Montag, 11. März 2024

Das Trauer-Zitat des Monats - #Februar/März2024 - bemerkenswerte Sätze über Trauer, Tod und Sterben aus Literatur, Interviews und Zeitschriften, Teil 14

 

"Ich halte am Tod fest, weil nichts anderes möglich ist. Ich halte am Tod fest, weil er die Wirklichkeit meines Sohnes darstellt. Er ist in der Wirklichkeit des Todes - der Tod ist die Wirklichkeit. So lautet die Bedingung."


 Naja Marie Aidt, Carls Buch

(Zu meiner Besprechung des Buches bitte hier klicken; Luchterhand-Verlag, München, 2021, Seite 140)


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Das Trauerzitat des Vormonats: Bitte hier klicken

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Samstag, 17. Februar 2024

"Herr Achenbach, machen Sie trauernden Männer doch mal ein wenig Mut..." - Ein Interview mit mir, das eine Veröffentlichung leider nicht hat erleben dürfen - jetzt hier exklusiv veröffentlicht mit ganz tollen, ganz neuen Fotos dabei - was die Mitarbeiter von "Abschied Bestattungen" alles von mir wissen wollten zum Thema Männertrauer

Osnabrück/Kirchlinteln - Drei Ereignisse haben sich kürzlich überschnitten. Erstens hat die wunderbare Fotografin Ulrike Lehnisch von der Firma "LuxTeufelsWild" aus dem Leisen Speicher in Osnabrück mehrere neue Portraitfotos von mir geschossen, die ich allesamt sehr gelungen finde - und mit der Veröffentlichung meines neuen Buches war es an der Zeit für ein paar neue Fotos. Zweitens darf ich in Essen im Ruhrgebiet am 26. 2. 2024 einen Vortrag zum Thema "Männer und Trauer im Spannungsfeld der Moderne halten". Und drittens gibt es da dieses Interview mit mir, das ich sehr gerne mag, das aber leider nie eine Veröffentlichung hat erleben dürfen. Anlass genug, all das zu koppeln und zu veröffentlichen. Wie es zu dem Interview kam, ist übrigens schnell erzählt. 

Im Spätsommer 2023 durfte ich nach Verden an der Aller zurückkehren für einen weiteren Vortrag dort, nachdem ich dort bereits 2022 auf dem hervorragend organisierten Sternenkinderkongress sprechen durfte. Eingeladen hatte mich diesmal Henning Rutsatz von "Abschied Bestattungen" und das Thema meines Vortrags war "Männer und Trauer im Spannungsfeld der Moderne". Und im Vorfeld sollte der unten angefügte Text auf den Vortrag aufmerksam machen. 


Er organisierte den Vortragsabend in Verden an der Aller und koordinierte das Interview: Henning Rutsatz von Abschied Bestattungen aus Kirchlinteln (Foto: privat).

Denn wie das Leben oft so spielt, kam es anders als gedacht, und die an sich angedachte Veröffentlichung hat doch nicht stattfinden können. Da hatte ich allerdings die mir zugeschickten Fragen bereits beantwortet. Und nun freue ich mich, dass ich das Interview - ganz außerhalb von damit verbundenen Terminen - hier einfach auf meinem Blog veröffentlichen darf, gekoppelt an die neuen Fotos, die ich ebenfalls sehr gerne mag. Nun macht das Interview eben auf einen Vortrag im Ruhrgebiet aufmerksam, der öffentlich ist und der gleichzeitig den Start einer neuen Männertrauergruppe markiertAber jetzt genug der Vorrede. Los geht's...


Mit meinem neuen Buch "Das ABC der Trauer" bin ich inzwischen ebenfalls für Lesungen unterwegs (Foto: Ulrike Lehnisch/Luxteufelswild).


Herr Achenbach, Sie beschäftigen sich u. a. mit einem recht speziellen Thema, es geht um Trauer bei Männern. Wie kommen Sie zunächst dazu, sich überhaupt mit Trauer auseinanderzusetzen?

Achenbach: In meinem Leben hat sich irgendwie ein Puzzlestück an das andere gefügt, wie das oft so ist – das fing schon in der fünften Klasse an, als eine Mitschülerin von uns von einem Bus überfahren wurde. Dann waren es Freunde, die lebensbedrohlich erkrankt waren, Nachbarn, Kollegen, der Tod meiner Mutter – und immer war da diese enorme Hilflosigkeit bei allen Anderen und bei mir selbst. Irgendwann war mir klar: Ich möchte gerne sprachfähiger oder zumindest souveräner werden bei den Themen Trauer, Tod und Sterben. Die letzte Initialzündung war dann eine berufliche Krise.

 

Es ist allgemein bekannt, dass Frauen und Männer sehr unterschiedlich ticken. Das fängt beim Redebedürfnis an. Ist das ein Grund, weshalb Sie den Anlass erkannt haben, dass Männer bei der Trauerarbeit Unterstützung benötigen?

Achenbach: Ehrlich gesagt hat sich das einfach so ergeben – man ist als Mann, der Trauerbegleitungen anbietet, immer noch so etwas wie ein Exot. Prompt kamen eher Männer zu mir als Frauen. Und relativ bald habe ich die Chance bekommen, in die Leitung einer Männertrauergruppe einzusteigen. Ich habe durchaus auch Frauen begleitet – aber Männer fühlen sich nach meiner Erfahrung meist sicherer, wenn sie von ihresgleichen begleitet werden können.


