Montag, 28. September 2020

Warum sagt man Zugehörige statt Angehörige? Was ist der Unterschied zwischen Zugehörigen und Angehörigen? Wie eine gesellschaftliche Entwicklung die Trauer- und Bestattungskultur mitprägt und warum es wichtig ist, darum zu wissen und sie mitzugestalten

Osnabrück - In jüngster Zeit hat es sich immer mehr durchgesetzt, im Falle eines Todes nicht mehr von den "Angehörigen" zu sprechen, sondern von den "Zugehörigen". Vor allem bei Bestattern gehört das Wort inzwischen zum Standardrepertoire. Ich habe mich oft gefragt: Warum eigentlich? Meine Recherche über diese Frage hat mich weiter geführt als gedacht.

Denn es geht bei diesem Thema um etwas sehr Grundsätzliches: Es geht um die Frage nach Lebensentwürfen. Die sehen heute in jüngeren Generationen oft ganz anders aus als noch vor einigen Jahren. Als zugespitzte These formuliert, ließe sich das so zusammenfassen: Früher war mehr Familie. Oder anders gesagt: Heute spielen die Freunde eine noch viel wichtigere Rolle als früher. Und das gilt eben auch für alle Fragen rund um das Lebensende, also die Fragen nach Sterbebegleitung, Trauerfeiern und Beerdigungen. Womit wir genau beim Thema sind.

Angehörig? Oder zugehörig? Das ist hier die Frage (alle Fotos: Thomas Achenbach)

Das Wort "Angehörige" gilt nach wie vor für Familienmitglieder. Je enger miteinander verwandt man ist, desto angehöriger ist man auch. Das Wort "Zugehörige" ist etwas schwammiger, spannt den Bogen aber wesentlich weiter - und genau darauf kommt es an: Als zugehörig erleben sich auch Freunde, die eben nicht direkt verwandt sind. Wohingegen die direkten Verwandten eben auch irgendwie dazugehören, also ebenfalls zugehörig sind und bleiben, sprich: Das Wort schließt sie nicht aus, sondern durchaus mit ein. 

Viele Alternativen zum klassischen Familienmodell 



Auf meiner Suche nach den Zahlen, Daten und Fakten, die zu der oben geäußerten These passen, stoße ich rasch auf Aussagen wie diese: Mehr als ein ­Drittel der Haushalte sind heute Singlehaushalte, jeder fünfte Deutsche lebt allein, jede zweite Familie heutzutage ist eine Ein-Kind-Familie, die Zahl der Alleinerziehenden steigt von Jahr zu Jahr, außerdem kommen zum klassischen Modell von Mutter-Vater-Kind heutzutage immer mehr alternative Versionen dazu: Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, etc. Ganz abgesehen davon leben wir in der mobilen Moderne, in der Angehörige oft weit entfernt über das ganze Land verstreut wohnen.


Werfe ich einen Blick in mein persönliches Umfeld, werden mir einige Beispiele bewusst: Einer meiner engsten Freunde hier in der Stadt ist auch im Alter von fast 50 Jahren ein alleine wohnender Single, dessen Mutter als einzige noch lebende Verwandte in Süddeutschland wohnt. Ein älteres Ehepaar auf dem Lande, das ich gut kenne und mit dem ich gern zusammenarbeite, diskutiert ebenso offen wie oft über das Gründen von Senioren-Wohngemeinschaften mit Freunden als dem optimalen Altersmodell. Das alles sind zu wenige Erfahrungen, um daraus einen allgemeinen Trend ableiten zu können. Aber wenn sich inzwischen schon die Bestatter angewöhnt haben, ein anderes Wort zu gebrauchen als vorher, wird auch dieser Wandel auf Erfahrungen begründet sein, die sie gemacht haben. 


Eine Überforderung für die Freundschaft?



Aber Freunde in den Tod begleiten? Eine Sterbebegleitung übernehmen? Sich um ihre Trauerfeiern und Beerdigungen kümmern? Ist das nicht alles sehr tragweit, sind die Verantwortungen nicht doch ein bisschen zu groß, als dass ein Freundschaftsmodell sie tragen könnte? Vermutlich geht das nicht ohne eine weitreichende vorherige Abstimmung, am besten eine schriftliche Vereinbarung, eine Art freundschaftlicher Vorsorgevertrag. Zumindest die Soziologin Julia Hahmann - die über Freundschaften ihre Doktorarbeit geschrieben hat und als Expertin für dieses Thema gilt - ist bei diesem Thema jedoch zurückhaltender: "Wenn ich jetzt Freundschaften in ein Umfeld packe, wo sie genau das erfüllen sollen – alltägliche Unterstützungsleistung – dann wird auch noch diese, diese letzte Beziehungsform, die so frei ist von Kosten-Nutzen-Kalkulatorischen Denken ausgehöhlt..." sagte sie einmal dem "Deutschlandfunk Kultur" in einem Feature über Freundschaften in modernen Zeiten (der gesamte Beitrag lässt sich hier finden). 


