An dieses Foto können sich manche vielleicht noch erinnern. Es ist eines dieser Fotos, die für sich betrachtet wenig aussagen, aber im dazugehörenden Kontext eine tiefgehende Wirkungsmacht bekommen: Die Rettungskräfte vom Roten Kreuz und von anderen Hilfsorganisationen stehen vor dem Gebirgsmassiv bei Le Vernet in Frankreich. Sie stehen an der Stelle, an der heute eine Gedenkstele an den Crash des Germanwings-Flugs 9525 erinnert, also jenes Fluges, der am 24. März 2015 vom Co-Piloten Andreas Lubitz in vermutlich suizidaler Absicht gegen eine Gebirgswand gesteuert worden war. Was dem Begriff "Erweiterer Suizid" eine ganz neue Tragweite verliehen hatte. Im März 2015 hatten an diesem Ort die Autos der Angehörigen gestanden, deren Verwandte an Bord des Germanwings-Flugs 9525 gewesen waren. Es war genau dieses Bild, das den Wiener Politikwissenschaftler Thomas Geldmacher-Musiol nachdenklich gemacht hatte.
(Foto: Daniel Naupold/dpa/Picture Alliance, Nutzungsrechte zur Verwendung im Blog erstanden/freigegeben) |
Denn er stellte sich die Frage: All diese Angehörigen aus aller Welt, die im März 2015 dort nach ihren toten Verwandten hatten suchen wollen - haben die sich wohl Urlaub von
ihrer Arbeit nehmen müssen, um sich diesem Schicksal zu stellen? Und weil es
sich unter anderem um Menschen aus Spanien, Deutschland, aber auch aus Polen
oder den Niederlanden handelte, stellten Daniela Musiol und Thomas
Geldmacher-Musiol in einer Untersuchung zusammen, was sie an Regelungen zum Thema
Trauer am Arbeitsplatz aus diesen und anderen EU-Ländern finden konnten. In
Deutschland, Spanien und Italien beispielsweise haben die Menschen in einem
Trauerfall derzeit Anspruch auf durchschnittlich zwei Tage bezahlte Auszeit. In
England dürfen sie zwar drei bis fünf Tage der Arbeit fernbleiben, dafür aber
unbezahlt - außer beim Verlust eines Kindes. Und in den Niederlanden können sich Menschen in einer
Trauersituation einen Tag bezahlt freinehmen. Dass das alles nicht ausreicht,
dürfte klar sein. Was die Rundumberater wiederum dazu veranlasste sich zu
überlegen, wie EU-weite Mindeststandards aussehen könnten,
wie Thomas Geldmacher-Musiol es im März 2020 in einem Vortrag auf der Wiener Messe
"Seelenfrieden" berichtete...
(Dieses und das folgende Foto: Thomas Achenbach) |
Was den beiden Politik-Profis vorschwebt, ist erstens eine Regelung, die sich am gerade frisch eingeführten Modell des britischen "Jack's Law" orientieren könnte: bis zu zwei Wochen können sich diesem Gesetz zufolge Arbeitnehmer eine Trauerauszeit nehmen, wenn sie ein Kind verloren haben. Bezahlen muss dies der Arbeitgeber. Der Vorschlag der Wiener Experten geht noch weiter: Nicht alleine nur beim Verlust von Kindern, sondern in jedem Fall einer Trauer- und Verlustsituation müsste EU-weit der Standard gelten, dass Arbeitnehmer einen Anspruch auf ein paar Wochen Auszeit hätten. Doch ob die Arbeitgeber immer bereit wären, dies zu finanzieren, ist fraglich. Deswegen haben Daniela Musiol und Thomas Geldmacher-Musiol eine zweite Idee entwickelt.
Bezahlte Auszeit bei einem Trauerfall - EU-weit
Ihnen schwebt eine gesicherte finanzielle Unterstützung vor, die sich am Modell der in Österreich geltenden "Familienhospizkarenz" orientiert. Wobei Thomas Geldmacher-Musiol auf Nachfrage noch einmal konkretisiert: "Eigentlich schwebt uns das als Sozialleistung vor, die ggf. über einen Fonds verwaltet werden könnte. In Österreich kommen die Mittel für das Pflegekarenzgeld aus dem FLAF, dem Familienlastenausgleichsfonds." Dabei geht es um die Begleitung von sterbenden Familienangehörigen, für die sich Mitarbeiter frei nehmen und ein unterstützendes Pflegegeld beantragen können. Dies hapert zwar noch an einigen Details, die selbst die zuständigen Ämter nicht alle durchschauten, sei aber grundsätzlich gesehen ein gutes Modell. Und so funktioniert die Regelung:
Sind Kinder lebensbedrohlich schwer erkrankt oder liegen Angehörige im Sterben, so können österreichische Mitarbeiter ihre Arbeitszeit reduzieren, auf andere Zeiten verlagern oder sich gänzlich vom Dienst freistellen lassen, für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, die je nach Situation um weitere drei Monate verlängert werden können. Zudem haben sie einen Rechtsanspruch auf das „Pflegekarenzgeld“. Ähnliches gilt eben auch im Fall von sterbenden Angehörigen, bei denen dann die so genannte "Familienhospizkarenz" greift. Das Geld stammt jeweils aus einem Fond. So oder ähnlich könnte es auch EU-übergreifend geregelt werden.
Die vereinigten Staaten des Trauerverständnisses
Die nächsten Schritte der beiden werden jetzt sein, das Thema bei den zuständigen Politikern zu platzieren und eine Diskussion in den entsprechenden Gremien anzuregen. Eine von mehreren Entwicklungen übrigens, die sich parallel zum Erscheinen meines Buches "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" ergeben haben, sich aber vor dem Erscheinen noch gar nicht abgezeichnet hatten, und die deswegen Thema dieser ergänzenden Artikelserie geworden sind.
Alle Folgen der Artikelserie zum Thema "Trauer am Arbeitsplatz":
Folge 1: In fünf bis zehn Jahren braucht jedes Unternehmen ein tragfähiges Konzept
Folge 2: England macht es vor: Das Jack's Law hilft Eltern beim Verlust eines Kindes
Folge 3: Damit ganz Europa sprachfähig wird in Sachen Trauer - eine neue Initiative
Folge 4: Warum "Trauer am Arbeitsplatz" jetzt Thema im Schulunterricht wird
Folge 5: Die deutschlandweit erste Trauer-Betriebsvereinbarung - so funktioniert sie
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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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