(Foto: Ulrike Lehnisch/Luxteufelswild)
 

Kann es also sein, dass Männer den Trauerfall eher verdrängen? Und was wäre eigentlich schlimm daran?

Achenbach: Eben, das ist es ja – nichts ist schlimm da dran. Es ist nur eine andere Strategie für den Umgang mit der vielleicht größten Hilflosigkeit, die es im Leben gibt. Aber es ist eben eine Strategie. Meistens ist es übrigens gar nicht ein Verdrängen, mit dem wir bei Männern zu tun haben – eher ein ganz besonders feindosiertes Zulassen. Mit einem guten Gespür dafür, dass einen das alles kolossal überfordern könnte.

 

Wer kommt in Ihre Seminare? Sind tatsächlich auch trauernde Männer unter den Gästen?

Achenbach: Da muss man ein bisschen unterscheiden. Die Seminare richten sich eher an diejenigen, die sich selbst in Begleitersituationen wiederfinden, also Hospizkräfte, Menschen aus dem Kontext Trauerbegleitung oder Palliativbewegung. Für die Trauernden selbst sind die Einzelbegleitungen gedacht oder die Trauergruppen, wobei ich aktuell keine Gruppe anbiete.


(Foto: Ulrike Lehnisch/Luxteufelswild)
 

Was genau bieten Sie an, damit Männer sich ihrer Trauer stellen?

Achenbach: Letztlich gar nicht so viel – und dann doch sehr viel. Ich schaffe ein Setting, in dem sich ein Mann wohlfühlen kann. Ganz oft ist das zum Beispiel das gemeinsame Gehen draußen in der Natur und nicht etwa ein Gespräch in einem Raum. Und dann lasse ich den Gast erzählen, was ihn bewegt, in einem Tempo und in einer Intensität, die sich aus dem Gespräch heraus ergibt. Ich versuche zu erspüren, wann welches Thema dran ist – und lasse dem Gast ganz viel Raum. Ohne dabei mit bestimmten Methoden zu arbeiten. Das ist mir wichtig. Männer mögen Methoden meistens nicht, das liegt ihnen nicht. Aber reden wollen sie. Und wie.


Wie ist die Resonanz der Gäste nach Ihrem Seminar?

Achenbach: Ganz egal, ob Seminar oder Trauergruppe, es sind meistens sehr intensive Stunden, die prall gefüllt sind mit Leben, das zu betonen ist mir wichtig. Es wird auch viel gelacht – und das mitten im Trauern. Das schließt sich durchaus nicht aus. Und weil es so intensiv werden kann, ist es oft auf eine wohltuende Art anstrengend. Wie es einer meiner Klienten mal formuliert hat: Zu Ihnen zu kommen ist wie ins Fitnessstudio zu gehen, erst sehe ich ein wenig dagegen an, aber hinterher hat es immer richtig gut getan.


(Foto: Ulrike Lehnisch/Luxteufelswild)


Vielleicht haben jetzt sogar trauernde Männer dieses Interview gelesen und sind unschlüssig, sich Ihnen anzuvertrauen. Machen Sie den Zögerlichen doch noch einmal Mut.

Achenbach: Ich hatte mal einen Mann in Einzelbegleitung, dessen Sohn sich suizidiert hatte. Bei unseren Gesprächen haben wir über alles Mögliche geredet. Über das, was sich im Job gerade so tut bei diesem Mann, über Autos, Musik, alles mögliche. Manchmal, aber nur sehr fein dosiert und nur sehr wenig, auch über das Unfassbare, dem sich dieser Mann stellen musste. Genau so hat es ihm gutgetan, das hat er mir immer wieder gespiegelt. Ein guter Begleiter weiß genau, dass der Gast die Regie führt – und nicht der Begleiter selbst. Deswegen kann ich alle Männer nur ermutigen, es mit einer Begleitung zu probieren. Weil: Ihr seid der Boss. Wir reden über das, was ihr wollt, in der Dosis, die ihr bestimmt.

 

Herr Achenbach, danke für das Gespräch und viel Erfolg.

Achenbach: Ich darf mich herzlich bedanken für die guten Fragen – und wünsche ebenfalls viel Erfolg, vielen Dank.  


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Ebenfalls auf diesem Blog: Weil Trauernde nicht die Konzentration für lange Texte haben und weil es manchmal kurze Erläuterungen sein müssen 

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Freitag, 26. Januar 2024

Nein, die Messe "Leben und Tod" darf nicht eingestellt werden - eine Nachricht, die mich kalt erwischt und ziemlich schockiert hat, und meine erste Reaktion darauf - (Update Mitte Februar 2024: Inzwischen ist von einem Verkauf der Messe Leben und Tod die Rede)

Update, 16. 2. 2024: Wie sich inzwischen herausgestellt hat, soll die Messe Leben und Tod offenbar verkauft werden. Man verhandele mit einer bundesweiten Gruppe, die aus dem entsprechenden Themenbereich stamme und das Format übernehmen wolle, sagt der Messe-Chef Hans Peter Schneider in einem Podcast des Weser Kuriers (siehe hier). Mein untenstehender Artikel bezieht sich auf den Wissensstand kurz davor.

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Osnabrück/Bremen. Sie hatte sich gerade neu aufgestellt, hatte die Coronazeit gut überstanden, hatte mit neuen Digitalangeboten ihr Spektrum erweitert, sie hatte stets hervorragende Besucherzahlen und sie hat sogar einen Süddeutschland-Ableger erfolgreich über den Weißwurst-Äquator exportiert...  - das muss man einer Messe aus Norddeutschland erstmal nachmachen. Und nun soll die "Leben und Tod" dennoch eingestellt werden? 

