Sonntag, 7. April 2019

Libido, Bauchtanz, Amélie, Rockband, Projektchor und die ganzen Facetten des Lebens, und das alles in der Kirche - ein Abend voller Überraschungen, ebenso irritierend wie ungewöhnlich wie unterhaltsam: So war das Konzert "Letzte Lieder" vom Künstler und Journalisten Stefan Weiller in der Heilig-Kreuz-Kirche in Osnabrück am 7. 4. 2019 (Sonntag)

Osnabrück - Nix da, weihevoll; nix da, geheimnisvoll; nix da, mystisch oder besinnlich: Was da in der Heilig-Kreuz-Kirche am Sonntagabend des 7. 4. 2019 geboten wurde, hatte mit einem klassischen Kirchenkonzert sehr wenig zu tun. Tatsächlich war es nichts anderes als ein riesiges, fettes, buntes Sterbe-Musical voller Überraschungen. Unbeschreiblich rasant und unterhaltsam, überraschend rockig und laut, überraschend multimedial und hochprofessionell, überraschend anders als gedacht, selbst für diejenigen, die ungefähr wussten, was sie da erwartete. Hatte der Projektinitiator und Künstler Stefan Weiller in seiner Anmoderation vor Beginn des Konzerts "Letzte Lieder" noch angekündigt, es würde insgesamt 23 Musikbeiträge und Texte - ohne Pause - geben, was bei dem einen oder anderen Gast einen verstohlenen Blick auf die Armbanduhr zur Folge hatte, nach dem Motto "Ach herrje, so lange geht das?", waren am Ende die meisten überrascht, wie rasch der Abend zu Ende ging. Ein paar der Gäste verließen zwar im Laufe der Veranstaltung die Kirche - doch der Eindruck, dass es viele Gäste gewesen sein könnten, wie es andere Besucher schilderten, scheint auf eine dramaturgisch notwendige und missverstandene Aktivität des Chores zurückzugehen.

Stefan Weiller geht in die Hospize unseres Landes und lässt sich dort Lebensgeschichten erzählen. Und immer geht es dabei auch um die Musik eines Lebens - also: seinen Soundtrack. Auch aus dem Osnabrücker Hospiz sind diesmal vier Geschichten dabei. Daraus baut Weiller Konzerte zusammen, die in kein bekanntes Raster passen. Wie in Osnabrück deutlich zu erleben war: Eine leichtbekleidete Bauchtänzerin in der Kirche, die zu türkisch behauchtem Europop ihre Hüften kreisen lässt. Eine Rockband, die im "Smells Like Teen Spirit"-Coversong ihre Libido besingt bzw. die im Text erwähnte Libido des Kurt Cobain (passenderweise genau zwei Tage nach seinem 25. Todestag). Wie großartig, dass sich sogar eine katholische Kirche als Veranstaltungsort für all solche Auftritte so mutig und so weltenzugewandt und so unverstaubt zeigen darf - durchaus nicht selbstverständlich und nicht Jedermanns Geschmack. Beim Auftritt der Bauchtänzerin verlässt das neben mir sitzende Ehepaar jedenfalls entrüstet seine Sitze.

(Anmerkung und Korrektur: In einer vorherigen Version des Artikels hat es geheißen, es hätten eine Reihe von Gästen die Kirche verlassen, so hatten es mir auch weiter hinten sitzende Besucher im Gespräch geschildert - doch was hier als Türenaktivität wahrgenommen wurde, könnte ggf. auf dramaturgisch nötige räumliche Wechsel des Chores zurückzuführen sein, wie mir jetzt Stefan Weiller in einer E-Mail schilderte - denn der Chor hatte mehrmals die Empore verlassen und sich an andere Orte begeben müssen, teils auch außen um die Kirche herum, und dann wieder zurück, was nicht immer "ohne Tumult" vonstatten ging, wie es Weiller mir jetzt schilderte - ich habe diesen Text also an allen Stellen entsprechend angepasst und korrigiert).

