUS-Rundbrief 1/2022, Seite 14).

Hilfreiche Hinweise für Lehrer und Eltern

Genau dieses Spannungsfeld – zwischen seelischen Schutzmechanismen in der eigenen Betroffenheit und gleichsam der Scham und der drohenden Stigmatisierung – ist oft Thema in dem Büchlein. Lehrer, aber auch Eltern, erhalten zahlreiche Hinweise, was hilfreich sein kann und was eher nicht. Die Broschüre spielt dabei alle denkbaren Ereignisse durch: Der Suizid eines Mitschülers oder einer Lehrkraft, der Suizid im Familienumfeld, zurückliegende Suizide, die plötzlich wieder eine neue seelische Wirkmacht entfalten. In einem eigenen Kapitel geht es um die Frage wie der „Suizid als Unterrichtsthema“ behandelt werden kann. Als positives Beispiel wird von einer Unterrichtsstunde berichtet, die eine Schulseelsorgerin mit einer Klasse zum Thema Suizid durchgeführt hat.

Besonders aufschlussreich sind Interviews mit Jugendlichen, die den Suizid eines Mitschülers erleben mussten und auf die Frage eingehen, was ihnen gut getan hätte. Abgerundet wird das Büchlein durch inspirierende Positivbeispiele. 

Mit einem Artikel in diesem Rundbrief fing alles an - so entstand die neue Broschüre.
 

So wird beispielsweise die moderne Initiative „Tonomi Mental Health“ vorgestellt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Lehrkräfte fortzubilden und zu sensibilisieren, wie sie Schülerinnen und Schülern in emotionalen Krisensituationen hilfreich unterstützen können. Parallel finden sich allerlei Hinweise auf hilfreiche Onlinedienste und Bücher wie beispielsweise das Comic „Reden kann Leben retten“, das die jungen Betroffenen und andere dazu ermuntert, den Suizid nicht zu verschweigen, sondern ihn besprechbar zu machen.

Reden kann Leben retten

Den Suizid besprechbar zu machen versuchen – denn „Reden kann Leben retten“. Auch hierzu möchte die Broschüre beitragen. Es kann nicht genug betont werden, wie wertvolle das ist. Denn der Alltag – meiner als Mensch in dieser Welt, aber auch meiner als professioneller Trauerbegleiter – zeigt mir immer wieder, wie groß die Scham ist, wenn es um den Suizid geht, wie groß die Unsicherheiten, wie oft die Todesursache eben doch verschleiert und verschweigen wird. Das ist schade. Wenn wir nicht lernen, über den Suizid zu sprechen, verbauen wir uns so viele Chancen, weitere Suizide zu verhindern. Wie gut, dass diese Broschüre einerseits versucht, für einen anderen Umgang damit zu werben, andererseits aber auch sensibel und vorsichtig genug auf Leser einzugehen vermag, die mit den Themen Tod, Trauer und Sterben eben nicht so alltäglich befasst sind wie der Autor dieser Zeilen oder manche der Autoren von Beiträgen in dem Büchlein.

Die Broschüre: „Suizid im schulischen Kontext“ aus der AGUS-Schriftenreihe „Hilfe in der Trauer um Suizid“ (Autoren: Ulrike Brunner, Gisela Faßbender, Jörg Schmidt, Cordula Tomberger) ist erhältlich über den Bundesverband der Angehörigen um Suizid (AGUS), Telefon 0921/1500380, Internet www.agus-selbsthilfe.de.

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Wichtig: Wer tatsächlich an einen Suizid denkt und diese Gedanken nicht loswird, findet kostenlose und anonyme Hilfe z.B. bei der Telefonseelsorge unter 0800/1110111 - oder als E-Mail-Beratung über die Internetseite www.telefonseelsorge.de

Mehr Informationen: Was der Suizid eines Menschen alles mit den Hinterbliebenen machen kann, dazu findest Du sieben Impulse in einem weiteren Artikel auf meinem Blog - Thema: Trauer und Gefühle nach einem Suizid.
 
Bitte beachte auch diesen Text: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir denken und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

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