Oder zumindest soll ihre Überlebensfähigkeit kritisch überprüft werden? So meldet es jedenfalls der Weser Kurier in einem Text am 26. Januar 2024 (mit Paywall) und beruft sich dabei auf Informationen, die die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) mit Sitz in Berlin erhalten hat.

Harte Worte. "Wir sind darüber informiert worden, dass die Veranstaltung aus wirtschaftlichen Gründen zur Disposition steht", so wird der DGP-Geschäftsführer Heiner Melching in dem Artikel des Weser Kuriers zitiert. Eine Nachricht, die nicht nur in Berlin für "Verwunderung und Bestürzung" gesorgt hat, sondern die alle Menschen betrifft, die in irgendeiner Weise mit den Themen Hospizkultur, Trauberbegleitung, Palliativversorgung, Seelsorge oder Pflege verbunden sind. 

Auch für mich kam das total unerwartet - und es hat mich durchaus schockiert. 

Die Messe "Leben und Tod" selbst hingegen zeigt sich weitestgehend unbeeindruckt. Während die Leser des Artikels noch über dessen Bedeutung rätseln, erscheint auf dem Facebook-Auftritt der Messe ein neuer Post, der auf weitere kommende Vorträge im Mai hinweist. "Ihr seht, auch in diesem Jahr haben wir ein interessantes Programm zusammengestellt", heißt es dort wohlgemut. Also Aufatmen? 

Zumindest die Mai-Ausgabe 2024 in Bremen wird auf jeden Fall stattfinden, das dürfte eindeutig sein. Also woher rühren die apokalyptischen Orakel? Zumal der Weser-Kurier in seinem Text von "mehreren Quellen" spricht, die er nicht näher aufführt, die aber allesamt ein Ende der Veranstaltung für möglich halten.   

Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch der Messe, im Mai 2015. Ich war damals als Berichterstatter gekommen. Gegangen bin ich als Fan. Ich erinnere mich, wie mich die Worte von Rolf Zuckowski berührt hatten, als er auf der Bühne über den Tod seiner Mutter gesprochen hatte. Ich erinnere mich, wie mich ein Gefühl von leisem, aber nötigem Revolutionsgeist ergriffen hatte, nachdem ich Bestattern wie David Roth oder Barbara Rolf zugehört hatte. Die Kunden müssten die Bestatterbranche umkrempeln, und nicht umgekehrt, sagten sie. Oder anders gesagt: 


Bunt, sonnig und geradeaus - so soll die Zukunft der "Leben und Tod" bitte sein (Foto: Thomas Achenbach)

Unsere Gesellschaft muss sich mit dem Tabuthema Tod neu auseinandersetzen. Wobei gerade die Messe "Leben und Tod" seit Jahren aktiv einen Raum anbietet, in dem das geschehen kann - in guter Form geschehen kann. Ich denke an die vielen Gedanken und Impulse, die ich von der Messe jeweils mitbringen konnte (Eindrücke davon gibt es hier, oder hier oder hier oder hier). Ich denke gerne daran, wie viele Kolleginnen und Kollegen aus ganz Deutschland und dem Ausland ich treffen konnte, jedes Jahr ein großes Klassentreffen, sich zwischendurch irgendwo verabreden, ach, nicht nötig, wir haben doch die Messe. Man sieht sich also in Bremen. Oder Freiburg. 

Geblieben wird dann meistens mehrere Tage lang - so dass sich die "Leben und Tod" auch in den Hotels bemerkbar machen müsste. In Bremen getroffen habe ich Menschen aus Österreich, Stuttgart, Berlin, Bayern, Hessen, Brandenburg und dem Saarland, alles Gäste, die wenigstens eine Nacht im Hotel verbrachten. Meistens zwei Nächte. Selbst wir aus dem vermeintlich nahen Osnabrück sind mit einer kleinen Delegation von Trauerbegleitern schon mehrfach im Hotel abgestiegen, um nach dem Messetag noch gemeinsam einen Abend in Bremen verbringen zu können. In der Gastronomie vor Ort, die ebenfalls von den Gästen profitiert. 

Und das soll nun alles auf der Kippe stehen?

Der Weser Kurier listet die Erfolge auf, die die "Leben und Tod" in jüngster Zeit vorzuweisen hat: Die Messe sei mit den Jahren deutlich gewachsen – von anfangs rund 60 Ausstellern und gut 300 Teilnehmern bis zu etwa 140 Ausstellern und mehr als 5000 Besucherinnen und Besuchern. Zitiert wird auch die Messeleitung selbst: "Die Messe ist zu einer der führenden Hospizveranstaltungen in Deutschland geworden". Nun gut, zugegeben:


Fernsehteams, großes Medienaufkommen - die "Leben und Tod" stieß jedes Mal auf eine große Resonanz.

Auch ich hatte mich in den vergangenen Jahren mehr auf die Digitalpakete verlassen als mich persönlich in die Messehallen zu begeben. Erst war Corona, dann war einfach keine Zeit, dann war es einfach praktischer (dabei war ich sogar in Freiburg, als die erste Exportmesse dort stattfinden sollte - die fiel dann wegen Corona aus, ich bin trotzdem dorthin gefahren). Zugegeben: Ich habe es genossen, als Interviewgast im Podcast Schlussworte dabei sein zu dürfen, eben weil der Podcast das Qualitätssiegel "Messe Leben und Tod" trägt und damit etwas ganz Besonderes ist (dabei sein zu dürfen, habe ich auch als Ehre empfunden). Zugegeben: Ich habe ein ganz persönliches Interesse daran, dass die Messe weiter existiert, ich soll dort 2025 einen Vortrag halten. Worauf ich schrecklich Lust hätte. 

