Wie kommen wir gut durch die Krisenzeiten unseres Lebens? Was hilft, wenn Seele und Geist (und vielleicht auch der Körper) einen der Tiefpunkte des Lebens zu durchschreiten haben? Gibt es vielleicht gute Strategien zur allgemeinen Lebenshilfe, die die Trauerbegleitung anbieten kann? Oder anders gefragt: Lässt sich aus der Trauerbegleitung etwas fürs Leben allgemein lernen? Für die Trauerbeilage der Neuen Osnabrücker Zeitung durfte ich zwei exklusive Artikel schreiben, deren ungekürzte Originalfassungen ich jetzt auch auf meinen Blog anbieten darf. Hier ist die zweite davon - und es geht darin nicht allein um Trauer:
"Du kennst Dich doch mit sowas aus". Einer dieser Sätze, mit dem sich jemand, der sich auf Trauerbegleitung spezialisiert hat, gelegentlich konfrontiert sieht. Ein Satz, der oft, aber durchaus nicht immer, im Kontext von Tod, Trauer und Sterben gesagt wird. Sondern manchmal einfach nur, weil jemand in einer Lebenskrise ganz anderer Natur steckt. Es steht die Vermutung im Raum: Wer Erfahrungen mit Trauer hat, wer Menschen in einer solchen Ausnahmesituation begleitet, der kann auch bei anderen Krisen helfen. Aber ist das wirklich so? Nun, tatsächlich lassen sich aus der Trauerbegleitung heraus ein paar Impulse ableiten, was bei Krisen allgemein hilfreich sein kann. Immer unter der Prämisse: Trauer selbst ist ein Land, das seine ganz eigenen Regeln hat.
Hier sind zuerst einmal fünf Impulse für die Betroffenen selbst:
- 1. Wo Ohnmacht ist, hilft Selbstwirksamkeit: Rein psychologisch gesehen wird Selbstwirksamkeit definiert als die Gewissheit, eine Situation selbst meistern zu können. Was in Krisensituationen schon etwas ziemlich Großes sein kann, je nachdem, wie groß die Ohnmacht bzw. die Hilflosigkeit ist, der man sich ausgesetzt fühlt. Aber dieses ganz Große beginnt meist im ganz Kleinen. Schon kleinste Handlungen können zeigen, dass die Ohnmacht zwar noch da ist, aber nicht mehr die alles beherrschende Übermacht über die Psyche hat - wie zum Beispiel das Staubsaugen (ja, sogar das Staubsaugen). Auf dieses Wirkprinzip setzt unter anderem die Notfallseelsorge. Der dahinterliegende Gedanke lässt sich in den Alltag transportieren. Wer beispielsweise in ein Fitnessstudio geht und dort seine Hanteln schwingt, der trainiert seinen Muskel - immerhin etwas, das funktioniert, auch wenn Seele und Psyche ansonsten am Boden liegen. Der frisch verwitwete Mann, der anfängt, sich selbst Reis zu kochen und ein paar ganz simple Haushaltstricks ganz neu zu lernen, erlebt sich als ein klein wenig (selbst-) wirksamer als vorher. Was für ihn schon mal ein klitzekleines Erfolgserlebnis ist, aller Ohnmacht zum Trotz. Darum geht es: Auf einer ganz kleinen Ebene wieder ein Gefühl von eigener Handlungsmöglichkeit erfahren zu können.
Hindernisse, Ohnmächte - Lebenskrisen.... (alle Fotos: Thomas Achenbach). |
- 2. Seine eigenen Überforderungen einzugestehen, kann einen weiterbringen - weiter jedenfalls als das überall omnipräsente "Alles gut"... - Bloß keine Schwächen zeigen, bloß nicht zeigen, dass man eigentlich nicht weiterweiß, sich bloß nicht blamieren. Noch viel zu oft erleben wir im Arbeitsalltag, aber auch im persönlichen Alltag, wie Menschen einem vermitteln, es sei alles in Ordnung. Auch wenn man sich ganz leise fragt, ob das wirklich so ist - bzw. ob es wirklich so sein kann. Der Kollege, der gerade in Arbeit ertrinkt, sagt: Alles gut. Der Nachbar, dessen Frau ihn verlassen hat: Alles gut. Der plötzlich alleinerziehende verwitwete Vater, den wir beim Abholen an der Schule treffen: Alles gut. Aber: Wenn wirklich immer alles gut wäre - wie unmenschlich wäre denn das, bitte? Und dennoch: Wer traut sich schon, anderen Menschen - aber auch sich selbst gegenüber - einzugestehen; nein, es ist gerade eben nicht alles gut? Ich stecke gerade in einer Krise. Genau das ist der innere Schalter, den umzulegen so hilfreich sein kann. Wer sich - und anderen - seine Überforderungen eingestehen mag, der nimmt eine andere Haltung ein: Ich bin gerade in einer Krise. Ich kann das akzeptieren. Das bedeutet nicht, dass ich es begrüße oder toll finde; es bedeutet auch nicht, dass ich resigniere. Akzeptanz heißt nicht, aufgeben oder sich überfahren lassen. Akzeptanz heißt nur, sich nicht immer gegen das anzustemmen, was gerade ist. Denn wie es im Coaching so schön heißt: "Whatever you resist, will persist" - sprich: das, wogegen Du Dich am meisten stemmst, wird alleine durch Deine Anstrengungen nur noch größer und größer. Wenn ich aber aufhöre, zu sagen, "Ich will das nicht", wenn ich stattdessen sage (und fühle): "Okay, Krise, Du bist da, ich sehe Dich, ich spüre Dich", dann stoppe ich dieses Wachstum. Immerhin das.