Bleibt die Frage: Wer kann sich denn überhaupt kümmern, wenn es keine Familie mehr gibt? Sind dann nicht die Freunde ohnehin gefragt, schon aus einer gefühlten moralischen Verpflichtung heraus? Und schon sind wir mittendrin in einem spannenden Thema, dessen Bandbreite zu Diskussionen und Gesprächen einladen sollte. Warum also nicht seine besten Freunde einmal einladen zu einer Art privatem Death Cafè? Und bei Kaffee, Kuchen und freundschaftlichem Zusammensein einmal die ganz großen Fragen des Lebens diskutieren. Ergebnisoffen. Aber zugehörig.

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Der neue Podcast von Thomas Achenbach: "Trauergeschichten - Menschgeschichten", Gespräche über Leben, Tod und Sterben, jetzt online

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Montag, 21. September 2020

Es gibt so etwas wie "Trauer um anderes als den Tod" - und der Film "Kindeswohl" nach der Romanvorlage von Ian Mc Ewan lässt sich meiner Meinung nach noch besser verstehen, wenn man ihn unter diesem Aspekt betrachtet - warum einer der letzten Sätze dieses Films den zentralen Schlüsselsatz bildet, der einen anderen Zugang anbietet - Interpretation und Erklärung zum Film "Kindeswohl"

Osnabrück - Vor kurzem habe ich ein ganzes Wochenendseminar rund um das Thema "Trauer um anderes als den Tod" miterleben dürfen, das mir viele neue Facetten aufgezeigt hat. Natürlich gibt es eine solche Trauer - in vielerlei Ausprägungen -, und natürlich steht sie zu selten im Fokus: Die Trauer um Arbeitsplätze, die man einmal innehatte; um Freunde, die sich von einem abgekehrt haben; um das ungelebte Leben, das man sich einmal erträumt hatte, etc. etc. - die Liste ließe sich beliebig verlängern. Ein Film (und ein Roman), der dieses Thema sehr geschickt auf vielerlei Ebenen durchdekliniert, ist "Kindeswohl" von Ian Mc Ewan. Und bevor ich in Kürze hier eine ganze Artikelserie über Trauerfilme beginne, möchte ich ein paar Zeilen über diesen Film verlieren. Die meisten Kritiker und vielleicht auch Zuschauer haben sich diesen Film bzw. den Roman nicht über die Trauer als Zugang erschlossen - dennoch bietet es sich an. Auch wenn "Kindeswohl" eben kein klassischer Trauerstoff ist, weil er keine klassische Trauer beschreibt.

Eines muss am Anfang gleich gesagt sein: Wer den Film noch sehen möchte, oder das Buch noch lesen, sollte jetzt aufhören zu lesen. Die kommenden Zeilen stecken voller massiver Spoiler, die einem den Genuss vermiesen könnten. Denn "Kindeswohl" besteht erzählerisch gesehen aus zwei Hälften, von denen die zweite einige überraschende Wendungen mit sich bringt. Nicht wenige Kritiker machen das dem Film übrigens zum Vorwurf: Dass er seine beiden Hälften nicht in Einklang zu bringen verstehe und somit auseinanderbreche. Eine Kritik, die sich wiederum anders betrachten lässt, wenn man den Film einmal unter dem Aspekt der Trauer analysiert. Was sowohl der Film als auch das zugrundeliegende Buch (das ich nicht gelesen habe) anbieten. Aber der Reihe nach.


"Kindeswohl" ist derzeit auf DVD, Blueray und bei Streamingdiensten verfügbar (Coverabbildung: © 2019 Concorde Home Entertainment GmbH, Kindeswohl).

Die britische Familienrichterin Fiona Maye ist beruflich enorm erfolgreich und angesehen, weil sie ihre kniffligen Fälle besonnen zu lösen versteht, bei denen es nicht selten um Fragen nach Leben oder Tod geht. Gleich zu Beginn dieser Geschichte hat sie über die Frage zu entscheiden, ob ein Paar siamesischer Zwillinge voneinander getrennt werden sollten oder nicht. Ihre Ehe hat jedoch darunter gelitten. Mit ihrem Mann Jack hat sie weder ein Kind, noch gemeinsame Hobbies. Ihre größte Leidenschaft, das Musizieren und Singen, übt sie mit einem befreundeten Rechtsanwalt aus - und für das Tennisdoppel mit ihrem Mann und einem befreundeten Paar fehlt ihr wegen beruflicher Verpflichtungen die Zeit. Auch die Sexualität ist zum Erliegen gekommen. Weswegen sie ihr Mann schon bald zu Beginn der Geschichte vor vollendete Tatsachen stellt: Er werde jetzt eine Affäre mit einer jüngeren Frau beginnen, verkündet Jack im Hausflur. Nur wenige Augenblicke später hat Fiona Maye über einen neuen kniffligen Fall zu entscheiden: Ein 17-jähriger Junge liegt mit Leukämie im Krankenhaus und könnte gerettet werden - wenn er eine Bluttransfusion bekäme. Doch genau das wollen weder die Eltern noch der Junge selbst. Als tiefgläubige Zeugen Jehovas sind sie überzeugt davon, dass alleine im Blut die Seele liegt und dass diese auszutauschen eine Sünde ist. Auch der Junge selbst wolle nicht gerettet werden, sondern lieber sterben, heißt es im Gericht.

 Szenenfoto: © 2019 Concorde Home Entertainment GmbH, Kindeswohl.

