Sonntag, 31. Oktober 2021

Liebe Trauernde, ihr dürft ruhig sagen (und es so erleben), dass ihr in einer Krise seid - Fünf Gründe, warum ich es bevorzuge, statt des Wortes "Trauernde" lieber den von mir oft gewählten Begriff der "Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise" zu verwenden - warum es Kritik daran gab und was das alles mit Leonard Cohen zu tun hat

Osnabrück - Trauer... diesen Prozess verstehen die meisten Menschen als etwas von Außen bewirktes, das sich irgendwie an einem ereignet. Meistens wird Trauer als etwas gesehen, dass entweder "Arbeit macht", um es mit Sigmund Freud zu sagen. Oder als etwas, das unangenehm ist und bitte möglichst bald "bewältigt", also gewaltsam beiseite geschafft werden sollte. Aber beides sind keine hilfreichen Strategien. Wieviel hilfreicher es dagegen sein kann, seine Trauer zuzulassen, sie zu durchleben und vielleicht sogar zu gestalten, wissen jene Menschen, die in diesem Prozess nicht mehr ganz am Anfang stehen. Unter anderem deswegen ist es mir so wichtig, nicht einfach mit dem Begriff "Trauernder" einen Aufkleber draufzupacken auf Menschen, die gerade in einer der vielleicht größten Krisen ihres Lebens stecken. Aber es gibt noch mehr Gründe dafür.

Plötzlich gibt es nur noch Kaputtes, nur noch Zerbrechlichkeiten. Leonard Cohen singt in seinem Lied "Anthem" davon, dass letztlich ein Riss in allem ist. "There's a crack in everything!" -, diese Zeile findet sich im Refrain. Und genau so fühlen sich die meisten Menschen, die sehr stark unter dem Verlust eines anderen Menschen zu leiden haben: Die Welt ist insgesamt brüchiger geworden. Für Leonard Cohen indes stellt dieser Riss in allem noch etwas anderes dar - für ihn bedeutet er die einzige Möglichkeit, etwas Licht in die Düsternis hineinzulassen (..."that's how the light gets in"). Dieses von Leonard Cohen beschworene Bild von dem Riss, der überhaupt erst das Einsickern von etwas Licht möglich macht, lässt sich sehr gut in einer Trauerbegleitung benutzen. Die Idee davon, dass etwas eigentlich Kaputtes auch eine leise Ahnung von etwas neuem Ausgehelltem in sich tragen kann, kann ein interessanter Perspektivwechsel sein, der neue Impulse mit sich bringen kann. Ohne dass das Kaputte dafür ganz heile werden müsste, denn es ist ja gerade die Tatsache, dass es kaputt ist, die für dieses neue Licht sorgt. Ein klarer Fall von Sowohl-als-auch... Und damit sind wir wieder beim Thema: Menschen, die gerade einen anderen Menschen verloren haben und innerlich sehr stark mit diesem Verlust beschäftigt sind, sich vielleicht sogar davon aufgesogen fühlen, finden sich ganz oft vor solchen Sowohl-als-auch-Türen wieder. In manchen Trauerbegleitungen, bei manchen Gruppentreffen, wird oft sehr herzlich und sehr viel gelacht. Wer in Trauer ist, muss nicht permanent traurig sein. Wer in Trauer ist, steckt vielmehr mittendrin, ganz eingeklemmt, in diesem Riss, der aber schon etwas Licht wieder möglich macht. 

Und deswegen plädiere ich so sehr dafür, diese Menschen nicht einfach nur als "Trauernde" zu bezeichnen - weil mir in diesem Begriff zu wenig "... als auch" drinsteckt. Fünf Gründe für die "Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise": 

1.) Weil der Begriff den Menschen klarmacht, dass sie sich in einer Krisensituation befinden - damit geht die Erlaubnis einher, sich überfordert fühlen zu dürfen und (merkwürdige) Dinge tun zu dürfen. Wer als Mensch in eine Trauer- und Verlustkrise gerät, weil er einen anderen Menschen verloren hat, der kann sich mehrfach überfordert fühlen (und wie bei allem, was Trauer angeht, gilt auch hierbei: Das kann so sein, muss es aber nicht, es kann auch ganz anders sein, dann ist es auch okay). Da ist es manchmal schon hilfreich, wenn wir uns diese Überforderung von einem anderen Blickwinkel aus angucken können. Zum Beispiel so: Eben weil Du als Mensch jetzt in einer Krise steckst, darf es sich auch so anfühlen. Diese Vergewisserung, dass es so sein darf, wie es jetzt gerade ist - die tut vielen Menschen in einer solchen Lage schon ganz gut. Unter anderem darum geht es. Ganz abgesehen davon ertappen sich Menschen in einer solchen Krise oft dabei, dass sie sich Verhaltensweisen zulegen, die andere vielleicht als merkwürdig erleben (obwohl sie alle einen tieferen Sinn erfülllen): Mit den gestorbenen Menschen reden. Die Kleidung der gestorbenen Menschen befühlen oder sie sogar anziehen. All das und mehr, auch das darf es alles geben, es ist okay (mehr dazu gibt es in meinem Blogbeitrag "Keine Sorge, alles ganz normal!").


(Foto: Thomas Achenbach) 

2.) Weil in unserer Gesellschaft ein "Trauernder" immer noch als einer verstanden wird, der irgendwie nicht dazugehört - Zu den besonders schmerzvollen Erfahrungen, die Menschen in Trauer oft machen, gehört auch diese: Wie die anderen Menschen in einem Raum verstummen, sobald der Betroffenen hineinkommt. Wie einem andere Menschen ausweichen, wie sie vielleicht die Straßenseite wechseln. Schnell erleben sich Trauernde als Menschen mit einem Stigma, das ihnen gesellschaftlich angehaftet wird, obwohl es so nicht sein müsste. Warum das so ist, lässt sich schnell erklären: Trauernde machen anderen Menschen Angst, weil sie mit dem Tod behaftet sind. Auch hierbei hilft die Formulierung der "Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise", weil sie den Betroffenen klar macht, dass auch diese Prozesse - das Nicht-verstanden-sein, das Abgelehnt-werden, die Befangenheit der anderen Menschen - eben ein integraler Bestandteil dieses Krisenprozesses sein können. Wie lange auch immer dieser Prozess dauern wird (meistens: länger als andere sich das vorstellen können).  

