Osnabrück - Trauer... diesen Prozess verstehen die meisten Menschen als etwas von Außen bewirktes, das sich irgendwie an einem ereignet. Meistens wird Trauer als etwas gesehen, dass entweder "Arbeit macht", um es mit Sigmund Freud zu sagen. Oder als etwas, das unangenehm ist und bitte möglichst bald "bewältigt", also gewaltsam beiseite geschafft werden sollte. Aber beides sind keine hilfreichen Strategien. Wieviel hilfreicher es dagegen sein kann, seine Trauer zuzulassen, sie zu durchleben und vielleicht sogar zu gestalten, wissen jene Menschen, die in diesem Prozess nicht mehr ganz am Anfang stehen. Unter anderem deswegen ist es mir so wichtig, nicht einfach mit dem Begriff "Trauernder" einen Aufkleber draufzupacken auf Menschen, die gerade in einer der vielleicht größten Krisen ihres Lebens stecken. Aber es gibt noch mehr Gründe dafür.
Plötzlich gibt es nur noch Kaputtes, nur noch Zerbrechlichkeiten. Leonard Cohen singt in seinem Lied "Anthem" davon, dass letztlich ein Riss in allem ist. "There's a crack in everything!" -, diese Zeile findet sich im Refrain. Und genau so fühlen sich die meisten Menschen, die sehr stark unter dem Verlust eines anderen Menschen zu leiden haben: Die Welt ist insgesamt brüchiger geworden. Für Leonard Cohen indes stellt dieser Riss in allem noch etwas anderes dar - für ihn bedeutet er die einzige Möglichkeit, etwas Licht in die Düsternis hineinzulassen (..."that's how the light gets in"). Dieses von Leonard Cohen beschworene Bild von dem Riss, der überhaupt erst das Einsickern von etwas Licht möglich macht, lässt sich sehr gut in einer Trauerbegleitung benutzen. Die Idee davon, dass etwas eigentlich Kaputtes auch eine leise Ahnung von etwas neuem Ausgehelltem in sich tragen kann, kann ein interessanter Perspektivwechsel sein, der neue Impulse mit sich bringen kann. Ohne dass das Kaputte dafür ganz heile werden müsste, denn es ist ja gerade die Tatsache, dass es kaputt ist, die für dieses neue Licht sorgt. Ein klarer Fall von Sowohl-als-auch... Und damit sind wir wieder beim Thema: Menschen, die gerade einen anderen Menschen verloren haben und innerlich sehr stark mit diesem Verlust beschäftigt sind, sich vielleicht sogar davon aufgesogen fühlen, finden sich ganz oft vor solchen Sowohl-als-auch-Türen wieder. In manchen Trauerbegleitungen, bei manchen Gruppentreffen, wird oft sehr herzlich und sehr viel gelacht. Wer in Trauer ist, muss nicht permanent traurig sein. Wer in Trauer ist, steckt vielmehr mittendrin, ganz eingeklemmt, in diesem Riss, der aber schon etwas Licht wieder möglich macht.
Und deswegen plädiere ich so sehr dafür, diese Menschen nicht einfach nur als "Trauernde" zu bezeichnen - weil mir in diesem Begriff zu wenig "... als auch" drinsteckt. Fünf Gründe für die "Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise":
1.) Weil der Begriff den Menschen klarmacht, dass sie sich in einer Krisensituation befinden - damit geht die Erlaubnis einher, sich überfordert fühlen zu dürfen und (merkwürdige) Dinge tun zu dürfen. Wer als Mensch in eine Trauer- und Verlustkrise gerät, weil er einen anderen Menschen verloren hat, der kann sich mehrfach überfordert fühlen (und wie bei allem, was Trauer angeht, gilt auch hierbei: Das kann so sein, muss es aber nicht, es kann auch ganz anders sein, dann ist es auch okay). Da ist es manchmal schon hilfreich, wenn wir uns diese Überforderung von einem anderen Blickwinkel aus angucken können. Zum Beispiel so: Eben weil Du als Mensch jetzt in einer Krise steckst, darf es sich auch so anfühlen. Diese Vergewisserung, dass es so sein darf, wie es jetzt gerade ist - die tut vielen Menschen in einer solchen Lage schon ganz gut. Unter anderem darum geht es. Ganz abgesehen davon ertappen sich Menschen in einer solchen Krise oft dabei, dass sie sich Verhaltensweisen zulegen, die andere vielleicht als merkwürdig erleben (obwohl sie alle einen tieferen Sinn erfülllen): Mit den gestorbenen Menschen reden. Die Kleidung der gestorbenen Menschen befühlen oder sie sogar anziehen. All das und mehr, auch das darf es alles geben, es ist okay (mehr dazu gibt es in meinem Blogbeitrag "Keine Sorge, alles ganz normal!").