Noch mitten in dem nach außen kaum sichtbaren Gefühlschaos, das die Ankündigung ihres Mannes in ihr ausgelöst hat, unternimmt Fiona Maye einen ungewöhnlichen Schritt: Um sich von der Entschlossenheit des Jungen ein eigenes Bild machen zu können, besucht sie ihn im Krankenhaus. Der Besuch nimmt eine überraschende Wendung, die für den 17-jährigen zum Rettungsanker wird, ohne dass Fiona das in dieser Tiefe ahnen könnte. Sie ordnet eine Bluttransfusion an. Und schon beginnt die zweite Hälfte des Films. Denn was der gerettete Junge nun in ihr zu sehen beginnt, kann Fiona ihm nicht geben: Es ist eine seltsame Mischung aus Wahlmutter - und gleichsam einer Geliebten. Wo würde dieser 17-Jährige wohl das für ihn optimale "Kindeswohl" erleben können - bei seinen leiblichen Eltern, die ihn aus Glaubensüberzeugung in den sicheren Tod geschickt hätten, oder bei der selbst gewählten Wuschmutter, die ihn jedoch ablehnen muss? Und: Muss sie ihn wirklich ablehnen? Kommt Fiona Maye nicht vielleicht selbst ins Zweifeln, ob sie das Angebot nicht doch annehmen dürfte - ein fast erwachsenes Adoptivkind geschenkt zu bekommen? Doch mit der baldigen Rückkehr der Leukämie erreicht das moralische Dilemma seinen Höhepunkt. Am Ende stirbt der Junge, diesmal, weil er sich selbst dafür entschieden hat, wenn auch aus anderen als den religiösen Gründen. Und weil er inzwischen 18 geworden ist, hat das Krankenhaus seinen Willen diesmal zu respektieren. 

Szenenfoto: © 2019 Concorde Home Entertainment GmbH, Kindeswohl

Vordergründig geht es in "Kindeswohl" um die Frage, welche Konsequenzen unsere Entscheidungen in Beruf und Leben haben, wie eng sie mit- und ineinander verwebt sind, wie sie sich gegenseitig bedingen - und ob wir jemals fähig sein können, die ganze Bandbreite der Konsequenzen vorab überblicken zu können, geschweige denn sie tragen zu können. Parallel geht es um die schwierige Frage, was ethisch gesehen höher zu bewerten ist: Das Leben eines Menschen oder seine Würde. "Nach meiner Überzeugung ist sein Leben mehr wert", sagt Fiona Maye in ihrer Urteilsbegründung. Doch so sehr diese Fragen im Vordergrund stehen, bietet der Film auch eine zusätzliche Meta-Ebene an, die entdeckt werden möchte.

Szenenfoto: © 2019 Concorde Home Entertainment GmbH, Kindeswohl.

Denn es gibt zwei markante Schlüsselszenen in diesem Film, von denen sich die erste nicht sofort als solche aufdrängt. Da bekommt das sich gerade mitten in der Ehekrise befindende Paar nämlich Besuch von zwei Kindern. Es sind die beiden Neffen von Jack, die sich für eine Nacht bei den Mayes einquartieren und sich wundern, warum denn ihr Onkel Jack in einem anderen Zimmer schlafen muss. "Dummerchen, weil er so schrecklich schnarcht", gibt einer der beiden Jungen die seiner Meinung nach einzig mögliche Erklärung. Aber das ist nicht das Entscheidende an dieser Szene. Das Entscheidende ist die Verwandlung des zuvor so besonnenen, kontrollierten, fast kühlen Jacks in einen ebenso wilden wie lustigen wie kindlichen Superonkel. Und in dieser Verwandlung liegt der Schlüssel zu dieser ansonsten ziemlich überflüssigen Szene - sie führt uns vor Augen, wie gerne Jack ein Vater gewesen wäre. Und was für ein guter Vater er geworden wäre. Es geht um die verpassten Chancen, die das Paar vielleicht einmal gehabt hatte. Es geht um den Eisberg, der sich im Laufe der Jahre unterhalb der ehelichen Wasseroberfläche immer weiter ausgebreitet hat.

Szenenfoto: © 2019 Concorde Home Entertainment GmbH, Kindeswohl.

Die zweite Schlüsselszene ist das Ende des Films. Von der Todesnachricht des Jungen tief getroffen, sagt Fiona Maye: "Was für eine Verschwendung!" ("Such a waste!"). Es ist dieser eine Satz, an dem ich sehr lange hängengeblieben bin. Es ist dieser eine Satz, dessen Bedeutung erstmal durchdrungen sein will. Es werde nicht ganz klar, was sie damit meint, kritisierte beispielsweise der Rezensent der Hannoverschen Allgemeinen in seiner Filmbesprechung. Es ist ein kurzer Satz, aber er hat es in sich. Denn er bezieht sich nicht alleine auf das Leben des gestorbenen Jungen, sondern parallel auf alle anderen Themen dieser Geschichte. Es ist dieser eine Satz, der das Grundthema der Geschichte charakterisiert: Die Trauer um alles, nicht alleine nur um den Tod, auch um alles andere. Die Trauer um die Elternschaft, die Fiona und Jack niemals hatten und nicht mehr haben werden. Die Trauer um die Rolle als eine Mutter, die Fiona kurzzeitig angeboten bekommen hat. Die Trauer um die Gemeinsamkeiten als Paar, um das Verbindende, um ein gemeinsames Projekt. Die Trauer um all diese nicht genutzten Möglichkeiten und Talente. Die Trauer um Wege, die man nicht gegangen ist, Abbiegungen, die man nicht genommen hat. Und die über allem stehende Frage:

Szenenfoto: © 2019 Concorde Home Entertainment GmbH, Kindeswohl.