3.) Weil die gefühlte Nähe zu Trauer als Krankheit dadurch vermieden wird. Trauer ist keine Krankheit, aber eine nicht ausgelebte Trauer kann einen Menschen krank machen. Ein "Depressiver" ist ein Kranker. Ein "Spielsüchtiger" ist ein Kranker. Ein "Trauernder" ist das eben nicht. Es ist ein Mensch, der sich in einer Krisensituation befindet, in einem Übergangsstadium von einer Lebenssituation in neue, andere; es ist ein Mensch, dessen Lebensentwurf, dessen Grundüberzeugungen, dessen Werte durcheinandergeraten sein können, ja, vielleicht ist sogar der steinharte Untergrund, auf dem dieser Mensch gestanden hat, zerbröckelt. All das kann geschehen, wenn wir einen Verlust erleben und wenn wir sehr stark unter diesem Verlust zu leiden haben, all das kann so sein, muss aber nicht so sein. Und all das ist trotzdem - das Normale in einer so unnormalen Situation. Also: Keine Krankheit.

 

(Foto: Pixabay.com/Gerd Altmann, CC-0-Lizenz)
 

4.) Wer sich allein auf das Wort "Trauernde" beschränkt, blendet das Thema des Verlusts dabei zu sehr aus - es geht dann nur noch um eine Definition bzw. eine Zustandsbeschreibung. Da ist jemand in Trauer, okay, aber warum er das ist, wird nicht weiter berücksichtig. Deswegen mag ich den erweiterten Begriff der "Trauer- und Verlustkrise". Daran jedoch hat es auch schon einmal, berechtigterweise, Kritik gegeben: In einer Besprechung meines Buches "Männer trauern anders, was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag) monierte der Rezensent, dass es diese Bezeichnung weder als psychologischen, noch als allgemein anerkannten Fachbegriff gäbe. Das stimmt, dem Einwand muss ich beipflichten. Streng genommen gibt es diesen Begriff gar nicht bzw. es fehlen konkrete Definitionen dafür. Aber vielleicht ließe sich das ja ändern?

5.) Weil es bei Trauer nicht alleine nur um das Trauern geht - oder anders gesagt: Alles, was so ein Prozess mit sich bringt, der durch den Verlust eines anderen Menschen ausgelöst wurde, kann irritierend sein und kann die Betroffenen verunsichern. Was Trauer alles mit sich bringen kann, ist eine Menge: Aggressionen können dazugehören, aber auch Mutlosigkeit. Appetitlosigkeit, aber auch neue Süchte. Und es können körperliche Symptome auftreten, die aus der Trauer heraus resultieren: Eine starke Erschöpfung und Müdigkeit, Kopfschmerzen, Herzrasen, Kreislaufschwankungen, Schlaflosigkeit, Magendrücker, Bauchweh. Kurzum: Durch die Trauer gerät der gesamte menschliche Apparat, inklusive der Seele, versteht, in einen Zustand einer länger anhaltenden Krise. Einer Trauer- und Verlustkrise. Wenn wir diesen Begriff benutzen, machen wir den Betroffenen klar, dass all das dazugehören kann. So dass sich niemand fragen muss, ob er denn noch ganz richtig ist. Denn das ist jemand, der auf Trauer reagiert - er ist ganz richtig. Aber in einer Krise.  

Aber nochmal zurück zum Thema Risse - auch, was das Thema Sprache allgemein angeht, müssen wir ja feststellen, dass es derzeit viele Risse gibt


(Foto: Thomas Achenbach)

Ich bin in Sachen Sprache zwar durchaus sensibel, ich weiß einerseits darum, dass Sprache durchaus ein Machtinstrument sein kann... Andererseits bin ich aber kein Freund davon, durch die Diskussionen über Sprache noch mehr Risse zu erzeugen als jene, die ohnehin schon durch unsere Gesellschaft gehen. Wenn ich manche der Debatten verfolge, die gerade in Teilen unserer Gesellschaft geführt werden - und die dann wiederum auf die Feuilletons der Zeitungen abstrahlen -, wenn ich die Verbissenheit sowie die Heftigkeit erlebe, mit der diese Diskussionen geführt werden, die allgemeine Bereitschaft, sofort in Empörung auszubrechen, ja, fast förmlich darauf zu warten, dass man endlich, endlich, endlich wieder hochempört sein kann, dann ist mir das alles viel zu aufgeheizt. Als ich im vergangenen Sommer einen meiner Blogbeiträge bei Twitter angepriesen hatte, der einfach nur ein Erklärstück darstellt darüber, warum manche Menschen heutzutage von "Zugehörigen" statt "Angehörigen" sprechen - und der sich weder für das eine noch für das andere als eine Ultima Ratio ausspricht -, wurde ich dort gleich angepampt. Nach dem Motto, was ich denn bitte dagegen hätte. Vermutlich von Menschen, die nicht einmal einen winzig kleinen Blick auf den Blogartikel selbst geworfen haben. Das hat mir sehr deutlich gezeigt wie unnötig hysterisch diese ganze Sache längst geworden ist. Mann, Leute. Bitte durchatmen. 

Wenn's um Sprache geht, werden manche fast hysterisch

Anstatt die Gesellschaft aufmerksamer und allgemein liebevoller zu machen, was ja anfangs mal das Ziel einer wachsamen Sprache gewesen sein mag, sind aus gesellschaftlichen Rissen inzwischen richtige Brüche geworden, über die sich meistens keine Brücken mehr bauen lassen. Und ich frage mich, ob das wirklich so sein muss - oder ob wir uns nicht alle mal ein bisschen entspannen können? Jedenfalls ist das nicht das, was ich möchte. Mir geht es viel mehr darum, durch die Risse auch das Licht hindurchzulassen - und dieses Licht sichtbar zu machen.

Denn:

There's a crack in everything.

That's how the light gets in.