Und dennoch - was viel wichtiger ist: Wenn es überhaupt eine Messe gibt, die als Publikumsmesse für die breite Öffentlichkeit wirklich eine Relevanz hat, dann ist es die "Leben und Tod". Klar, alles, was mit dem Tod zu tun hat, weckt erstmal irgendwie Ängste - und doch macht gleich der erste Schritt über die Türschwelle in die Messehalle deutlich, dass die Ängste dort gar keinen Platz haben. Freundliche Farben, freundliche Menschen, munteres Stimmengewirr. Tod? Okay.

 


Denn das ist die Messe auch jedes Mal aufs Neue: Ein bunter, lebensfroher, sogar lustiger Ort, an dem herzlich gelacht wird, an dem sich herzlich geherzt wird, an dem das Leben zeigt, wie schön es sein kann. Eben weil sein Ende das Thema ist. 

Wo sonst kann ich mich ein ganzes Wochenende lang in einem so freundlichen Umfeld in aller Ruhe damit auseinandersetzen, wie ich mir mein persönliches Lebensende einmal vorstellen könnte? Wie mein Sterben einmal sein sollte? Wie meine Trauerfeier aussehen könnte? Wo sonst, wenn nicht irgendwann beim Bestatter, dann, wenn es längst zu spät ist und wenn alles auf einmal entschieden sein muss.

Die "Leben und Tod" darf nicht sterben, weil sie es mitten im Leben möglich macht, sich in herzlicher Freundlichkeit dem Tod anzunähern, so nah, wie es eben geht. Und dann wieder weggehen zu können. Weil sie rechtzeitig vorher aufzeigt, wieviel Gestaltungsspielraum wir dennoch haben können - in eine Situation hineingefügt, in der es scheinbar kaum noch Gestaltungsspielraum gibt. Weil sie Perspektiven eröffnet auf dieses Tabuthema, das längst enttabuisiert gehört. Und weil sie trotz allem einfach schön ist. Wo gibt es das schon?

Ganz besiegelt scheint das Ende der Messe tatsächlich noch nicht zu sein. 



So zitiert der Weser Kurier auch einen Sprecher der Bremer Messegesellschaft M3B, Christoph Sonnenberg: "Für die Messe ,Leben und Tod' gibt es keinen Beschluss, dass sie nicht mehr stattfinden wird“.

Noch ist also offenbar alles offen. Oder zumindest vieles. Und deswegen, nochmal und in aller Dringlichkeit: Die "Leben und Tod" darf nicht sterben. Punkt.

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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer" (Patmos-Verlag, Herbst 2023)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag).
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Auf dem Portal der Neuen OZ zu finden: Das ABC der Trauer - wie der Osnabrücker Trauerbegleiter trauernden Menschen Halt geben möchte

Ebenfalls auf diesem Blog: Ist Trauerbegleitung ein echter Beruf? Kann man von Trauerbegleitung leben? Und wie werde ich überhaupt Trauerbegleiter?  

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Menschen nach einem Verlust für selbst schuldig halten 

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatter bewegen - Plädoyer für eine moderne Bestattungskultur, Beispiele für zeitgemäße Rituale 

Ebenfalls auf diesem Blog: Macht es die Hinterbliebenen nicht noch trauriger, wenn wir sie auf ihren Verlust ansprechen? - Impulse bei großer Unsicherheit 

Ebenfalls auf diesem Blog: Weil Trauernde nicht die Konzentration für lange Texte haben und weil es manchmal kurze Erläuterungen sein müssen 

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

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Dienstag, 23. Januar 2024

Das Trauer-Zitat des Monats - #Januar2024 - bemerkenswerte Sätze über Trauer, Tod und Sterben aus Literatur, Interviews und Zeitschriften, Teil 13

  

(Foto: Thomas Achenbach)

"Ich will immer noch den Namen meines Kindes aussprechen können. Ich will immer noch die Geschichten von meiner Mutter, meinem Vater oder meinem verstorbenen Partner, meines Bruders oder meiner Schwester erzählen dürfen. Sie sind nicht einfach verschwunden. Sie haben einen Platz. Und der Platz ist in meinem Herzen und in meiner Familie. Ihre Fotos hängen immer noch an der Wand. Und das aus gutem Grund."