Wieviel Scheitern steckt in einem vermeintlich so erfolgreichen Lebensentwurf? Gibt es Lebensentwürfe ohne ein Scheitern darin? Oder steckt nicht in jedem einzelnen Tag auch ein bisschen Verschwendung drin? Es geht in "Kindeswohl" um all unsere Lebenswege, jene, die wir gehen, und jene, die wir nicht gehen. Und es geht darum, dass sich hinter jeder persönlichen Entscheidung auch die Trauer um den Weg verbirgt, den wir nicht zu gehen entschieden haben. Was wir jeden Tag tun, im Kleinen, manchmal im Großen.

Szenenfoto: © 2019 Concorde Home Entertainment GmbH, Kindeswohl.

Was den Film übrigens unbedingt sehenswert macht, ist seine weibliche Hauptdarstellerin: Wie es Emma Thompson gelingt, in kleinen Nuancen die sich anbahnende innere Verzweiflung ihrer Rolle anzudeuten und ihre Vielschichtigkeit auszuloten, die wachsenden Zweifel an ihrer Lebensentwicklung und den getroffenen Entscheidungen, ist große Schauspielkunst. In Kombination mit dem meiner Meinung nach zu unterschätzten Stanley Tucci wird ein intensives Kammerspiel aus diesem Stoff. In einer weiteren Schlüsselszene des Films ist das Musizieren, bei dem Fiona Maye einen emotionalen Zusammenbruch erleidet und dennoch soweit als irgendwie möglich die britisch-distinguierte Fassung bewahrt. An dieser Stelle angekommen, zeigt der Film seine größten Stärken. Auch wenn sich die meisten Kritiker schließlich einig waren, dass das zugrundeliegende Buch wesentlich gelungener ist als seine Leinwandversion. Sei's drum: Als Kammerspiel zweier großartiger Schauspieler - sehenswert. Als kleine Studie darüber, wieviel Verschwendung in unser täglicher Entscheidungswelten stecken - ebenfalls. 

Szenenfoto: © 2019 Concorde Home Entertainment GmbH, Kindeswohl.


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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

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Sonntag, 13. September 2020

Angehörige beim Sterben begleiten - worauf es ankommt: Die 7 spannendsten Lehren eines "Letzte-Hilfe-Kurses"... Was bei einem "Letzte-Hilfe-Kurs" alles unterrichtet wird und warum das genauso wichtig wie Erste Hilfe - Warum rasselnde Atmung nichts Schlimmes ist und warum Sterbende nichts mehr zu essen und trinken benötigen

Osnabrück - Was hat denn Sterbebegleitung mit Prosecco zu tun? Wie passt das zusammen? Eine Ahnung davon hat mir mein erster Kurs in Letzter Hilfe gegeben. Okay, zugegeben, wegen der Coronakrise gab es diesmal keinen Prosecco - und es war auch sonst alles ein bisschen anders als vorher -, aber lehrreich war es so oder so. Schon seit langem wollte ich einen dieser Kurse absolviert haben, die seit 2015 bundesweit angeboten werden und immer beliebter werden. Eine Zeitlang habe ich sogar selbst versucht, diese Letzte-Hilfe-Kurse in Zusammenarbeit mit anderen Anbietern in die Region Osnabrück zu holen, weil mir das Thema so wichtig ist. Dann war das Hospiz Osnabrück aber schneller und nahm die Kurse für seine neu gegründete Akademie mit ins Programm. Zum Glück. Denn so konnte ich ganz entspannt in meiner eigenen Heimatstadt einen Letzte-Hilfe-Kurs absolvieren, nachdem ich dafür schon beinahe nach Bremen oder Hamburg gefahren wäre. 

Die meisten Menschen wollen am liebsten zuhause bzw. in ihrem vertrauten Umfeld bleiben, wenn es an ihr Sterben geht. Und doch ist die Sterberealität in Deutschland eine ganz andere: Meistens im Krankenhaus, höchstens vielleicht in einem Hospiz, so sterben bei uns die Menschen. Das liegt auch daran, dass heutzutage kaum jemand etwas über das Sterben weiß und sich eine eigene Betreuung daheim kaum zutraut. Das macht Angst. Wie ist das - sterben? Was passiert dann? Früher einmal wurde das Wissen darüber in den Familien weitergegeben, früher einmal gehörte das Sterben daheim einfach dazu (auch natürlich, weil es weniger professionelle Hilfe gab). Wer sich über das Sterben schlau machen möchte, an einem kurzen und kompakten Nachmittag, der kann einen Letzte-Hilfe-Kurs besuchen. Entwickelt von dem deutschen Palliativmediziner Georg Bollig aus Schleswig-Holstein, unterliegen diese Kurse einer strikten Qualitätskontrolle und einem strengen Ausbildungsprinzip - sprich: sie sind in ganz Deutschland überall gleich. 