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Die besten Filme über Trauer, Tod und Sterben - was uns Spielfilme über das Erleben von Trauer erzählen können

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer, wie lange dauert das eigentlich - und wann ist es endlich mal vorbei? Mein erster Mutmacherbrief an Trauernde

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: 27 gute Rituale für eine Trauerfeier - wie sich eine Gedenkfeier so gestalten lässt, das sie den Angehörigen/Trauenden gut tun kann

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Was muss ich machen, wenn ich wegen Trauer krankgeschrieben werden möchte? Geht das überhaupt und wenn ja, wie denn?

Der neue Podcast von Thomas Achenbach: "Trauergeschichten - Menschgeschichten", Gespräche über Leben, Tod und Sterben, jetzt online

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Mittwoch, 20. Oktober 2021

Die besten Filme über Trauer, Tod und Sterben, Folge 7: Warum der Spielfilm "Das Zimmer meines Sohnes" unbedingt sehenswert ist und wie er den Verlust eines Sohnes, eines Bruders sowie die Gefühle der frisch verwaisten Eltern gut und realistisch zu zeigen versteht - Serie über "Die besten Trauerfilme", Tipps/Rezensionen

Osnabrück - Einer der sehenswertesten Spielfilme über das Thema Trauer ist Nanni Morrettis "Das Zimmer meines Sohnes" von 2001. Und weil dieser Film einerseits sensibel, andererseits aber zurückhaltend und unaufdringlich erzählt wird, ist er auch einer der wenigen Filme, die tatsächlich für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation gut geeignet sind. Der Film zeigt, beinahe analytisch, wie sich der plötzliche Verlust des Sohnes auf das Familiengefüge auswirken kann - und auf jedes einzelne Mitglied dieser Familie. Und wie der Alltag trotzdem weitergeht. Ein kluger Film, der durch seine Schlichtheit besticht. Ein Film aus Italien - Hollywood ist hier ganz weit entfernt, zum Glück. Aber der Reihe nach.

In Trauergruppen habe ich schon öfter davon gehört - da ist ein Mensch gestorben, sagen wir, beispielsweise, ein junger Mann. Und seine Freundin, die bis zuletzt mit ihm zusammen gewesen ist, wird für die Eltern des Gestorbenen beinahe zu einer Art Ersatz, sie klammern sich an sie, die sie diese letzte Verbindung zum Leben des Sohnes darstellt - aus der Ersatzbeziehung schöpfen die frisch verwitweten Eltern eine trügerische neue Hoffnung. Ein ganz ähnlicher Mechanismus spielt auch in dem Film "Das Zimmer meines Sohnes" eine Rolle, dort aber auch, wie so vieles in diesem Film, eher angedeutet und nicht en detail ausdekliniert. Das ist einer der größten Stärken dieses Werkes: Dass es sehr vieles anreißt, viele Facetten sichtbar macht, aber nichts davon mit Aufladung überfrachtet, keiner seiner Fährten mit Auserzählung folgen muss. Allein dadurch wird "Das Zimmer meines Sohnes" zum vermutlich realistischsten Film über Trauer, den es überhaupt gibt. Und gerade weil er auf jede Tränendrüsigkeit verzichtet, ist er unbedingt sehenswert. 


(Alle Fotos: Thomas Achenbach, Aushangfotos: Pro-Kino)

Was können uns Spielfilme über das Erleben von Trauer erzählen? Können wir etwas über das Leben lernen? Kommen sie der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation nahe? Sind Sie für Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise geeignet, weil sie ihnen Verständnis oder Ermutigung anbieten können? Diese Fragen bilden sozusagen das Grundgerüst für meine Reise durch die Welt der Trauerfilme, die ich für diesen Blog unternehmen möchte. Und da bietet sich dieses "Zimmer meines Sohnes" unbedingt an. In der ersten halben Stunde des Films ist das Leben der Protagonistenfamilie noch unversehrt und wir werden Zeuge von teils heiteren, teils mit den in Familien üblichen kleinen Reibungen versehenen Alltagsanekdoten. 

Heiterkeiten, Reibereien... - unversehrtes Familienleben

Da ist der Familienvater, der Psychoanalytiker Giovanni, gespielt von Drehbuchautor und Filmemacher Nanni Moretti persönlich. Von seinen Patienten lässt er sich beleidigen, beschimpfen, bedrängen, aber nichts davon kann ihn aus der Ruhe bringen. In seiner Freizeit geht er gerne joggen - und als er am Ende seiner Runde auf eine Gruppe ausgelassen auf der Straße tanzender Hare-Krishna-Anhänger trifft, lässt er sich von deren unbefangener Lebensfreude anstecken. Dass sein 17-jähriger Sohn Andrea einmal mehr Ehrgeiz im Sport zeigen würde, wäre dem Vater schon wichtig. Die Tochter Irene ist da ganz anders geraten, im Basketball ist sie ungemein erfoigreich und zielstrebig. Die Mutter der Familie arbeitet in einer führenden Funktion in einer Kunstgalerie. Und doch ist das Leben ruhig genug, dass dem Paar auch noch Zeit bleibt für abendliche Leidenschaft. 




Dann folgt eine bemerkenswert konstruierte Parallelmontage, in der wir jedes Familienmitglied in einer anderen Situation erleben. Die Mutter der Familie wird auf einem Flohmarkt kurz angerempelt und erschrickt. War es vielleicht sogar ein Dieb? Die Tochter albert beim Mofafahren mit anderen herum, versucht, ihre Mitschüler auf anderen Mofas zu treten, eine zwar fröhliche, aber nicht ganz ungefährliche Situation. Der Familienvater sitzt bei einem Patienten, der ihm von einer lebensbedrohenden Krebsdiagnose berichtet. Und schließlich sehen wir das Schlauchboot, in dem der Sohn Andrea mit seinen Tauchkumpanen auf ein sonnenbestrichenes und sattblauverwöhntes Meer hinausfährt. Während in die Lebenssituationen aller anderen eine Ahnung von Bedrohung hineingetupft ist, bleibt diese Schlauchbootsequenz heiter und unbeschwert. Und wird sich doch als die Einzige erweisen, die Endlichkeit in sich versteckte.