Meine beiden Artikel aus dem aktuellen Trauerratgeber der Neuen OZ. |
- 3. Konsequente Selbstfürsorge ist das, was zählt. Wer in einer Krise steckt, vielleicht einer richtigen Lebenskrise, der hat sich zunächst einmal um sich selbst zu kümmern. Ohne natürlich die allerwichtigsten Pflichten zu vernachlässigen, der Hund, wenn es einen gibt, muss immer noch sein Fresschen bekommen (die Familie übrigens auch) - aber dennoch mit einer freundlichen Haltung sich selbst gegenüber. Jetzt bin ich mal dran, diesen Gedanken darf es geben. Denn ich habe mich jetzt um mich selbst zu sorgen, das darf eine Haltung sein. "Nur wer selbst gut begleitet ist, kann andere begleiten", heißt ein Lehrspruch aus der Trauerbegleiterqualifizierung. Das ist natürlich eine Haltung, die ein gewisses Ausprobieren, aber auch ein Sich-dran-gewöhnen erforderlich machen kann. Vor allem sehr verantwortungsbewussten Menschen fällt es unsagbar schwer, sich selbst mal nach vorne zu stellen. Diesen Schalter umzulegen, ist tatsächlich etwas, das man von Donald Trump lernen kann (jawohl, sogar von Trump): Ich zuerst (Me first)! Wenigstens in der Krise darf das sein. Und auch für Selbstfürsorge gilt: Sie muss gar nichts ganz Großes sein, sondern ist oft etwas sehr, sehr Kleines. Oder anders gesagt: Etwas, das im ganz Kleinen beginnt. Der Irrglaube, dem viele Menschen erliegen, ist: Weil die durch die Krise ausgelösten Gefühle so groß sind, müsste der Gegenpol dazu - also das, was hilft -, ebenfalls etwas wirklich Großes sein.
- 4. Leid will (mit-) geteilt und verstanden werden. Es ist gar nicht soviel, was wir in der Trauerbegleitung anbieten - aber dann doch mehr als andere geben können. Wir schaffen einen Raum, in dem das Leiden einfach "sein" darf. Einen Raum, in dem wir uns angucken können, was im Inneren gerade los ist, es ins Wort bringen und besprechen können. Einen Raum, den die Menschen in einer Krise meistens kaum irgendwoanders finden, vor allem in einer Trauer- und Verlustkrise, weil das Umfeld, die Freunde, die Verwandten, damit kaum umzugehen wissen. Wenn Leiden mitgeteilt werden kann, wenn es auf Verständnis beim Gegenüber stößt, dann bekommt es einen anderen Anstrich. Weil es ernstgenommen wird, weil es sein darf, weil es fließen darf, hat es eine größere Chance darauf, sich irgendwann - aber das braucht Zeit - auch zu verändern.