 

Robert Neimeyer

Psychotherapeut von der Uni Memphis


(zitiert nach: ARD Alpha, "Trauern ist ein Zeichen von Liebe", Yvonne Maier, 2022)


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Mittwoch, 10. Januar 2024

Auch die besondere Einsamkeit trauernder Menschen gilt es zu berücksichtigen - was der Deutsche Hospiz- und Palliativverband in der "Strategie gegen Einsamkeit" der Bundesregierung vermisst (zu Recht) - hier die am 14. 12. 2023 verteilte Pressemitteilung des DHPV im Wortlaut

(Alle Fotos: Thomas Achenbach)

Freunde fallen weg, Menschen wechseln die Straßenseite. Ich habe noch keinen Menschen getroffen, bei dem sich nicht nach dem Verlust eines Angehörigen das gesamte Umfeld neu sortiert hat. Trauer macht einsam - vielleicht in einem ganz besonderen Maße. Nun also soll es eine bundesweite Strategie gegen Einsamkeit geben - und das ist grundsätzlich eine äußerst begrüßenswerte Initiative, die das 
Familienministerium des Bundes da im Dezember 2023 vorgelegt hat. Dennoch hat sie den Deutschen Hospiz- und Palliativverband (DHPV) zu einer Stellungnahme bewegt, denn er vermisst die besondere Einsamkeit von trauernden Menschen in diesem Positionspapier - hier ist die am 14. 12. 2023 verteilte Pressemitteilung des DHPV im Wortlaut: 

"Die vom Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) vorgelegte Strategie gegen Einsamkeit wurde jetzt vom Bundestag beschlossen. Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) begrüßt, dass Einsamkeit als komplexe gesamtgesellschaftliche Herausforderung anerkannt wird, vermisst aber den Zusammenhang zwischen Trauer und Einsamkeit sowie Trauer und Suizidalität.

Die Linderung oder Vermeidung von Einsamkeit spielt im Kontext von Hospizarbeit und Palliativversorgung eine zentrale Rolle: So bei der gesellschaftlichen Integration und Teilhabe der Schwerkranken und Sterbenden, insbesondere durch Kommunikation und die Beziehungsarbeit, die in ambulanten Hospizdiensten, stationären Hospizen oder in Palliativstationen und in Krankenhäusern geleistet wird.

„Aus diesem Grund begrüßen wir die jetzt verabschiedete Strategie, vor allem, dass Einsamkeit als komplexe gesamtgesellschaftliche Herausforderung anerkannt wird“, so Prof. Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des DHPV. „Besonders wichtig ist aus Sicht des DHPV, dass Menschen in vulnerablen Lebenssituationen und deren Risiko für leidvolle Einsamkeit ausdrücklich erwähnt sind, darunter Schwerstkranke in der letzten Lebensphase und ihre Zugehörigen." Oder in Kürze übersetzt: Grundsätzlich gut, aber....

 


Denn wie der DHPV in einer Stellungnahme zum Diskussionspapier weiter betont: „Auf dem Weg zu einer Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit“ im März dieses Jahres ausdrücklich formuliert hatte, gehören zu den Personen in vulnerablen Lebenssituationen ganz besonders auch die Trauernden. Erfahrungen in der Hospizarbeit und Palliativversorgung zeigen, dass der Verlust nahestehender Menschen, insbesondere des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin, ein wesentlicher Auslöser für leidvoll erfahrene Einsamkeit ist.

„Und ausgerechnet diese wichtige und zahlenmäßig sehr große Gruppe findet in der jetzt verabschiedeten Strategie keine Erwähnung“, so Hardinghaus. „Hier wäre zum Beispiel die Förderung der von Hospizdiensten angebotenen Trauerarbeit ein wichtiger Aspekt.“

Auch der Zusammenhang von Einsamkeit und Suizidalität ist nach Einschätzung des DHPV zu wenig berücksichtigt. Zwar wird chronische Einsamkeit als zentraler Risikofaktor für Suizidalität benannt. Allerdings hätte nach Ansicht des DHPV die suizidpräventive Bedeutung der Strategie gegen die Einsamkeit stärker zum Ausdruck kommen müssen.



Trotzdem sieht der DHPV einige Punkte, die auch mit den Ansätzen der Hospizbewegung und Palliativarbeit übereinstimmen, etwa die Stärkung von freiwilligem und bürgerschaftlichem Engagement und Ehrenamt als geeignetem Instrument, um Einsamkeit zu lindern und vorzubeugen sowie die Förderung sozialer Orte und Räume für Austausch, Begegnung und Engagement aller Altersgruppen in den Kommunen.

„Wir sprechen in der Hospizarbeit von sorgenden Gemeinschaften“, so Hardinghaus. „Das ist ein Ansatz, der auch bei der Umsetzung der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland eine immer größere Rolle spielt und der der zunehmenden Vereinsamung in unserer Gesellschaft wirkungsvoll begegnen könnte“... - 

... soweit der komplette Wortlaut der DHPV-Pressemitteilung. Und mit allen Erfahrungen, die ich bislang mit Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise gesammelt habe, kann ich mich diesem Papier nur vollumfänglich anschließen.

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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer" (Patmos-Verlag, Herbst 2023)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag).
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Auf dem Portal der Neuen OZ zu finden: Das ABC der Trauer - wie der Osnabrücker Trauerbegleiter trauernden Menschen Halt geben möchte

Ebenfalls auf diesem Blog: Ein neuer Raum und neue Möglichkeiten - wo ich in Osnabrück jetzt Trauerbegleitung anbieten darf (weiterhin auch als Spaziergang)  

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Menschen nach einem Verlust für selbst schuldig halten 

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatter bewegen - Plädoyer für eine moderne Bestattungskultur, Beispiele für zeitgemäße Rituale 

Ebenfalls auf diesem Blog: Macht es die Hinterbliebenen nicht noch trauriger, wenn wir sie auf ihren Verlust ansprechen? - Impulse bei großer Unsicherheit 

Ebenfalls auf diesem Blog: Weil Trauernde nicht die Konzentration für lange Texte haben und weil es manchmal kurze Erläuterungen sein müssen 

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

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Donnerstag, 21. Dezember 2023

Das Trauer-Zitat des Monats - #Dezember2023 - bemerkenswerte Sätze über Trauer, Tod und Sterben aus Literatur, Interviews und Zeitschriften, Teil 12

 

"Offensichtlich bin ich gerade in großer Bedrängnis, und es ist kein Zufall, dass ich regrediere (= wieder in Kindheitsmuster verfalle, ta). Wie ein Kind suche ich kreischend nach mütterlichem Beistand."   