Eine Lähmung in allem - der Tod bringt Stillstand

Den Tod des Sohnes bekommen wir indes gar nicht zu sehen. Kaum haben wir mitbekommen können, dass er gestorben ist, wird auch schon der Sarg verschweißt, was bei Modellen mit einem Metalleinsatz offenbar üblich ist (das habe ich auch erst durch eine Onlinerecherche zu dieser Frage gelernt). Und schon sind wir mittendrin in einer Abfolge skizzenhafter Szenen, beinahe Fragmenten, die uns begreifbar machen, wie sehr das Familiensystem in Unordnung geraten ist. Bis eines Tages ein unangekündigter Brief eine Überraschung mit sich bringt, die wieder einen Hoffnungsfunken aufflammen lässt: Andrea hat offenbar eine Art Freundin. Wie sich herausstellt, handelt es sich um eine Art Mini-Liebschaft von einem Campingplatzaufenthalt... 




Es ist gewiss kein Zufall, dass der Film sich die Psychoanalyse zu einem seiner Sujets gemacht hat, denn aus einer ebenso nüchtern-distanzierten Haltung heraus zeigt uns der Film in skizzenhaften Szenen, wie sich der Tod des Sohnes bzw. Bruders auf die Familie auswirkt. Was wir dabei zu sehen bekommen, ist sehr genau beobachtet und gespielt, spielt aber nicht um der emotionalen Wirkungseffekte willen mit den Gefühlen des Publikums. Hier sind ein paar der Trauerfacetten, mit denen uns der Film in Kontakt bringt:

1.) Schuldfragen spielen eine wichtige Rolle: Der Vater lässt sich in einem Laden das Equipment erklären, das für das Tauchen gebraucht wird. Weil er sich mit der Vorstellung herumplagt, dass schlecht gewartete Tauchutensilien für den tödlichen Unfall seines Sohnes verantwortlich sein könnten. Warum Schuld für den Trauerprozess so wichtig ist - und welche unbewussten Funktionen diese Suche nach der Schuld erfüllen kann - ist immer wieder Thema auf diesem Blog, zum Beispiel in diesem Artikel über Schuld und Schuldgefühle.

2.) Jeder trauert in seinem Tempo und seiner eigenen Intensität: Das Ehepaar scheint sich in seinen völlig konträren Trauerprozessen voneinander zu entfremden, jeder wird von seinem eigenen inneren Geschehen aufgezehrt.

3.) Für die Gemeinschaft der Familie fehlt die Kraft, jeder zieht sich in sich selbst zurück: Während sich die Mutter weinend ins Bett zurückzieht und sich der Vater zunächst in seine Arbeit zu flüchten versucht, versucht die Tochter (und Schwester des gestorbenen Sohnes) die Mahlzeiten für die Familie zuzubereiten.

4.) Wut und Zorn gehören zum Prozess dazu: Nach einer kirchlichen Trauermesse, die keinem der Familie so wirklich gut getan hat, gerät der Familienvater in einen Zornesausbruch. Ausgerechnet die kirchliche Trauermesse hat ihm bewusst gemacht, wieviel im Haushalt der Familie schon angeschlagen und kaputt ist, ein Teller hier, eine Tasse dort, eine Teekanne ebenfalls. Letztere wird den Wutausbruch nicht überleben. Dass es ausgerechnet die Kirche ist, die den Zorn der Menschen evoziert, in einem italienischen Film, ist ein starkes Statement. 

5.) Die Kinder fühlen sich für die Eltern (über)verantwortlich: Tochter Irene versucht das Alltagsgeschehen aufrechtzuerhalten und gerät in eine beinahe elterliche Verantwortungsrolle für ihre Eltern. Wie sehr sie selbst darunter leidet, zeigt sie keinem. Aber in der Umkleidekabine eines Bekleidungshauses, versteckt vor der Außenwelt, kommen ihr dann doch die Tränen.



6.) Alte Rituale funktionieren nicht mehr: Das Ehepaar versucht es mit Essengehen, um sich abzulenken und wieder zueinander zu finden. Doch anders als erhofft führt dieser Abend nicht zu einem gestärkten Miteinander.  

7.) Die vielen quälenden W-Fragen: Das Warum, Wie und vor allem das "Was wäre wenn" beschäftigt die Mitglieder der Familie. Vor allem der Vater wird immer wieder von Visionen durchgerüttelt, in denen er seinen Sohn doch noch zum Joggengehen überreden oder durch andere Aktionen vom Tauchgang abhalten kann. Hier zeigt sich auch wieder die gefühlte Schuld, die sich bei Trauer oft einstellen kann: Ich hätte es ändern können. 

8.) Männer trauern anders als Frauen: Sie lebt ihre Trauer unmittelbar aus, weint, klagt, zieht sich ins Bett zurück. Er versucht es zunächst mit Arbeit. Als das auch nicht mehr funktioniert, schmeißt er hin. 

9.) Sich mit dem beschäftigen, was der gestorbene Mensch zuvor gern getan hat, um eine emotionale Nähe zu schaffen: In einem Versuch, sich seinem gestorbenen Sohn anzunähern, geht der Vater Giovanni in einen Musikladen und lässt sich beraten, er will die Musik hören, die sein Sohn gehört hat, will sich dort hineindenken und -fühlen.

10.) Auch Momente der emotionalen Taubheit oder Erstarrung gehören zum Prozess dazu: Kurz nach dem Tod seines Sohnes streift der Vater Giovanni über einen Jahrmarkt. Um ihn herum pralles Leben und bunte Lichter. Sein Gesicht spiegelt indes seine innere Versteinerung. Einmal versucht er, mit einer so genannten Käfigrundfahrschaukel, die man mit Muskelkraft selbst bewegen muss, auch sein inneres Erleben wieder in Schwung zu bringen. Man sieht ihm die emotionale Kraftanstrengung an, die ihn das kostet. 