Wäre sie nicht so passend und zutreffend, müsste man diese im Kontext der Letzten Lieder vermutlich überstrapazierte Formulierung inzwischen einmotten: So bunt wie das Leben, so individuell wie jeder Einzelne, dokumentieren auch diese Bestandteile des Abends eindrucksvoll, dass das Sterben eben so vielfältig ist wie es die Menschen sind. Manchmal traurig. Manchmal auch lustig. Und auch das wird spürbar: Wer sich mit dem Tod beschäftigt, den führt dieser Weg immer mitten hinein - ins Leben (wie sehr Trauer und Musik miteinander verzahnt sind, ist immer wieder auch Thema in meinem Trauerblog).


Grandios, was das Hospiz Osnabrück und die Gemeinde Heilig Kreuz mit ihren zahlreichen Projektpartnern und einigen Großspendern hier auf die Beine gestellt haben. Dass das Projekt "Letzte Lieder" ungewöhnlich werden würde, zeigte sich schon beim Betreten der Kirche, in der schon eine halbe Stunde vor Beginn kaum noch Plätze frei sind. Da sieht man auf einmal den in Osnabrück recht bekannten und als Kirchensänger immer mal wieder auftretenden Tenor Max Ciolek - aber mit einem Microportmikrofon am Mund. Und rechts und links vom Altarraum stehen dicke Lautsprecherboxen. Mitten in der Kirche zeigt ein hübsch bunt blinkendes Mischpult an, dass hier eine Menge Technik verbaut worden sein muss. Elektronisch verstärkte Sänger, ein Schlagzeug im Hintergrund, Videoprojektionen an der Wand, in sanften Farben angestrahlte Kirchenwände... Da kommt was auf einen zu, das ist klar. Und was ist das?


Flickenteppich aus Sterbeschicksalen


23 Menschenleben, 23 Geschichten, 23 Räume - also: Hospizräume - gilt es zu durchschreiten und mitzuerleben. Um das zu gewährleisten, wird hier eine ordentliche Menge an Personal aufgefahren - teils mitgebracht, teils aus dem Osnabrücker Raum rekrutiert. Ein eigens für das Projekt gegründeter Chor, eine Rockband, viele Solisten (neben Max Ciolek aus Osnabrück sind dies die externen Gäste Mareike Bender und Christina Schmid als Sängerinnen und der musikalische Leiter des Ganzen, Ralf Sach), Geiger, Pianisten, eine Harfinistin, you name it. Und los geht es, mitten hinein in die Musik eines jeweiligen Lebens. Oder besser: Die letzte Musik dieses jeweiligen Lebens. Weiller fügt in seinen Konzertabenden von Profischauspielern vorgelesene Texte und Musik zu einem Flickenteppich zusammen, der diese Geschichten und Lieder als musikalische Vermächtnisse versammelt, ein facettenreiches Kaleidoskop der Menschlichkeit. Klingt erstmal irgendwie nicht fassbar - oder nach einem sehr getragenen Abend. Doch das Gegenteil ist der Fall. 


Der größte Clou an dieser, es lässt sich nicht anders bezeichnen, Show ist ihr enormes Tempo. Hier ist ständig etwas in Bewegung, ständig etwas im Fluss. Kaum ist der letzte Ton eines Liedes verklungen, da greift auch schon das nächste Instrument seine Hintergrundtätigkeiten auf, ohne dass Raum für Applaus oder fürs Luftholen bliebe - denn während die Schauspieler die Texte vorlesen, werden sie quasi filmmusikalisch von einem live gespielten Musikbett begleitet. Fast schimmert da so etwas wie das von mir sehr geschätzte Rilkeprojekt als ein vermutetes Vorbild hindurch. Doch schon nimmt der nächste Sänger seinen Platz ein und das nächste Lied geht los. Wobei die musikalische Reise viele weite Bögen und Epochen überspannt - von Barock bis zur Dancing Queen (wunderhübsch eingeleitet durch ein auf der Harfe gezupftes Intro), von Monteverdi bis zu Cindy & Bert, von der "Geilen Zeit" bis zu Whitney Houston, vom russischen Volkslied bis zu Westlife. Operetten sind auch mit dabei: Der Vogelhändler etwa und, natürlich, die Lustige Witwe und ihre geflüsterten Geigen. Alles dabei und noch mehr. Grandios arrangiert und aufgeführt - mit zahlreichen Gänsehauteffekten, für die alleine schon der Kirchenraum sorgt, der hier sehr bewusst als zusätzliches Instrument und als komplett zu benutzender Aufführungsort eingesetzt wird. Wenn dann ein unsichtbar platzierter Chor von ganz hinten oder ganz vorne ein atmosphärisches Summen beisteuert oder der Akkordeonspieler mit dem Amelié-Thema aus dem Filmsoundtrack einmal den ganzen Raum durchschreitet, sorgen alleine schon solche vermeintlich simplen Gimmicks für einen ganz großen Effekt. 