 

Irvin D. Yalom

über die Trauer nach dem Tod seiner Frau


("Unzertrennlich", Irvin D. & Marilyn Yalom, btb, München, 2021, Seite 233)


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Montag, 27. November 2023

Okay, Männer trauern anders, aber warum denn eigentlich - wie kommt es dazu? Fünf wichtige Faktoren, die wir berücksichtigen müssen, wenn wir mit Männern in Trauer bzw. Männern in Krisen zu tun haben - eine Ergänzung zu meinem Buch "Männern trauern anders"

Osnabrück - Ich nenne es gerne das "systemische Fünfer-Feld für die Betrachtung von Männern in Krisen" - etwas hochgestochen, zugegeben, aber irgendeinen Namen braucht dieses Schaubild halt. In meinen Vorträgen oder in Workshops über Männer und Trauer male ich es gern auf ein Flipchart. Es vereint fünf Aspekte, die wir im Hinterkopf haben müssen, wenn wir mit Männern in Krisensituationen zu tun haben - oder wenn Männer sich selbst hinterfragen wollen, warum sie so ticken, wie sie nun einmal ticken. Es sind fünf Aspekte, die in Wechselwirkungen zueinander stehen und die sich alle gegenseitig beeinflussen. Fünf Aspekte, die ein differenzierteres Bild ermöglichen - differenzierterer als "Männer sind eben so". Übrigens ein Satz, den ich strikt zu vermeiden versuche. Einerseits... Und andererseits? 

Wenn es um die Frage geht: Wie tickt eigentlich der moderne Mann und was bedeutet das für unsere Angebote in Trauerbegleitung, Seelsorge, etc., dann möchte ich erstmals nach über sieben Jahren intensiver Beschäftigung mit diesem Thema bei einem Menschen ins Innenleben hineinblicken, der noch nicht dran war. Einer, den ich mich in keinem Buch zu zitieren getraut habe, einer, den ich niemals für qualifiziert genug gehalten hätte, um ihn einen "Experten" zu nennen, obwohl er das in mancherlei Hinsicht ist. Nämlich bei mir selbst. Ich bin ja auch einer. Ein Mann. 

Dazu noch einer mit der vollen Dröhnung 80er-Jahre-Männer-Sozialisation. Wie die ausgesehen hat? Dazu bietet sich ein interessantes Experiment an. 

   

(Alle Fotos/Zeichnungen: Thomas Achenbach)


Man versuche einmal, in einem Streamingdienst wie Spotify oder auf dem freien CD-Markt die ersten 99 Folgen der Hörspielserie "TKKG" irgendwo aufzufinden, also einer der beliebtesten Kinder-Detektiv-Serien aus Deutschland, erschienen zwischen 1981 und 1996. Wer diese Episoden schließlich findet - über einen Umweg ist das inzwischen wieder möglich, nachdem sie ab 2009 komplett vom Markt genommen waren -, der stößt auf einen neu hinzugefügten Warnhinweis vor jeder einzelnen Episode. Motto: "Vieles von dem, was hier dargestellt wird, ist heute nicht mehr zeitgemäß". Und es stimmt. Zum Beispiel die probate "Ermittlungsmethode" des jugendlichen Helden Tim bzw. Tarzan: Erst draufhauen. Dann reden. Falls überhaupt. Weil Tarzan nämlich Karate kann. 

So war Männlichkeit in den 80ern - wo du auch hingesehen hast: Unironisch. Zynisch. Knallhart. Guck sie Dir an, all die Helden aus jener Zeit: Schimanski. Rambo. John McLane (aus "Stirb langsam"). He-Man. Conan. Und, und, und.... Heute würde man sagen: Toxisch. Damals hat man gesagt: Männlich.

Draufhauen und ganz der Harte sein, das war nie so wirklich was für mich - aber Muckis aufbauen, das hat mich doch irgendwie gereizt. Muckis fand ich, nun ja, männlich. Soviel Einfluss hatte es auch auf mich - das Männerbild dieser Zeit.

Und damit sind wir wieder beim Thema angekommen: Die Sozialisation. Ein ganz zentraler Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt. Warum das so wichtig ist, gerade im Kontext von Trauerbegleitung? Nun ja, zum Beispiel, weil schon ein ganz simpler Stuhlkreis bei einem 80er-Jahre-Kind wie mir ganz andere innere Schwingungen auslöst als vielleicht bei Menschen einer anderen Generation. Und das ist auch nicht aus mir rauszukriegen. Auch nach all den Jahren noch, auch nach hunderten selbst aufgebauter Stuhlkreise, auch nach mehreren mitgeleiteten Trauergruppen - meine erste Assoziation, wenn ich einen Stuhlkreis sehe, bleibt dennoch stets die gleiche: Auweia - Eso-Alarm! 

Oder, überspitzt formuliert: Stuhlkreise sind für ein 80er-Kind wie mich unmännlich. Immer noch. Ist so einprogrammiert. Sozialisation.