11.) Es bleiben traumatische Erfahrungen: Die Schrauben, die in den verschlossenen Sarg hineingedreht werden, das Geräusch, das sie dabei erzeugen, diese Bilder kommen an einer anderen Stelle des Films zum Einsatz. Sie erzeugen einen Eindruck von Gewalt und Schmerz.

Bemerkenswerter Randaspekt: Der Film ließe sich übrigens auch ganz anders lesen - nämlich als ein allegorischer Abgesang auf die Kunst der Psychoanalyse. Aber das wäre einen zweiten Artikel wert. Werfen wir noch einmal einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie: 



1.) Was sagt der Film darüber aus, wie Trauer ist - wie sie sich anfühlt? 

Er macht bemerkenswert viele dieser Facetten sichtbar, siehe oben. 

- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert? 

Fast uneingeschränkt ja, weil er konsequent auf Überdramatisierung verzichtet, weil er mit analytischer Klarheit aufzeigt, wie sich der Trauerprozess auf die ganze Familie auswirkt, ohne jemals rührselig oder tränendrüsig zu sein, 
womit dieser Film Seltenheitswert besitzt. Er ist echt und gleichzeitig kühl genug erzählt, um für Menschen in genau dieser Lebenssituation aushaltber zu bleiben.

- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)? 

Einerseits ja, weil so vieles drin ist. Andererseits nein, weil mit der sehr nüchternen Erzählhaltung des Films auch eine gewisse Distanzierung und Kühle einhergeht. Ein wirkliches emotionales Mitschwingen wird somit erschwert. Das ist sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche dieses Films. Es kommt halt drauf an, in welcher Situation und Lage sich der Zuschauer gerade befindet.
 



- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film? 

Der Film endet am Meer, an der Grenze zwischen Italien und Frankreich im Küstenörtchen Menton, nach einer langen nächtlichen Autofahrt, zu der es durch bemerkenswerte Verkettungen gekommen ist. Vom Meer her weht ein kräftiger Wind, es ist ein sonniger Tag und für die Familie hat sich - ausgelöst durch die bereits erwähnten Verkettungen - ein kleines Guckloch in der sie umgebenden Schwärze aufgetan. Nur ein sehr kleines. Natürlich wird es bald zurückgehen in die Heimat und in das Leben, das dort weitergelebt werden will, also das Leben mit dem Verlust. Und wir können ahnen, dass dieses Leben seine Unaushaltbarkeit nicht gänzlich verlieren wird, dass die Schmerzen nicht verheilen werden, aber wir können gleichsam auch ahnen, dass es einen Tag geben könnte, in der weiteren Zukunft, an dem der Verlust des Sohnes integriert sein kann in die Geschichte dieser Familie. Als Narbe, die weiterhin spürbar bleiben wird. Aber nicht mehr ganz so stark blutet. Es ist nicht unbedingt ein Happy End. Aber das vielleicht realistischste Ende, das in einem Film über Trauer möglich ist.

- 5.)  Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Film in einem angeregt? 

Stell Dir vor, dass sich Dein ganzes Leben, so festgefügt und unumstößlich es Dir auch erscheinen mag, von einer Sekunde auf die andere auflöst - was würdest Du bereuen? Was hättest Du Dir anders gewünscht? Wie würde es Dir dann gehen?

- Mein Fazit und meine Empfehlung: Immer wieder wird "Das Zimmer meines Sohnes" von der Kritik oder in TV-Zeitungen als ein "bewegendes Drama" beschrieben, dabei stimmt das gar nicht, deutet es doch eine Dramatisierung an, die das fertige Produkt nicht vorweisen kann. Es sind zahlreiche Details, der fein beobachtende menschliche Spürsinn und die gekonnte Zurückhaltung, die diesen Film wirklich sehenswert machen


--------------- Alle Folgen aus der Serie "Die besten Trauerfilme": ------------

- Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt - zur Folge 1 der Serie

- Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine exakte Studie über das Trauern ist - zur Folge 2 der Serie

- Was uns das oscar-prämierte US-Drama "Manchester By The Sea" alles über Schuld und Familiensysteme in Trauer erzählen kann- zur Folge 3 der Serie

- Der Tod zweier Söhne, ein Familiensystem und seine Geschichte - warum John Irvings "The Door In The Floor" ein Fim übers Erzählen ist - Folge 4

- Der Suizid der Mama und wie eine Familie weiterzumachen versucht, eindrucksvoll, aber zurückhaltend gezeigt in "Der letzte schöne Tag" - Folge 5

- Ein poetischer Film über Japan, alternde deutsche Ehepaare und die ewige Nähe des Todes - Dorris Dörries "Kirschblüten Hanami" ist eine Wucht - Folge 6

- Warum der Spielfilm "Das Zimmer meines Sohnes" unbedingt sehenswert und bemerkenswert realistisch eine Familie in Trauer abbildet - Folge 7 der Serie

- Ein kluger Film darüber, wie Trauer als latente Grundschwingung das Leben junger Menschen beeinflussen kann, "Dieses Sommergefühl"Folge 8 der Serie

- Als Familie nach dem Tod eines Kindes in der Ferne den Neustart wagen - was das mit Geschwistern und Eltern macht, erzählt "In America" - Folge 9 der Serie 

- Warum "Blaubeerblau" der perfekte Einsteiger-Film für alle ist, die sich an das Thema Hospiz noch nicht so richtig herangetraut haben - Folge 10 der Serie

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Im Trauergeschichten-Podcast zum Hören: "Darf ich das - ist das normal?" - was sich Trauernde so alles fragen und was es darauf für Antworten gibt  

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellt und was das für den Trauerprozess bedeuten kann - über die "Aufgaben der Trauer"

Ebenfalls auf diesem Blog: Entrümpeln, Ausmisten und Aufräumen nach dem Tod eines Menschen - was mache ich damit und warum ist das so hart?