(Foto: Thomas Achenbach) |
2.) Weil in unserer Gesellschaft ein "Trauernder" immer noch als einer verstanden wird, der irgendwie nicht dazugehört - Zu den besonders schmerzvollen Erfahrungen, die Menschen in Trauer oft machen, gehört auch diese: Wie die anderen Menschen in einem Raum verstummen, sobald der Betroffenen hineinkommt. Wie einem andere Menschen ausweichen, wie sie vielleicht die Straßenseite wechseln. Schnell erleben sich Trauernde als Menschen mit einem Stigma, das ihnen gesellschaftlich angehaftet wird, obwohl es so nicht sein müsste. Warum das so ist, lässt sich schnell erklären: Trauernde machen anderen Menschen Angst, weil sie mit dem Tod behaftet sind. Auch hierbei hilft die Formulierung der "Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise", weil sie den Betroffenen klar macht, dass auch diese Prozesse - das Nicht-verstanden-sein, das Abgelehnt-werden, die Befangenheit der anderen Menschen - eben ein integraler Bestandteil dieses Krisenprozesses sein können. Wie lange auch immer dieser Prozess dauern wird (meistens: länger als andere sich das vorstellen können).
3.) Weil die gefühlte Nähe zu Trauer als Krankheit dadurch vermieden wird. Trauer ist keine Krankheit, aber eine nicht ausgelebte Trauer kann einen Menschen krank machen. Ein "Depressiver" ist ein Kranker. Ein "Spielsüchtiger" ist ein Kranker. Ein "Trauernder" ist das eben nicht. Es ist ein Mensch, der sich in einer Krisensituation befindet, in einem Übergangsstadium von einer Lebenssituation in neue, andere; es ist ein Mensch, dessen Lebensentwurf, dessen Grundüberzeugungen, dessen Werte durcheinandergeraten sein können, ja, vielleicht ist sogar der steinharte Untergrund, auf dem dieser Mensch gestanden hat, zerbröckelt. All das kann geschehen, wenn wir einen Verlust erleben und wenn wir sehr stark unter diesem Verlust zu leiden haben, all das kann so sein, muss aber nicht so sein. Und all das ist trotzdem - das Normale in einer so unnormalen Situation. Also: Keine Krankheit.
(Foto: Pixabay.com/Gerd Altmann, CC-0-Lizenz) |
4.) Wer sich allein auf das Wort "Trauernde" beschränkt, blendet das Thema des Verlusts dabei zu sehr aus - es geht dann nur noch um eine Definition bzw. eine Zustandsbeschreibung. Da ist jemand in Trauer, okay, aber warum er das ist, wird nicht weiter berücksichtig. Deswegen mag ich den erweiterten Begriff der "Trauer- und Verlustkrise". Daran jedoch hat es auch schon einmal, berechtigterweise, Kritik gegeben: In einer Besprechung meines Buches "Männer trauern anders, was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag) monierte der Rezensent, dass es diese Bezeichnung weder als psychologischen, noch als allgemein anerkannten Fachbegriff gäbe. Das stimmt, dem Einwand muss ich beipflichten. Streng genommen gibt es diesen Begriff gar nicht bzw. es fehlen konkrete Definitionen dafür. Aber vielleicht ließe sich das ja ändern?