Angriffpunkte für Kritik gäbe es reichlich


Für den sorgen aber auch die Texte, die Stefan Weiller sehr geschickt zusammengewebt hat. Denn hatte man sich am Anfang noch gefragt, ob bei all der Thematik - 23 Mal Trauer, Tod und Sterben massiv komprimiert in zweieinhalb Stunden - auch die Seele immer hinterherkommen könnte, kann auch hier alsbald Entwarnung gegeben werden. Wie bei einem gut geschriebenen Theaterstück ergänzt sich Heiteres mit Bizarrem, Tragisches mit Tieftraurigem und brüllend Komisches mit tief Anrührendem zu einem perfekt durchkomponierten Emotionsmix. Große Show, gutes Musical, halt, auch hier, es lässt sich kaum anders zusammenfassen. Das kann einen schon ganz gut irritieren. Denn bei alledem schwingt natürlich auch immer die Frage mit: Darf das so sein? Darf das alles so leicht und locker sein? So unterhaltsam? So vermeintlich simpel? Darf man im ICE-Tempo durch 23 Leben hindurchgleiten? Und, ja, wer denn wollte, könnte sicher vielerlei Angriffpunkte für Kritik finden. Zu verdichtet, zu arg auf Effekt gedrechselt, zu glatt, zu durchgestylt, zu sehr in Richtung Showbühne schielend. Alles "too much" oder geht grad noch so? Darüber ließe sich debattieren. Und manch einer tat das am Ende dann auch, wie beim Rausgehen zu erleben war. Nur damit wir uns hier richtig verstehen: 


Warum das zum Nachdenken anregt


Ich fand den Abend schlicht großartig. Ich merke jedoch, wie sehr ich als der Sohn eines auch heute noch gelegentlich Orgel spielenden nebenberuflichen Hobby-Kirchenmusikers so sozialisiert bin, eine Kirche als einen Ort der Weihe und der Würde anzusehen. Dementsprechend irritiert es mich schon sehr, dort eine das Publikum offensiv zum Mitklatschen auffordernde Sängerin mit Microport zu erleben (auch wenn mir selbst die Getragenheit und die starren festen Riten von "Kirche" eher fremd sind, zugegeben). Gekoppelt an den insgesamt hohen Unterhaltungswert der Aufführung hat mich das jedoch zu einem wohltuenden weiteren Nachdenken angeregt. Als leidenschaftlicher Theatergänger bin ich überzeugt davon, dass eine Aufführung das Publikum auch irritieren darf. VIelleicht - sollte? 


Wie wollen wir damit umgehen?


Und wenn der hohe Unterhaltungsfaktor und das rasche Tempo der Letzten Lieder hier eine Irritation schafft, dann ist dies eine sinnvolle und wertvolle Irritation. Regt sie doch uns als Publikum dazu an, ins Nachdenken zu kommen darüber, wie wir eigentlich mit dem Leben eines Menschen nach seinem Ende umgehen sollten und müssten. Muss es in der Nachbetrachtung menschlichen Lebens tatsächlich immer so weihevoll und in Stille getaucht sein oder darf es auch rasant und bunt und facettenreich zugehen? Und wenn ja, in welchem Maße muss wieviel davon Anteil haben? Zu diesen Fragen hat mich der Abend ebenfalls angeregt - und ganz abgesehen davon, dass ich mich prächtig unterhalten gefühlt habe und mich königlich amüsiert habe, merke ich bei längerem Nachdenken, wie sehr sich hier Spannungsfelder auftun. Wie lange das nachwirkt.