Nicht gewusst: Die Hand halten ist nicht immer gut


Aufgeteilt sind diese Kurse in vier Module von je etwa 45 Minuten, durchgeführt werden sie immer von zwei Dozentinnen bzw. Dozenten, wobei eine/r davon immer aus der Pflege kommen muss, so lauten die Anforderungen. Und auch für mich, der ich mich fast jeden Tag mit den Themen Tod, Trauer und Sterben beschäftige, gab es viel Neues und viel Spannendes dabei zu entdecken. Hier sind in einer rein subjektiven Auswahl die für mich sieben wichtigsten Erkenntnisse (von vielen Erkenntnissen):


(Alle Fotos: Thomas Achenbach)

1. Einem Sterbenden die Hand zu halten oder zu streicheln, ist oft nicht hilfreich. Sterbenden Menschen kann es unter Umständen gehen wie Menschen mit einer Demenz-Erkrankung: Erstens können Körperteile, die weiter vom eigentlichen Rumpf entfernt liegen, oft gar nicht mehr wahrgenommen werden, also nicht mehr gespürt werden, zweitens kann das Streicheln von Armen oder Händen mit seiner Bewegung eines ständigen Hin und Hers als besonders unruhig erlebt werden. Deswegen kann es besser sein, einen Sterbenden an der Schulter zu berühren und die eigene Hand dort in einem ebenso zärtlichen wie festen Griff ruhen zu lassen. Das bedeutet nicht nur für die Angehörigen ein Umdenken - sondern vor allem für die deutsche Presselandschaft. Denn die benutzt zur Illustration des Themas Sterbebegleitung schon seit Jahrzehnten ein immergleiches Motiv (und meistens übrigens ein- und dasselbe Bild): Eine junge Hand hält eine erkennbar schwache alte Hand.   

2. Auf Palliativstationen geht es nicht ums Sterben: Es geht um Stabilisierung. Viele Krankenhäuser in Deutschland haben inzwischen eine Palliativstation eingerichtet. Und auch wenn die meisten Menschen noch nicht wirklich eine Ahnung davon haben, was dort genau geschieht (also die Menschen außerhalb des Hospiz-/Trauer-Kontextes), so spricht sich immer mehr herum, dass es sich bei Palliativstationen um Sterbestationen handelt. Weil die "irgendwie so funktionieren wie eine Art Hospiz". So ungefähr. Das ist aber nur zum Teil richtig: Zwar ist die Geschichte der Palliativstationen eng gekoppelt an die Hospizbewegung rund um deren Gründerin Cicely Saunders. Und doch heißt es wörtlich in einem Letzte-Hilfe-Kurs: "Das erste Ansinnen einer Palliativstation war immer, die Patienten erstmal zu stabilisieren mit dem Ziel, auch wieder zu entlassen". Eine gute palliative Versorgung ist nämlich nach einer solchen Stabilisierung auch an anderen Orten möglich: Zuhause, zum Beispiel, in Form einer ambulanten Versorgung. Oder eben in einem Hospiz, was den Vorteil hat, dass dort noch weniger Krankenhausatmosphäre herrscht. Bei einer palliativen Versorgung geht es übrigens immer um das Thema Lebensqualität: Das Leiden zu lindern, aber nicht mehr alleine auf Gesundwerdung als oberstes Ziel zu setzen (wenn diese Gesundwerdung mit einer immer eingeschränkteren Lebensqualität einherginge), das steht dabei im Vordergrund. Es geht darum, das Sterben zulassen zu können - und es nicht mit aller Macht verhindern zu wollen.


3. Die größten Beschwerden am Ende des Lebens können eher seelischer Natur sein, weniger körperlicher Natur. Ein fester Bestandteil eines solchen Letzte-Hilfe-Kurses ist die Auflistung der möglichen Leiden, die während eines Sterbeprozesses auftreten können. Betrachtet man diese Liste genau, fällt einem auf: Es sind nur zu etwa 25 Prozent körperliche Beschwerden darauf zu finden. Vor allem aber sind es seelische Beschwerden, die auftreten können. Hätte ich ehrlich gesagt anders eingeschätzt. Es ist das Verdienst der Palliativbewegung, das sie auch diese seelischen Leiden überhaupt mit einbezieht. Auch das geht zurück auf die Hospizikone Cicely Saunders, die dafür den Begriff der „Total Pain“ eingeführt hat. Soll heißen: Gerade bei einem sterbenden Menschen müssen wir alle weiteren schmerzenden Faktoren außerhalb der rein körperlichen mitberücksichtigen. Das könnten z. B. soziale, seelische, aber auch spirituelle Krisen sein, die für innere Schmerzen sorgen können.