5.) Weil es bei Trauer nicht alleine nur um das Trauern geht - oder anders gesagt: Alles, was so ein Prozess mit sich bringt, der durch den Verlust eines anderen Menschen ausgelöst wurde, kann irritierend sein und kann die Betroffenen verunsichern. Was Trauer alles mit sich bringen kann, ist eine Menge: Aggressionen können dazugehören, aber auch Mutlosigkeit. Appetitlosigkeit, aber auch neue Süchte. Und es können körperliche Symptome auftreten, die aus der Trauer heraus resultieren: Eine starke Erschöpfung und Müdigkeit, Kopfschmerzen, Herzrasen, Kreislaufschwankungen, Schlaflosigkeit, Magendrücker, Bauchweh. Kurzum: Durch die Trauer gerät der gesamte menschliche Apparat, inklusive der Seele, versteht, in einen Zustand einer länger anhaltenden Krise. Einer Trauer- und Verlustkrise. Wenn wir diesen Begriff benutzen, machen wir den Betroffenen klar, dass all das dazugehören kann. So dass sich niemand fragen muss, ob er denn noch ganz richtig ist. Denn das ist jemand, der auf Trauer reagiert - er ist ganz richtig. Aber in einer Krise.
Aber nochmal zurück zum Thema Risse - auch, was das Thema Sprache allgemein angeht, müssen wir ja feststellen, dass es derzeit viele Risse gibt:
(Foto: Thomas Achenbach) |
Ich bin in Sachen Sprache zwar durchaus sensibel, ich weiß einerseits darum, dass Sprache durchaus ein Machtinstrument sein kann... Andererseits bin ich aber kein Freund davon, durch die Diskussionen über Sprache noch mehr Risse zu erzeugen als jene, die ohnehin schon durch unsere Gesellschaft gehen. Wenn ich manche der Debatten verfolge, die gerade in Teilen unserer Gesellschaft geführt werden - und die dann wiederum auf die Feuilletons der Zeitungen abstrahlen -, wenn ich die Verbissenheit sowie die Heftigkeit erlebe, mit der diese Diskussionen geführt werden, die allgemeine Bereitschaft, sofort in Empörung auszubrechen, ja, fast förmlich darauf zu warten, dass man endlich, endlich, endlich wieder hochempört sein kann, dann ist mir das alles viel zu aufgeheizt. Als ich im vergangenen Sommer einen meiner Blogbeiträge bei Twitter angepriesen hatte, der einfach nur ein Erklärstück darstellt darüber, warum manche Menschen heutzutage von "Zugehörigen" statt "Angehörigen" sprechen - und der sich weder für das eine noch für das andere als eine Ultima Ratio ausspricht -, wurde ich dort gleich angepampt. Nach dem Motto, was ich denn bitte dagegen hätte. Vermutlich von Menschen, die nicht einmal einen winzig kleinen Blick auf den Blogartikel selbst geworfen haben. Das hat mir sehr deutlich gezeigt wie unnötig hysterisch diese ganze Sache längst geworden ist. Mann, Leute. Bitte durchatmen.
Wenn's um Sprache geht, werden manche fast hysterisch
Anstatt die Gesellschaft aufmerksamer und allgemein liebevoller zu machen, was ja anfangs mal das Ziel einer wachsamen Sprache gewesen sein mag, sind aus gesellschaftlichen Rissen inzwischen richtige Brüche geworden, über die sich meistens keine Brücken mehr bauen lassen. Und ich frage mich, ob das wirklich so sein muss - oder ob wir uns nicht alle mal ein bisschen entspannen können? Jedenfalls ist das nicht das, was ich möchte. Mir geht es viel mehr darum, durch die Risse auch das Licht hindurchzulassen - und dieses Licht sichtbar zu machen.
Denn:
There's a crack in everything.
That's how the light gets in.
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