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

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Montag, 4. Oktober 2021

Wie kriegen wir mehr Männer als Ehrenamtliche für unsere Hospiz-, Palliativ- und Trauerbegleitungs-Angebote? Wie können wir Männer ins Ehrenamt locken in einem Umfeld, das weiterhin so frauendominiert ist? Fünf Anregungen und mehrere Positivbeispiele aus Deutschland..... / zum Weiterdenken und -diskutieren

Osnabrück - Die Idee entsteht im Auto, bei der kurzen Fahrt von einem Vortrag, den ich gerade gehalten habe, zum Bahnhof. Vielleicht müsste man eine Qualifizierungsgruppe nur für Männer anbieten, sagt die Koordinatorin, die mich freundlicherweise noch rasch zur Bahn bringt. Konkret ging es um Sterbebegleitung - und um die alte Frage, wie man Männer in ein solches Ehrenamt locken könnte. Denn Männer sind dort Mangelware. Und das, obwohl das Ehrenamt an sich stark von männlicher Beteiligung geprägt ist (in Deutschland). Ich werde das ganz oft gefragt, wenn ich einen Vortrag im Kontext von Sterbe- und Trauerbegleitung halte oder einen Workshop mit einer Hospizgruppe durchführe: Herr Achenbach, wie kriegen wir mehr Männer zu uns ins Ehrenamt? Haben Sie ein Geheimrezept für uns? Nee, muss ich dann sagen, das leider nicht. Was ich aber habe, sind fünf Impulse bzw. Gedankenanregungen - hier sind sie, angereichert durch eine ganze Reihe von Positivbeispielen aus Deutschland.

Ehrenamt ist vor allem Frauensache? Das stimmt so nicht ganz, wie ein Artikel des Deutschen Zentrums für Altersfragen im Dezember 2019 berichtete. Überschrift: "Frauen engagieren sich seltener freiwillig als Männer – insbesondere im jungen Erwachsenenalter und im höheren Alter". Spannende Erkenntnis: Vor allem unter den Älteren ab 70 Jahren sind die Männer stärker im Ehrenamt engagiert (42,7 Prozent) als die Frauen (37,4 Prozent)Ermittelt hatte diese Zahlen der im gleichen Jahr durchgeführte "Deutsche Freiwilligensurvey", eine Untersuchung, die alle fünf Jahre durchgeführt wird und die vom Bundes-Familienministerium als repräsentativ bewertet wird. Eine Erklärung, warum das Ehrenamt trotzdem mehr als Frauensache wahrgenommen wird, liefert der Artikel auch gleich mit: Weil es rein zahlenmäßig gesehen mehr Frauen gibt als Männer, jedenfalls im höheren Alter, verzerrt sich die Wahrnehmung.

(Foto: Pixabay/Stocksnap, CC-0-Lizenz)

Wirft man aber einen Blick auf die Bereiche, die mit den Themen Tod, Trauer und Sterben zu tun haben, muss man festhalten: Mögen die Männer auch das Ehrenamt mögen, gilt das nicht im Kontext von Hospiz-, Palliativbewegung und Trauerbegleitung, denn da sind Männer nach wie vor Mangelware. Dabei wären sie dort sehr willkommen. Und da komme wieder ich ins Spiel: Als ein bloggender Trauerbegleiter, der ein Buch mit dem Titel "Männer trauern anders" schreiben durfte, gelte ich rasch als Experte allgemein in Männerfragen. Zum Thema Ehrenamt habe ich mir zwar noch nicht ganz so viele Gedanken gemacht, trotzdem kann ich fünf Impulse anbieten. Als Anregung zum Weiterdenken und zum Diskutieren, gerne auch gemeinsam - und angereichert um ein paar Beispiele aus ganz Deutschland, die mir untergekommen sind:  

1.) Erste Impulsfrage: Wo sind wir überall sichtbar, wo nicht - und wie können wir dort sichtbarer werden, wo die Männer sind? Wer Männer anlocken möchte, sollte zuerst einmal seine Öffentlichkeitsarbeit kritisch überprüfen. Immer der Frage folgend: Sind wir auch dort, wo die Männer sind? Zum Beispiel, was Flyer angeht: Wo liegen diese Flyer überall aus? Auch in Fitnesstudios, Sportvereinen, Heimwerkermärkten, Gaststätten, bei Repair-Cafés und ähnlichem? Halt dort, wo wir die Männer vermuten. Und was die Frage angeht, wo sich Männer aufhalten, kann es hilfreich sein, einmal so richtig lustvoll alle Klischees anzudenken. Die Erfahrungen zeigen: Zumindest in älteren Generationen haben zumindest manche der Klischees durchaus eine gewisse Berechtigung. Was ebenfalls eine Überlegung wert ist: Welche Text- und Bildsprache sprechen wir in unserer Kommunikation, in unseren Flyern, in den Social-Media-Kanälen oder in unseren eigenen Magazinen? Zeigen wir weibliche Hände, die sich auf andere Hände legen - oder viele hübsche Blumen und Dekorationen? Wirkt ggf. alleine die Art und Weise, wie wir kommunizieren, irgendwie "geschlechtlich"? Ließe sich diese Geschlechtlichkeit verändern? Können wir neutraler kommunizieren, trauen wir uns auch mal andere Bilder zu? Bei der Beratung hierzu könnte ein Mann helfen - überhaupt könnte es hilfreich sein, einen Mann in das Team der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu integrieren.  