Wobei sich das Thema Sozialisation in verschiedene Unteraspekte aufgliedern lässt, die sich wiederum in meinem systemischen Fünfer-Feld finden lassen. Dieses Feld besteht aus diesen fünf Facetten, zu denen ich im Folgenden jeweils noch etwas ergänzen werde:  

Kriegsnähe
- Herkunft
- Vorbilder
- Männlichkeitsbild
- Alter/Geburtsjahr

Aber was bedeutet das, jeweils - und wie können wir diese Faktoren in unseren Gespräche mit trauernden Männern mit einbauen, was bedeutet das für uns als Begleiter, Freunde oder Verwandte? Okay, der Reihe nach - betrachten wir die einzelnen Faktoren einmal etwas näher.

Autor dieses Beitrags: Thomas Achenbach (Foto: Ulrike Lehnisch/Luxteufelswild)


1.) Kriegsnähe: Alle Männer, die in meine Begleitungen kommen, sind noch vom Zweiten Weltkrieg geprägt, ob ihnen das bewusst ist oder nicht. Sogar ich selbst bin noch vom Zweiten Weltkrieg geprägt - und das mehr als mir selbst viele Jahre bewusst gewesen ist, wie mir die aktuell aufkeimende Forschung rund um das Thema der Kriegsenkel/Kriegskinder immer wieder zeigt.  

Sogar bei dem bislang jüngsten Mann, den ich begleiten durfte, waren diese Prägungen auch in seinem Alter von noch nicht einmal 20 Jahren noch spürbar - und sie waren ein Thema in der Begleitung. Ohne, dass ich es von mir aus hätte ansprechen müssen. Denn das Thema kommt zur Sprache. Auch, natürlich, weil es modern und zeitgemäß ist, weil es in den Medien thematisiert wird und weil sich junge Menschen zuweilen selbst fragen, wieviel Krieg noch in ihren Seelen steckt. Die Recherchen von Sabine Bode über die Kriegskinder und die Kriegsenkel und die damit begonnene Forschung haben uns - auch wenn sie noch am Anfang steht - bereits deutlich gezeigt, dass der Krieg auch zwei Generationen weiter noch so starke Spuren in den Menschen hinterlassen hat, dass diese Prägungen nicht unberücksichtigt sein dürfen. Das gilt vor allem für das Thema Trauer. "Je näher ein Mensch dem Krieg ist, ob zeitlich oder räumlich, desto weniger kann er Trauer können", lautet eine meiner Thesen, die ich in meinen Vorträgen gerne anbringe und diskutiere.

Beim Angriff Russlands auf die Ukraine haben wir alle erlebt, wie tradierte und längst überholt geglaubte Männlichkeitskonzepte mit einem Fingerschnippen wieder im Raum stehen: "Frauen und Kinder in Sicherheit, Männer an die Front, ohne jede Diskussion" - so lautete die Ansage



2.) Herkunft: Was die Frage nach Männlichkeitsidealen angeht, ist es wichtig, einen Blick auf das Herkunftsland des Mannes zu werfen, mit dem wir gerade zu tun haben. Das gilt vor allem innerhalb Deutschlands. Es kann einen enormen - und meiner Meinung nach in der aktuellen Trauerforschung viel zu wenig berücksichtigten - Unterschied machen, ob der trauernde Mann, mit dem wir gerade zu tun haben, aus West- oder aus Ostdeutschland kommt. 

Man werfe einen Blick in die Bücher junger ostdeutscher Autoren wie Domenico Müllensiefen, Hendrik Bolz oder Daniel Schulz, alle in den 80ern geboren und im Nachwendedeutschland groß geworden. Im Osten, wohlgemerkt. In den sozialen Medien ist unter dem Hashtag "Baseballschlägerjahre" treffend zusammengefasst, wovon sie berichten: Alkohol, Gewalt und Desillusionierung beherrschten die Stimmungslage. Und das allgemein propagierte Männerbild in dieser Gesellschaft atmet allerorten noch die Kruppstahlmentalität der 30er Jahre. Nicht alleine nur auf der Straße, auch in den Küchen der Plattenbauten. Härte und Enge, im Inneren, haben indes maßgeblichen Einfluss auf einen jeden Trauerprozess. Und das ist auch heute noch ein Thema. Zu diesem Themenkomplex passt auch das nächste Stichwort (denn, wie gesagt, all diese hier genannten Aspekte stehen in systemischen Wechselwirkungen zueinander):

3.) Vorbilder. Welche Art Vorbilder habe ich erlebt, wenn es um Männer in Trauer geht? Wie habe ich die Männer in meinem Umfeld wahrgenommen - in Familie, Freundeskreis, Bekanntenkreis, im Arbeitskontext? Wie haben diese Männer reagiert, wenn sie in eine seelische Krise geraten waren? Haben sie ihre Hilflosigkeit in Worte fassen können oder sind sie still geblieben? Sind sie eher aggressiv geworden, haben sie vielleicht versucht, den Aufruhr im Innern mit Alkohol oder anderen Suchtmitteln abzumildern? Kurz: Was wurde mir ganz persönlich vorgelebt, wie "Mann" mit einer Krise umgehen sollte/könnte? Und welche inneren Werte könnten in mir selbst dadurch entstanden sein? Haben vielleicht auch in meine Generation hinein die stillen Großväter weiter hineingewirkt, die aus dem Weltkrieg zurückkamen (falls sie zurückkamen). Jene Großväter, die der Psychologe Wolfgang Schmidbauer so treffend als die "Freudlosen Riesen" umschreibt? 