4. Ein Sterbender braucht einfach nichts mehr zu essen oder zu trinken. Nix. Einer der wichtigsten Sätze aus einem Letzte-Hilfe-Kurs, der immer wieder gerne zitiert wird (und der gar nicht oft genug zitiert werden kann), lautet: Man stirbt nicht, weil man aufhört zu essen und zu trinken, sondern man hört auf zu essen und zu trinken, weil man stirbt.“ - Denn für sterbende Menschen kann es eine ungeheure Überforderung sein, weiterhin mit Essen und Trinken versorgt zu werden. Das Verarbeiten von Nahrung kostet viel Energie, die nicht mehr da ist. Man könnte es auch anders formulieren: Innerhalb eines Sterbeprozesses entscheidet sich ein Mensch ganz unwillkürlich (und vielleicht ebenso unbewusst wie bewusst) dazu, mit der Aufnahme von Nahrung jedweder Form aufzuhören. Erst stellt der Körper das Essen ein, später auch das Trinken. Man könnte das als "Sterbefasten" bezeichnen. Aber es ist eben total normal. Leider führt genau dieser Punkt immer wieder zu Irritationen und Missverständnissen zwischen Pflegekräften und Angehörigen. Wenn die Angehörigen nachhaltig dazu auffordern, den sterbenden Menschen bitte weiterhin mit Trinken und Essen zu versorgen, kann das zu einem Streitpunkt werden. Und auch die Pflegekräfte z. B. in Seniorenheimen reichen nach meinen persönlichen Erfahrungen oft noch unnötig lange Nahrung und Wasser an, meistens aus eigenen Unsicherheiten heraus (Letzte-Hilfe-Kurse sollte es deswegen unbedingt auch für ein solches Pflegepersonal geben). 



5. Eine rasselnde Atmung ist nichts Schlimmes und gehört zum Sterbeprozess einfach dazu. In den Sterbeprozessen meiner Großeltern, die ich - in Teilen - miterleben konnte, hat mich das immer am meisten erschreckt: Dieses rasselnde Atmen, das viele Sich-Verschlucken und das schlechte Vermögen, etwas abhusten zu können. Das verunsichert und macht ebenso rat- wie hilflos. In einem Letzte-Hilfe-Kurs lernen wir: Erstens gehört diese Rasselatmung, im Volksmund als "Todesröcheln" bezeichnet, unmittelbar dazu, zweitens erleben die Sterbenden selbst sie wohl nicht als belastend. Wohl aber das Abhusten, das nach meiner Erfahrung vor allem nach dem Trinken auftritt, wobei hierfür sicher gilt, was wir im vorherigen Punkt zum Thema Nahrungsaufnahme erfahren haben: Der sterbende Mensch und sein Körper wollen (und können) einfach nichts mehr trinken oder essen.  

6. Die Totenstarre setzt etwa zwei Stunden nach dem Sterben ein, aber sie löst sich auch wieder auf: Es dauert rund zwei Stunden nach Eintritt des Todes, bis die Muskeln eines gestorbenen Menschen steif zu werden beginnen, weil darin biochemische Prozesse ablaufen. Nach weiteren sechs bis acht Stunden ist diese Steifheit des Körpers vollends ausgeprägt. Aber diese auch Leichenstarre genannte Erscheinung ist nichts, das langfristig bleibt: Nach etwa 36 oder 48 Stunden, im Durchschnitt, hat sich das Phänomen von selbst wieder aufgelöst. Erst danach beginnt der Körper mit der eigentlichen Verwesung. Wobei auch das ein sehr, sehr langfristiger Prozess ist - ein Aufbahren eines gestorbenen Menschen kann bis zu drei Tage lang möglich sein und kann, je nach Art des Todesfalls und der Umstände, als ein für die Trauernden guter Einstieg in die Trauerzeit erlebt werden. Übrigens gibt es so etwas wie das "Leichengift" nicht, das ist einer der sich hartnäckig haltenden Mythen rund um den Tod (mehr dazu hier). 


7. Und was ist denn jetzt mit dem Prosecco? Da geht es um die Frage des Lieblingsgetränkes - weniger das Lieblingsgetränk des Sterbenden, als vielmehr das der Kursteilnehmer. Denn normalerweise gehört zu einem Letzte-Hilfe-Kurs auch eine praktische Übung, die die Teilnehmer mit einer wichtigen Methode in Kontakt bringen soll, die bei einem Sterbeprozess immer zur Anwendung kommen sollte: Das Befeuchten der Lippen. Obwohl bei Sterbenden das Bedürfnis nach Nahrung verschwindet, haben sie weiterhin Durstgefühle. Das kann dann wiederum quälend werden, weil es ja nichts mehr gibt bzw. geben sollte, was den Durst löschen kann. Außerdem trocknen sowohl die Lippen als auch die Schleimhäute im Hals bei Sterbenden ein, unter anderem wegen der vielen Atmung durch den Mund. Deswegen gehört eine gute Mundpflege unbedingt zu dem, was Sterbenden eine gute Letzte Hilfe sein kann. Gezeigt wird das im Letzte-Hilfe-Kurs mit Schaumstoff-Stäbchen. Die können in ein Getränk getaucht werden und dann können damit die Lippen bestrichen, also befeuchtet, werden. Das lindert Trockenheit und Durstgefühl und kann den Sterbenden sehr gut tun. In Nicht-Corona-Zeiten wird so etwas im Selbstversuch gezeigt. Jeweils ein Kursteilnehmer bestreicht einem anderen die Lippen. Mit einem Lieblingsgetränk. Auch wenn das Prosecco ist. Ob man Sterbenden unbedingt Prosecco geben sollte, steht nun wiederum auf einem anderen Blatt. Aber Saft zum Beispiel kann es sein. Oder halt Wasser.