2.) Zweite Impulsfrage: Was können wir selbst an Angeboten schaffen, die nicht "abschreckend" wirken? Eine Qualifizierungsgruppe nur für Männer, das ist schon mal eine gute Idee, finde ich - andere Einrichtungen haben mit so etwas wie einem "Männergrundkurs" auch bereits gute Erfahrungen gemacht, wie ein Artikel über eine Detmolder Initative in einem Arbeitsheft der NRW-"Alpha"-Ansprechpartner zeigt (siehe die Seite 20 des Schwerpunkthefts über "Männer und Hospizarbeit", das in seinem Inneren übrigens - Stichwort Kommunikation - 13 Autorinnen zeigt und einen Mann, hmm, nunja....). Auch wenn diese Gruppen vielleicht nicht so voll werden wir die "anderen", einen Versuch wäre es wert. Generell kann es eine gute Idee sein, noch einmal für sich selbst zu verinnerlichen, wie stark angstbesetzt alle Themen rund Trauer, Tod und Sterben in der Gesellschaft sind - und wie stark diese Angst eine Hürde sein kann, die es zu nehmen gilt. Vor allem bei Männern, könnte ich mir vorstellen, sind die Ängste noch größer. Reines Bauchgefühl, zugegeben, wissenschaftliche Beweise muss ich schuldig bleiben. Was ich aber oft erlebt habe: Wenn Männer unter sich sein können, fällt ihnen das Reden auch über Unsicherheiten wesentlich leichter. Deswegen kann es eine gute Idee sein, gerade bei derart angstbesetzten Themen mehr auf gleichgeschlechtliche Gruppenangebote zu setzen. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Männervariante eines "Death Cafés"? Ob dieses Angebot nun "Sterbestammtisch nur für Männer" heißt oder "Bier, Pommes und Lebenssinn" (mal so ins Blaue gesponnen), es könnte ein niederschwelliges Angebot sein, überhaupt mal Männer über solche Themen ins Gespräch zu bringen, moderiert, begleitet, aber locker. Ein vergleichbares Angebot ist der "Männertreff" der Hospiz-Initative Kiel, die dafür sogar einen Preis der Deutschen Hospiz- und Palliativstiftung bekommen hat. Eine weitere Idee, die mir beim Lesen all dieser wertvollen Initaitven gekommen ist: Wie wäre es denn, beispielsweise eine "Männerwoche" anzubieten, oder noch besser eine "Schnupperwoche für Männer", in der an drei Abenden, beispielsweise, von Sterbe- bis Trauerbegleitung alles einmal theoretisch vorgestellt und vielleicht auch erlebt werden kann. Reinschnuppern, rantasten, erstmal Informationen sammeln... - die grundsätzliche Idee ist, nicht gleich mit einem Grundkurs oder einem anderen Angebot starten zu müssen, dass als "zur späteren Mitarbeit verpflichtend" erlebt werden kann, sondern eine möglichst niedrigschwellige Hinführung zu diesen Themen anzubieten. Ganz unverbindlich, für Neugierige. Motto: Hospize brauchen Helden - schnupper' doch mal rein. Oder so.

(Foto: Pixabay/Pexels, CC-0-Lizenz)

3.) Dritte Impulsfrage: Können wir unser allgemeines Portfolio um "männliche" Themen erweitern - z. B. bei Vortragsveranstaltungen, internen Weiterbildungen, Qualifizierungen, etc.? Ein Thema, das während meiner eigenen Qualifizierung zum Trauerbegleiter nur am Rande eine Rolle spielte, dessen Wichtigkeit mir dann aber durch die Arbeit mit Menschen in Trauer bewusst geworden ist, ist die Aggression. Nun sind Wut und Aggression nicht per se "männliche" Themen, weil sie zu einem Trauerprozess allgemein dazugehören können. Und doch gelten in Medizin und Forschung Aggression und Wut bei Männern als Ausdrucksform von tieferliegenden Problemprozessen, wie mir die Recherche für mein Buch "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" gezeigt hat. Männliche Depressionen, so ist der Tenor, zeigen sich ganz oft über Aggressionen, wie beispielsweise Dr. med. Josef Hättenschwiler als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie dem Internetportal „Neurologen und Psychiater im Netz“ in einem Artikel sagte: „Oftmals sind sie geradezu feindselig und aggressiv gegenüber ihrer Umwelt und legen dabei eine nach außen gerichtete Vorwurfshaltung an den Tag“.  Anders gesagt: Aggression ist eines dieser Themen, bei denen ein gewisses Hintergrundwissen um die geschlechtliche Einordnung einem dabei helfen kann, die richtigen Worte und die passende Unterstützung zu finden - in welcher Begleitungssituation auch immer. Ein Beispiel von mehreren dafür, dass es einen geschlechtsspezifischen Umgang mit den "düsteren Themen des Lebens" geben könnte und dass eine rein weibliche Perspektive nicht immer die einzige Perspektive sein muss. Hierfür den Blick zu schärfen, hierfür ein Bewusstsein zu schaffen, das sollte also auch die Aufgabe von Qualifzierungen im Hospiz-, Palliativ- und Trauerbegleitungskontext sein. Auch im Bereich der Weiterbildungen für Ehren- und Hauptamtliche könnte bzw. sollte diese Sensibilisierung für geschlechtsspezifische Bedürfnisse eine Rolle spielen. Oft erlebe ich, dass die Koordinatorinnen und Verantwortlichen für solche Weiterbildungen auf der Suche sind nach guten Themen - also lässt sich das Geschlechterthema auch dort schon gut andocken. 

(Foto: Thomas Achenbach)