Das Thema der Vorbilder muss sich dabei, wie oben bereits erwähnt, gar nicht auf das persönliche Umfeld beschränken - wenigstens genauso wichtig sind all die medialen Vorbilder, zumal bei Menschen, die - so wie ich - in immer stärker durch Medienverfügbarkeit geprägten Zeiten groß geworden sind. Tarzan von TKKG ist da nur ein Beispiel von vielen. Politiker, die immer gefasst sein müssen, immer alles im Griff haben müssen und niemals Schwäche zeigen dürfen, beispielsweise, gehören auch dazu. All das wirkt in uns hinein und beeinflusst uns.  




4.) Mein ganz persönliches Männlichkeitsideal (also: Deins, liebe Leserin, lieber Leser). Aus all den oben genannten Faktoren leitet sich meistens das individuelle Männlichkeitsideal ab. Denn wir alle haben eine innere Vorstellung davon, was bzw. wie Männlichkeit eigentlich sein sollte. Nur dass uns das meistens nicht sehr bewusst ist. In meinen Workshops zum Thema Männer und Trauer starte ich manchmal gerne mit genau dieser Übung: Macht Euch einmal Euer ganz eigenes Männlichkeitsbild bewusst? Dann male ich eine Mannessilhouette auf ein Flipchart und sammele die Attribute, die mir die Teilnehmer zurufen. Die Ergebnisse sind keinesfalls immer eindeutig - und doch immer nah am Stereotyp. Interessanterweise. Und da ist es wieder, das Einerseits und das Andererseits, eine schmale Grenze, über die wir immer entlangtänzeln, wenn wir über Männer, Männlichkeit und Geschlechterfragen in der Moderne sprechen. 

Und schließlich spielt bei der Betrachtung all dieser Faktoren noch eine letzte Facette eine ganz entscheidende Rolle: 5.) Das Geburtsjahr/das Alter. Denn Männlichkeitsbilder sind immer auch eine generationale Frage. Die heute 18- bis 25-Jährigen haben bei diesem Thema ganz, ganz andere Vorstellungen als noch jemand wie ich, Baujahr 1975 und in der staubtrockenen Männlichkeitswüste der 80er sozialisiert. Und selbst einer wie ich ist für neue Ideen, zumindest teilweise, offener als viele Männer in den Generationen, die vor uns kamen.

Denn Geschlechterfragen sind eben immer auch Generationsfragen.



Stellt sich jetzt bloß die Frage: Was können wir mit diesem Modell anfangen, wenn wir entweder a) selbst als Mann von einer Krise betroffen sind oder b) Männer begleiten wollen, die gerade in einer seelischen Krise stecken?

Auch hierzu ein paar Stichworte:

1.) Gesprächsthemen/Gesprächsangebote in den Aspekten sehen: Über das Aufwachsen zu reden bzw. über das eigene Aufwachsen nachzudenken, dabei die Themen Vorbilder und Sozialisation zu streifen, das ergibt sich oft aus dem Gesprächsfluss oder dem Gedankenfluss heraus, ohne dass es künstlich "abgefragt" werden muss. Ich selbst habe eine kleine Checkliste all solcher und ähnlicher Fragen zwar stets im Hinterkopf, warte aber bei einer Begleitung gerne ab, ob es und wann thematisch passt. Nicht vergessen: Die Regie bei einer Trauerbegleitung führt nicht der Begleiter, sondern stets der Gast. 

2.) Auf eine Metaebene wechseln: Manchmal mache ich meine eigene Stuhlkreis-Zerrisenheit, wie oben erwähnt, unmittelbar zum Thema, indem ich zu Beginn einer Trauergruppe das Setting anspreche, in dem wir uns gerade befinden. Ich erzähle, mit einer Prise Eigenironie, was Stuhlkreise manchmal in mir auslösen und frage, wem von den Anwesenden es womöglich ebenfalls so geht. Das sorgt manches Mal regelrecht für Erleichterung, es lockert den Rahmen auf und gibt uns eine Chance für einen augenzwinkernden Einstieg - und schon sind wir mitten im Thema: Wieviel Bammel hatte ich vor dem ersten Treffen dieser Trauergruppe (und da hat so ziemlich jeder Bammel, vorher, nach meinen Erfahrungen)...?

3.) Sich die "Lautstärkeregler" angucken: Wer sich die von mir aufgemalten systemischen Bilder näher angesehen hat, dem werden die Pfeile aufgefallen sein, die zwischen den jeweiligen Polen sitzen. Diese Pfeile kann man auch als "Lautstärkeregler" betrachten - man kann ein ähnliches Schaubild anfertigen und den Klienten - vermutlich einen trauernden Mann? - befragen, was er glaubt, wie "laut" es zwischen den jeweiligen Polen ist. Auf einer Skala von 1 bis 10. Gemeint ist mit der Frage, welche Begriffspaare in der persönlichen Einschätzung des Klienten aktuell eine größere Rolle spielen und welche nicht. Das ermöglicht einen differenzierten Zugang ins Seelenleben und kann ggf. weitere Themen eröffnen oder weitere Anknüpfungspunkte fürs Gespräch anbieten. 

Wann ist der Mann ein Mann? Herkunft, Kriegsnähe, elterliche Prägung, das in der Gesellschaft vorherrschende Männlichkeitsbild, das Alter, die gemachten Erfahrungen, das alles sind Faktoren, die die Grönemeyerfrage maßgeblich beeinflussen - und die Frage danach, wie ein Mensch in einem Trauerfall reagiert. 
 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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