Sonntag, 9. Juni 2024

An deutschen Schulen wird viel zu unbedarft mit dem Thema Suizid umgegangen - vor allem, was die Lektüren im Deutschunterricht angeht - eine neue wertvolle Broschüre informiert umfassend über "Suizid im schulischen Kontext" - Wenn der Schuluntericht zur weiteren Katastrophe für die Hinterbliebenen wird

So viele Bücher - in denen sich womöglich Menschen das Leben nehmen (Foto: Pixabay.com/Silviarita)

An deutschen Schulen wird viel zu unbedarft mit dem Thema Suizid umgegangen. Vor allem im Deutschunterricht angesichts zahlreicher Bücher, in denen das Thema eine Rolle spielt und die zum Kanon der Schullektüre gehören. Das ist das generelle Fazit einer sehr lesenswerten neuen Broschüre, die der Bundesverband der Angehörigen um Suizid (AGUS) herausgegeben hat. Darin kommen unter anderem Hinterbliebene zu Wort, die nach dem Suizid eines Angehörigen allerlei Schullektüren rund um dieses Thema im Deutschunterricht behandeln mussten. Das Heft gibt aber auch wertvolle Hinweise für Lehrer und Eltern, wie in der Schule sinnvoller und achtsamer mit dem Suizid als Thema umgegangen werden kann.

„Der Suizid eines Familienmitglieds ist ein Lebensthema“, schreibt die Grundschullehrerin Cordula Tomberger in ihrem Beitrag zum Thema „Umgang mit konkreten Suizidereignissen an Schulen“. Die Autorin ist, wie die meisten in dieser Broschüre, selbst Betroffene, aber auch Mutter von mehreren Kindern. Vor allem macht sich Cordula Tomberger dafür stark, die tatsächliche Todesursache nicht zu verschweigen oder zu verschleiern, wie es ja noch sehr häuftig geschieht: „Das Verschweigen der Todesart Suizid trägt zur Tabuisierung der Krankheit Depression und der Krankheitsfolge Suizid bei“, schreibt sie. Und: „Es ist ein Stück Wertschätzung der verstorbenen Person gegenüber, wenn auch die Todesursache benannt und betrauert werden darf, als eine Facette ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit neben anderen.“

Ich möchte diesen Aspekt gerne noch einmal betonen: Die Todesursache ist eine Facette des Lebens der gestorbenen Person – eine Facette ihrer Persönlichkeit. Eine integrative. Das ist wichtig. Es ist wichtig, das zu anerkennen. Es kann wichtig sein, das besprechbar machen zu können, wo es geht.

So viele Bücher, so viele Suizide - alle Pflicht

Führt man sich die Liste der Bücher vor Augen, die an deutschen Schulen üblicherweise durchgenommen werden (müssen) und in denen der Suizid eine Rolle spielt, wird einem erst bewusst, wie häufig das Thema vorkommt – die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ließe sich vermutlich beliebigb verlängern: „Frühlingserwachen“ von Frank Wedekind, „Die Leiden des jungen Werther“, von Johann Wolfgang von Goethe, „Alle Farben Grau“ von Martin Schäuble, „Zweier ohne“ von Dirk Kurbjuweit, „Tote Mädchen lügen nicht“ von Jay Asher und schließlich „Unterm Rad“ von Hermann Hesse, das mich selbst als Jugendlichen in einer schwierigen Krisensituation mit Suizidgedanken in Kontakt gebracht hat (dazu bald mehr in einem eigenen Artikel auf diesem Blog).

Spannend ist allein schon die Geschichte, wie diese Broschüre entstanden ist. 

 

(Fotos: Thomas Achenbach)
 

Denn die Inspiration kam unmittelbar aus der Erlebniswelt von zwei Schülern, denen es genauso ergangen ist: Nach dem Suizid ihres Vaters – die beiden waren da gerade 14 und 16 Jahre alt – waren sie in der Schule mit Lektüren im Deutschunterricht konfrontiert, in denen der Suizid vorkommt. Und mit der Tatsache, wie unbedacht dieses Ereignis behandelt wird. Die Folge: Verweigerung der Lektüre, Rückzug, Wut, aber auch der Wunsch, sich nicht in der Schule „outen“ zu müssen oder unangenehm aufzufallen. So beschrieben sie ihre Reaktionen zunächst in einem einzelnen Text, den sie für den Rundbrief der Angehörigen um Suizid geschrieben hatten – unter dem Titel „Von Schiller, Goethe und Büchner bis zu aktueller Literatur – der Umgang mit Suizid im Unterricht“. Darin formulieren die beiden Schüler: „Da die meisten der gelesenen Werke auch noch Abi-relevant sind, sind die Schülerinnen und Schüler gezwungen, sich mit ihnen zu befassen. Das empfinden wir (…) als eine regelrechte Katastrophe“ (AGUS-Rundbrief 1/2022, Seite 14).