Die Letzte Hilfe ist so alt wie das Rote Kreuz


Es gibt noch eine weitere spannende Erkenntnis, die mich fasziniert hat. Aber weil sie nichts Konkretes über den Sterbeprozess aussagt oder darüber, was dann hilfreich ist, habe ich sie an das Ende dieses Artikels gestellt. Sozusagen als meine Erkenntnis Nr. 7.2. Sie lautet: Erste Hilfe hätte es ohne Letzte Hilfe niemals gegeben, bei ihrer Einführung ging es alleine nur um Sterbebegleitung: Der Mensch, der das Rote Kreuz gegründet hat - und damit den ersten professionellen Erste-Hilfe-Dienstleister -, tat dies wegen seiner Erfahrungen als unfreiwilliger Sterbehelfer auf dem Schlachtfeld eines Krieges. So war die Notwendigkeit von Sterbebegleitung in krisenhaften Ausnahmesituationen die ursprüngliche Motivation dafür, das Rote Kreuz zu gründen. Es war der Schweizer Henry Dunant (1828-1910), der im Krieg zwischen Österreich/Sardinien und den Franzosen unter Napoleon dem Dritten die Entscheidungsschlacht von Solferino erlebte (im Jahre 1859). Dort habe er Soldaten erlebt, die ihn anflehten, er möge bitte während ihres Sterbens bei ihnen bleiben - so wird es in seiner Biographie geschildert. Dieser Erfahrungen wegen gründete er später die "Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung". Als Verein für Sterbebegleitung. Erst später schob sich die Erste Hilfe immer weiter in den Vordergrund.


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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

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Sonntag, 6. September 2020

Warum eine bayerische Behörde mit einer vorbildlichen Initiative zum Vorreiter in Sachen Trauerkultur geworden ist - was das Landratsamt Ebersberg Anfang 2020 eingeführt hat, ist im deutschsprachigen Raum einmalig (zum Finale der Serie "Trauer im Arbeitsleben", Folge 5)

Osnabrück/Ebersberg - Was sich da im bayerischen Ebersberg in der Nähe von München getan hat, ist nach meiner Kenntnis deutschlandweit einmalig und auf jeden Fall vorbildlich: Denn das dortige Landratsamt ist die erste Institution überhaupt, die eine Betriebsvereinbarung zum Thema Trauer und Verlust am Arbeitsplatz geschaffen hat. Dort heißt sie zwar Dienstvereinbarung, weil ein Landratsamt ja kein produzierender oder in der freien Wirtschaft angesiedelter Betrieb ist, allerdings ein wichtiger Arbeitgeber für über 500 Angestellte. Bei einer solchen Anzahl von Menschen ist auch der Tod nie weit weg. Die Einführung dieser Dienstvereinbarung ist ein weiterer wichtiger Meilenstein in Sachen Trauer am Arbeitsplatz, der noch nicht existierte, als mein Buch zu diesem Thema gerade in Druck gegangen war. Deswegen ist es mir so wichtig, hier auf dem Blog noch ein paar ergänzende Zeilen dazu zu veröffentlichen - in Ergänzung zu den Praxistipps und Impulsen, die sich in dem Buch "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" aus dem Campus-Verlag noch finden lassen (alle Infos zum Buch finden sich hier). 

Jutta Hommelsen ist im Landratsamt Ebersberg als Leiterin des Zentralen Sozialdiensts beschäftigt - und jetzt ist sie dort zusätzlich als Trauervertrauensperson installiert und ansprechbar zu allen Themen rund um Trauer und Verlust. Sie war es auch, die den Anstoß gegeben hatte und beim Formulieren und Gestalten der Dienstvereinbarung mitgewirkt hatte. Ich selbst habe Jutta einmal bei einem Netzwerktreffen verschiedener Trauerbegleiter kennenlernen dürfen, wo sie mir schon von dieser kommenden Entwicklung berichtet hatte, ohne dass diese bereits offiziell eingeführt worden war. Vor kurzem habe ich mit Jutta Hommelsen ein Interview für meinen Podcast aufnehmen dürfen, in dem sie von dieser neuen Dienstvereinbarung und dem Weg dorthin berichten konnte. Und wie funktioniert diese erste deutsche Betriebsvereinbarung zum Thema Trauer und Verlust? Hier sind die fünf wichtigsten Punkte im Überblick:


Jutta Hommelsen vor dem Gebäude des Landratsamtes (Foto: Evelyn Schwaiger, Landratsamt Ebersberg)

1.) Den Mitarbeitern stehen bezahlte Auszeiten zur Verfügung (wenn sie von einem Trauerfall betroffen sind): Diese so genannte Trauerfreistellung kann bis zu 80 Stunden umfassen, sofern der Mitarbeiter in Vollzeit beschäftigt ist. Aber auch die Mitarbeiter in Teilzeit haben einen Anspruch - denn wieviel Zeit für eine solche Freistellung zur Verfügung steht, hängt an der Anzahl der vertraglich zu leistenden Stunden. Zu beachten ist außerdem, dass dieses Zeitkontingent nicht am Stück genommen werden muss, sondern binnen eines Zeitraums von zehn Monaten flexibel beansprucht werden kann.