- 5. Es geht ums Aushaltenkönnen. Warum die Akzeptanz, von der oben schon die Rede gewesen ist, so wichtig ist, zeigt sich am Faktor des Aushaltenkönnens. Wenn wir es schaffen, zu akzeptieren, dass wir gerade eben in einer Krise stecken - einer Verlustkrise, einer Lebenskrise oder auch der Midlife-Krise -, ändert sich die gesamte Fragestellung, die damit einhergeht. Ging es vorher vor allem darum, alles möglichst weit weg zu schieben, es bloß nicht an uns ranzulassen, stehen wir mit der Akzeptanz plötzlich mittendrin im Krisengeschehen. Und fragen uns: Kann ich das aushalten? Aber dieses Aushaltenkönnen ist nichts, das sich passiv an uns ereignet, es ist ein Muskel, der sich trainieren lässt. Und wie jeder Muskel, der nicht trainiert ist, beginnt es mit einigen eher schlappen und zaghaften Mini-Bewegungen. Aus denen langsam mehr werden kann. Was habe ich heute alles ausgehalten, wieviel Schmerz und Irritation, wieviel Sorgen und Ängste? Sich das abends vor dem Schlafengehen bewusst zu machen, verändert die Perspektive. Langsam verschiebt sich der Fokus weg vom passiven Überrolltsein hinein in eine auch aktiv die Krise angehende Haltung. Ich mag Dich nicht, Krise, aber Du gehst vermutlich so bald nicht wieder weg, na gut, aber dann kann ich immerhin jeden Tag weiter an Dir wachsen. Im modernen Businessdeutsch formuliert: Das ist der "Spirit" oder auch der "Mindset", der aus der Krise tatsächlich eine Chance werden lässt. In der Trauerbegleitung ist das - auch gemeinsame - Aushaltenkönnen oder zumindest das Versuchen des gemeinsamen Aushaltens eine der Zutaten, um die es geht.
- Schon bevor die Krise ausbricht: Das Alleineseinkönnen trainieren, eine der vielleicht wichtigsten Fähigkeiten überhaupt. Ein weiteres wichtiges Thema, das für die eigene Krisenfähigkeit, aber auch für ein gelingendes Leben allgemein eine große Rolle spielt, ist das Alleineseinkönnen. Auch das lässt sich trainieren. Wie - und warum es so sinnvoll ist -, das füllt einen kleinen Vortrag, den es als "Impuls-Cast" in meinem Podcast zu hören gibt - unter diesem Link.
Und hier noch eine Anregung für Menschen, die den Betroffenen gerne helfen wollen:
- Du kannst nicht trösten, nicht beraten, höchstens zuhören. Ratschläge sind Schläge, lautet die alte Weisheit. Wer tröstet, der beschwichtigt allzu oft nur, anstatt die Dinge so sein lassen zu können, wie sie sind. Bei Eltern junger Kinder ist das oft zu beobachten: Ist doch gar nicht so schlimm, sagen sie. Oder: Das tut gar nicht so weh. Das mag zwar tröstend gemeint sein, ist aber in Wahrheit eine Frechheit, weil es dem Gegenüber all sein eigenes Erleben aberkennt, den Schmerz, das Entsetzen. Was sich nämlich in Wahrheit hinter einem solchen Satz versteckt, ist eine Aufforderung: Stell Dich bitte nicht so an. Viel hilfreicher für Menschen in einer Krise ist es indes, wenn Sie erfahren dürfen, dass Ihnen zugehört wird. Und dass Ihre Gefühle so sein dürfen, wie sie sind. Dass sie das so haben dürfen, dass sie auch damit verstanden werden. Um beim Beispiel junger Eltern zu bleiben: Sie könnten ihr Kind fragen, wo genau es denn so weh tut. Sie könnten fragen, ob vielleicht auch der Schreck eine Rolle spielt (vielleicht, weil es gestürzt ist). Damit helfen sie ihrem Gegenüber, dass er sein Inneres genauer ansehen und seinen Facettenreichtum erkennen kann. Die grundsätzliche Haltung sollte sein: Ich glaube Dir, dass Du gerade leidest. Ich kann Dein Leiden wahrnehmen. Und wer sich unsicher ist, wie sich eine solche Haltung in ein gutes Gespräch ummünzen lässt, dem hilft ein ganz einfacher Trick: Einfach Fragen stellen. Am besten Fragen, die mit einem W beginnen. Wie fühlt sich das an? Wie hat es sich entwickelt? Wann tut es am meisten weh? Wie schläfst Du gerade? Und ähnliches.
- Noch mehr Impulse: Schon vor einiger Zeit hatte ich in verschiedenen Medien einige Artikel veröffentlicht, in denen es ebenfalls nicht um Trauer ging. Sondern um ganz allgemeine Lebenshilfe. Diese beiden Beiträge - in dem ersten davon ging es um das Thema Selbstwirksamkeit und warum es in Krisen aller Art so hilreich ist (und wie wir Selbstwirksamkeit erlangen können - hier der Link zum Artikel), im zweiten Artikel zum Thema gelingendes Leben ging es um die "Immerhins des Tages", die es zu sammeln gilt (hier der Link zum Artikel) hatten bereits für eine gewisse Aufmerksamkeit gesorgt. Und für die Frage, ob ich nicht noch mehr Tipps parat hätte für eine gelingende Lebensführung, was hiermit nachgeliefert sein soll.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
-------------------------------------------------------------------------------------------