4.) Vierte Impulsfrage: Ist unsere Sprache, die wir intern oder in der Öffentlichkeitsarbeit benutzen, vielleicht allgemein zu "weiblich"? Eine der bemerkenswertesten Erfahrungen, die ich habe machen dürfen, nachdem mein Buch "Männer trauern anders" erschienen war, drehte sich um die von mir darin gewählte Sprache. Während die männlichen Rezensenten des Buches lobten, dass ich eine "sehr klare" Sprache gefunden hätte, schrieb eine weibliche Rezensentin in der Zeitschrift "Psychologie Heute", wörtlich in ihrer Kritik: "Auch eine männergerechte Wortwahl mahnt der Autor an. Das scheint nicht einfach, zumal sein Buch selbst den leicht betulichen, weichen Ton sucht, der Trauerbücher zu Trostbüchern machen soll." Das mit dem "betulichen" Tonfall hat mich lange nicht losgelassen, weil ich daran ein generelles Erleben knüpfen kann: Im gesamten Bereich von Hospizarbeit, Palliativarbeit und Trauerbegleitung wird allgemein eine wertschätzende, vorsichtige und umsichtige Sprache gesprochen bzw. in der schriftlichen Kommunikation geschrieben. Das ist etwas sehr Schönes, das ich zu schätzen weiß. Und doch frage ich mich manchmal, ob das nicht auch, sagen wir, etwas Abschreckendes haben kann - so nach dem Motto: "Wenn ich meine Wortwahl nun einmal nicht so umsichtig treffen kann, darf bzw. kann ich dann dort überhaupt mitarbeiten?". Ich kann mein eigenes Erleben daran anknüpfen, mir fällt es auch nicht immer leicht, eine sehr vorsichtige und umsichtige Sprache zu finden (eine Teilnehmerin eines meiner Workshops sagte neulich den wunderbaren Satz: "Je länger man sich mit dieser gewaltfreien Kommunikation beschäftigt, desto häufiger möchte man auch mal sagen dürfen, Mensch, diese gewaltfreie Kommunikation ist aber auch ganz schön scheiße...."). Von einem männlichen Vorstandsvorsitzenden eines Hospizvereins habe ich einmal eine E-Mail bekommen, deren Wortlaut ungefähr so war: "Machen wir so. MfG." Zackig, markant und kurz. Ich kann damit gut umgehen und kann das gut einordnen. Und doch sehe ich eine gewisse Diskrepanz zwischen "weich/betulich" einerseits und "MfG" andererseits. Der beste Weg liegt, wie so oft im Leben, vermutlich irgendwo in der Mitte. Dennoch kann es bei der Frage "Wie bekommen wir Männer ins Ehrenamt" hilfreich sein, einmal die eigene Kommunikation kritisch zu überprüfen. Welche Wörter wählen wir? Hier sind zum Beispiel einige Wörter, mit denen man in seiner Öffentlichkeitsarbeit gut arbeiten kann, wenn man Männer interessieren möchte: Mut, Abenteuer, Lebenserfahrung, Weisheit, Grenzen überschreiten... - Dazu gehört auch die Frage: Gendern wir - mit dem Asterisken (also dem Sternchen) oder dem Doppelpunkt? Diese Sache mit dem Gendern ist so etwas, über das ich hier gar nicht im Grundsatz diskutieren möchte. Was Männer angeht, befürchte ich allerdings, dass es durchaus auch eine abschreckende Wirkung haben kann, zumindest in gewissen Generationen von Männern (vielleicht nicht so sehr bei der jüngeren Generation). Ich beobachte das an mir selbst - was das Gendern angeht, bin ich zwischen Professionalität und eigenem Erleben innerlich stark auseinandergerissen. Und diese Kluft wird immer größer: Je mehr ich auf der professionellen Ebene versuche, mich dem Gendern und der dahinterliegenden Motivation durchaus mit Verständnis zuzuwenden bzw. mit einem generellen Verstehenwollen, desto mehr stelle ich in meinem ganz persönlichen Alltag fest, wie sehr es mich, wenn ich ehrlich sein soll, einfach nervt. Wenn ich einen Text sehe, der in Gendersprache geschrieben ist, mit Sternchen oder Doppelpunkt, dann mindert das meine Lust, mich damit auseinanderzusetzen, doch enorm - einen solchen Text lese ich oft nur, wenn ich das unbe-unbe-unbe-unbedingt muss. Aber das nur am Rande als persönlicher kleiner Einschub. Wichtig ist mir allein die Botschaft: Das Gendern kann abschrecken -  in der Erwägung, welche Kommunikation man wählen möchte und welches Publikum man wie erreichen möchte, sollte dieser Aspekt zumindest mitberücksichtigt werden. 

5.) Fünfte Impulsfrage: Arbeiten wir viel mit Methoden - in unseren Begleitungen, Fortbildungen und in unseren Qualifizierungen? Das ist noch so eine Diskrepanz, die ich in den vergangenen Jahren oft erfahren habe: Einerseits werde ich bei Vorträgen ganz oft gefragt, welche Methoden ich denn für Männergruppen (speziell: Trauergruppen) oder für Einzelbegleitungen mit Männern empfehlen würde - während ich andererseits selbst immer wieder erlebt habe, dass die Männer in den Gruppen die gelegentlich angebotenen Methoden gar nicht gebraucht oder gar gewollt haben. Das hat mich zu der spitzen These geführt: Männer brauchen keine Methoden, sie sind oft dankbar genug, wenn sie einfach reden und sich verstanden fühlen können. So ist es mir selbst immer wieder gegangen: Bei meinen ersten Trauergruppen mit Männern habe ich mir einige Gedanken darüber gemacht, was man denn diesmal als Methode anwenden könnte, was vielleicht passen könnte, dann habe ich das dafür benötigte Material zusammengestellt - und bin fast jedes Mal mit einem unausgepackten Materialköfferchen wieder nach Hause gekommen. Und trotzdem war die Rückmeldung der Männer jedes Mal, wenn sie einfach nur reden durften: Mensch, hat das heute wieder gut getan! Hierzu muss natürlich gesagt sein: All diese Erlebnisse beziehen sich alleine auf die Arbeit mit Betroffenen, mit Menschen, die in einer Trauersituation stecken. Aber wie ist es auf der Ebene der Ehrenamtlichen und der Hauptamtlichen? Kann es vielleicht sein, nur als vorsichtige Frage formuliert, dass der große Hang zum Arbeiten mit Methoden, den es ohne Zweifel gibt, vielleicht auch auf der Ebene der Ehren- und Hauptamtlichen mehr gemischte Gefühle weckt als wir das manchmal annehmen? Oder provokativ gefragt: Zwingen wir unseren Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen das Arbeiten(müssen) mit Methoden manches Mal förmlich auf? Und kann das vielleicht auch Einfluss auf unsere Außenwirkung haben und auf die Frage, ob Männer sich bei uns allgemein wohlfühlen? 

Und an dieser Stelle könnten die Diskussionen beginnen. Wir könnten darüber diskutieren, ob es "die Männer" überhaupt gibt oder wie wir sie definieren wollten, wir könnten uns von anderen Erfahrungen als meinen berichten lassen, die es ganz sicher auch gibt. Wir könnten über Materialien diskutieren, die wir benutzen, über die Frage, ob Materialien eine Geschlechtlichkeit ausstrahlen, wir könnten über die Räume diskutieren, die wir benutzen und über die Frage, ob sie beim ersten Betreten als weiblich oder als männlich erlebt werden und warum. All das könnten wir tun. Und schon wären wir mittendrin im Prozess. Und nur darum geht es. 

Also: Auf geht's


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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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