2.) Für gestorbene Mitarbeiter wird ein Kondolenz- und Abschiedsraum eingerichtet: In dem Kondolenzraum wird ein Tisch eingerichtet, der mit Blumen geschmückt ist und in dem ein Blanko-Buch ausliegt, in das sich jeder, der mag, eintragen kann. Wenn vorhanden, wird dort zudem ein Foto aufgestellt. Bei dem Raum selbst handelt es sich um einen Konferenzraum, der für diesen Zweck extra umgewidmet werde kann, wie Jutta Hommelsen es im Interview schildert. Ein paar Mal sei dies bereits vorgekommen. Das ausgefüllte Kondolenzbuch wird später übrigens den Angehörigen übermittelt (das ist - nebenbei bemerkt - übrigens auch einer der Tipps, die sich in meinem Buch finden lassen). 


Wer in Trauer zur Arbeit geht, kann u. a. unter Konzentrationsproblemen leiden - oder den Sinn von alledem in Frage stellen (alle Symbolfotos: Thomas Achenbach)

3.) Das Landratsamt verfügt über eine Trauervertrauensperson: Diese ist nicht nur der erste Ansprechpartner für alle, die von einem Trauerfall oder einer anders gelagerten Verlustsituation betroffen sind (z.B. Verlust des Partners durch Scheidung, Verlust von Gesundheit, etc.), sondern sie kann auch von Teams im Falle eines Trauerfalls angefordert werden, um bei einem Workshop über Trauer zu informieren und dem Team eine emotionale Stütze zu sein. Für all diese Tätigkeiten hat Jutta Hommelsen, die diese Aufgabe im Landratsamt innehat, ein Zeitkontigent von mehreren Stunden pro Woche zur Verfügung gestellt bekommen, das sie alleine diesem Zweck widmen darf. Weil Jutta Hommelsen vor einigen Jahren eine zusätzliche Qualifizierung zur Trauerbegleiterin absolviert hatte, ist sie eine gute Besetzung für diese Position.

4.) Die Themen Trauer und Verlust sollen integraler Bestandteile der Unternehmenskultur werden. Diese Themen und die Hilfsmöglichkeiten immer wieder anzubieten, aber auch allgemein für einen guten Umgang mit Verlustsituationen und mit Trauer zu sorgen, soll zunehmend zum selbstverständlichen Bestandteil der innerhäuslichen Kultur des Landratsamts werden. So gibt es beispielsweise auch ein Notfallteam, das ebenfalls hinzugezogen oder um Rat gefragt werden kann. 

5.) Gestorbener Mitarbeiter wird im April gesondert gedacht: Wenn der Frühling naht, werden im Eingangsbereich des Landratsamts noch einmal gesonderte Erinnerungen an die verstorbenen Mitarbeiter ausgehängt, wenn möglich, mit Foto und ein paar persönlichen Zeilen. Ganz bewusst habe man sich für einen Termin im Frühling entschieden, berichtet Jutta Hommelsen im Interview.

Das Dokument, in dem dies und mehr festgelegt wurde, trägt übrigens den Titel: "Dienstvereinbarung zum Umgang mit Trauer unter dem Aspekt von Verlusterfahrungen, bei Tod, bei Trennung/Scheidung und von Gesundheit". Der soziale Gedanke und die Mitarbeiterfürsorge stünden dabei im Vordergrund, so wird die Personalleiterin Margrita Schwanke-Berner in einem Artikel der "Süddeutschen Zeitung" zitiert - diese berichtete ebenfalls inzwischen über die neue Dienstvereinbarung. Aber auch wirtschaftlichen Aspekten, etwa durch die Vorwegnahme von Krankschreibungen, werde hier Rechnung getragen, heißt es in dem Text weiter.




Weitere Praxisbeispiele, wie das Thema Trauer im Arbeitsleben derzeit von Unternehmen und Institutionen gepflegt und bearbeitet wird, finden sich übrigens in meinem Buch "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise". Das Buch versteht sich als Leitfaden für Führungskräfte, Personalverantwortliche und für Betriebsräte. Die darin versammelten Beispiele zeigen, was sich in Deutschland in Sachen Trauer am Arbeitsplatz bzw. Unterstützung von pflegenden Mitarbeitern getan hat, beispielsweise aus Hamburg, dem Ruhrgebiet, Nordhorn, aber auch aus Süddeutschland. Und weitere Informationen über die neue Dienstvereinbarung gibt es in meinem Podcast in einem exklusiven Interview mit Jutta Hommelsen, das sich unter diesem Link hier finden lässt....  


Alle Folgen der Artikelserie zum Thema "Trauer am Arbeitsplatz":


Folge 1: In fünf bis zehn Jahren braucht jedes Unternehmen ein tragfähiges Konzept
Folge 2: England macht es vor: Das Jack's Law hilft Eltern beim Verlust eines Kindes
Folge 3: Damit ganz Europa sprachfähig wird in Sachen Trauer - eine neue Initiative
Folge 4: Warum "Trauer am Arbeitsplatz" jetzt Thema im Schulunterricht wird
Folge 5: Die deutschlandweit erste Trauer-Betriebsvereinbarung - so funktioniert sie

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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