Ein bisschen "Stromberg" bleibt immer?


Statt der angekündigten Eva Mattes war am Sonntag übrigens die Sprecherin Birgitta Assheuer mit auf dem zur Bühne umfunktionierten Altarraum dabei - auch ihre Stimme bekannt durch Hörbücher, auch sie eine hochprofessionelle Sprecherin, die geschickt den Charakter der Texte herausschälen kann. So wie Christoph Maria Herbst, der mir in den von vielen so gefeierten "Stromberg"-Staffeln immer ein bisschen zu überzogen vorgekommen ist, was aber auch dem Charakter der Serie an sich geschuldet sein mag (ich erinnere mich an meinen grässlich hohen Stromberg-Fremdschämfaktor bei einem Rudelgucken in der Kneipe, bei dem ich als Mitgeschleppter überhaupt erstmals auf die Serie aufmerksam gemacht wurde) und der mich hier als Sprecher wirklich überrascht hat. Klar, sein angestammtes Metier bleibt die Komödie, seine größten Stärken kann er bei den komischen Texten ausspielen, aber auch an den tragischen Stellen schafft er es, mit seiner Gestaltung die Hörer zu berühren. Das ist wie alles an diesem Abend manchmal auch an der Grenze zum Zuviel, aber trotzdem nie pietätlos. Das ist die wahre große Kunst dieses Abends. Dass er sich immer irgendwie wieder fängt. 



Und immer wenn Du dachtest, jetzt kann es eigentlich keine weiteren Überraschungen mehr geben, kommt von hinten aus dem Kirchenschiff beispielsweise  ein Akkordeonspieler gelaufen, hat sich der Chor schon wieder woanders aufgestellt oder es kommt ein bislang noch nicht aufgetauchtes Musikinstrument zum Einsatz - eine Ukulele, beispielsweise, die die Fröhlichkeit und einem hier bewusst werdende Schlüpfrigkeit von "Guten Morgen, Sonnenschein" konsequent überbetont. Und auch die Hospizbewohnerin, die sich eine explizit nur 2:30 Minuten dauernde und die Facetten ihres Lebens spiegelnde Schlagzeugimprovisation wünschte, bekommt sie hier. Apropos Schlagzeug - was einen niemals zu unterschätzenden Anteil zum Gelingen dieses Abends beiträgt, ist die Tontechnik, die all diese Elemente in einem hochprofessionellen Klangbild zusammenzuführen versteht, bis auf ein zu spät hochgefahrenes Mikro ohne jeden erkennbaren Aussetzer - und was es hier alles einzufangen gilt, ist eine Menge, klassischer Gesang und poppige Beltstimme, Schlagzeug und Geigen, Harmonium und Harfe, Chor und Gitarren, Hintergrundmusik und Sprecher... 


Bleibt am Ende nur noch ein Problem... 


Und das in einem Kirchenraum, der aufgrund seiner besonders kargen Wände und Höhe von einer ganz besonderen Echoherausforderung geprägt sein dürfte - das ist schon großes Handwerk. Da könnten sich selbst die Profis von "Toto" eine Scheibe von abschneiden, die selbst in einer ganz klassischen Veranstaltungshalle nichts als Klangbrei ablieferten. Bleibt am Ende nur ein Problem, mit dem die Heilig-Kreuz-Kirche im Osnabrücker Stadtteil Schinkel wohl selten konfrontiert wird: Wenn alle zur Verfügung stehenden 816 Sitzplätze besetzt waren - dann geht es auf den recht engen und zugeparkten Straßen hier zu wie nach einem Rockkonzert oder einem Fußballspiel im unweit der Kirche liegenden Stadion. Eng und voll - und trotz der innerlich bewegten Autofahrer bewegt sich hier dann eher wenig. Sei's drum: bleibt mehr Zeit zum Nachspüren und Nacherleben, auch gut.

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Was bewegte Stefan Weiller zu seinem Projekt Letzte Lieder -  und wieviele Geschichten hat inzwischen gesammelt? Das und mehr erzählte er mir in einem Exklusivinterview, das sich hier finden lässt. 

Als Shortlink: https://bit.ly/2C7rHAZ

Als kompletter Link:

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

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