Hilfreiche Hinweise für Lehrer und Eltern

Genau dieses Spannungsfeld – zwischen seelischen Schutzmechanismen in der eigenen Betroffenheit und gleichsam der Scham und der drohenden Stigmatisierung – ist oft Thema in dem Büchlein. Lehrer, aber auch Eltern, erhalten zahlreiche Hinweise, was hilfreich sein kann und was eher nicht. Die Broschüre spielt dabei alle denkbaren Ereignisse durch: Der Suizid eines Mitschülers oder einer Lehrkraft, der Suizid im Familienumfeld, zurückliegende Suizide, die plötzlich wieder eine neue seelische Wirkmacht entfalten. In einem eigenen Kapitel geht es um die Frage wie der „Suizid als Unterrichtsthema“ behandelt werden kann. Als positives Beispiel wird von einer Unterrichtsstunde berichtet, die eine Schulseelsorgerin mit einer Klasse zum Thema Suizid durchgeführt hat.

Besonders aufschlussreich sind Interviews mit Jugendlichen, die den Suizid eines Mitschülers erleben mussten und auf die Frage eingehen, was ihnen gut getan hätte. Abgerundet wird das Büchlein durch inspirierende Positivbeispiele. 

Mit einem Artikel in diesem Rundbrief fing alles an - so entstand die neue Broschüre.
 

So wird beispielsweise die moderne Initiative „Tonomi Mental Health“ vorgestellt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Lehrkräfte fortzubilden und zu sensibilisieren, wie sie Schülerinnen und Schülern in emotionalen Krisensituationen hilfreich unterstützen können. Parallel finden sich allerlei Hinweise auf hilfreiche Onlinedienste und Bücher wie beispielsweise das Comic „Reden kann Leben retten“, das die jungen Betroffenen und andere dazu ermuntert, den Suizid nicht zu verschweigen, sondern ihn besprechbar zu machen.

Reden kann Leben retten

Den Suizid besprechbar zu machen versuchen – denn „Reden kann Leben retten“. Auch hierzu möchte die Broschüre beitragen. Es kann nicht genug betont werden, wie wertvolle das ist. Denn der Alltag – meiner als Mensch in dieser Welt, aber auch meiner als professioneller Trauerbegleiter – zeigt mir immer wieder, wie groß die Scham ist, wenn es um den Suizid geht, wie groß die Unsicherheiten, wie oft die Todesursache eben doch verschleiert und verschweigen wird. Das ist schade. Wenn wir nicht lernen, über den Suizid zu sprechen, verbauen wir uns so viele Chancen, weitere Suizide zu verhindern. Wie gut, dass diese Broschüre einerseits versucht, für einen anderen Umgang damit zu werben, andererseits aber auch sensibel und vorsichtig genug auf Leser einzugehen vermag, die mit den Themen Tod, Trauer und Sterben eben nicht so alltäglich befasst sind wie der Autor dieser Zeilen oder manche der Autoren von Beiträgen in dem Büchlein.

Die Broschüre: „Suizid im schulischen Kontext“ aus der AGUS-Schriftenreihe „Hilfe in der Trauer um Suizid“ (Autoren: Ulrike Brunner, Gisela Faßbender, Jörg Schmidt, Cordula Tomberger) ist erhältlich über den Bundesverband der Angehörigen um Suizid (AGUS), Telefon 0921/1500380, Internet www.agus-selbsthilfe.de.

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Wichtig: Wer tatsächlich an einen Suizid denkt und diese Gedanken nicht loswird, findet kostenlose und anonyme Hilfe z.B. bei der Telefonseelsorge unter 0800/1110111 - oder als E-Mail-Beratung über die Internetseite www.telefonseelsorge.de

Mehr Informationen: Was der Suizid eines Menschen alles mit den Hinterbliebenen machen kann, dazu findest Du sieben Impulse in einem weiteren Artikel auf meinem Blog - Thema: Trauer und Gefühle nach einem Suizid.
 
Bitte beachte auch diesen Text: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir denken und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

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