Freitag, 19. März 2021

Die besten Filme über Trauer, Tod und Sterben, Folge 2: Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine sehr exakte Leidensstudie ist und was sie uns über das Trauern erzählt - Serie über "Die besten Trauerfilme", Tipps/Rezensionen

Osnabrück - Wenn sie mit ihrem gestorbenen Papa sprechen will, klettert die achtjährige Simone in den riesigen Baum neben dem Holzhaus ihrer Familie, das in den Hang eines Hügels im australischen Outback hineingebaut ist. Dass der Vater jetzt in diesem Baum wohnt, vielleicht sogar zu diesem Baum verwandelt wurde, ist ihre feste Überzeugung - und bald auch die der anderen Familienmitglieder. Als die Mutter dann ihre eigene Trauer mit einer neuen Liebesaffäre abzumildern versucht, ist es nur logisch, dass der Baum in einem Anfall von Eifersucht das Schlafzimmer zertrümmert. Mit dem 2010 veröffentlichten australisch-französischen Spielfilm "The Tree" möchte ich meine Serie über die besten Trauerfilme gerne fortsetzen - mit einem echten Höhepunkt filmischer Trauerliteratur, hübsch langsam und behutsam erzählt und sehenswert, nicht alleine wegen einer grandiosen Charlotte Gainsbourg und der wunderschönen Landschaftsaufnahmen. 

Was können uns Spielfilme über das Erleben von Trauer erzählen? Können wir etwas über das Leben lernen? Kommen sie der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation nahe? Sind Sie für Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise geeignet, weil sie ihnen Verständnis oder Ermutigung anbieten können? Diese Fragen bilden sozusagen das Grundgerüst für meine Reise durch die Welt der Trauerfilme, die ich für diesen Blog unternehmen möchte. Und da gehört "The Tree" unbedingt dazu - übrigens nicht zu verwechseln mit dem ebenso bildgewaltigen wie ungewöhnlichen Meisterwerk "The Tree Of Life" mit Brad Pitt, der wiederum eine ganz andere Kategorie an Film darstellt. Oder an Kunst. Aber dazu irgendwann an anderer Stelle mehr.



Nein, bei diesem einfach nur "The Tree" betitelten Drama der Regisseurin Julie Bertocceli handelt es sich um die Verfilmung des Romans "Erzähl mir, großer Baum". Und dem Film gelingt ganz spielerisch das kleine Wunder, einen Baum selbst zu einer mächtigen Metapher für Trauer und ihre Eigenarten werden zu lassen, ohne dabei jemals ins Mystische, ins Märchenhafte oder ins Kitschige abzugleiten. Manchmal ist die Bildsprache dieses Film schon fast zu plakativ, aber gerade deswegen gut geeignet, um zu vermitteln: Ja, genauso dürfte sich Trauer anfühlen. Genauso dürfte sie einen immer wieder einholen, umklammern, selten lockerlassen. Sie kann etwas Lebendiges sein, sogar Leben stiftendes - und gleichzeitig etwas Erdrückendes, Abwürgendes, Symbiotisches. So berichten es die Menschen, die einen Verlust erlitten haben. Und so sehen wir es in diesem Film.

Das doppelgesichtige Wesen der Natur


Der Tod grätscht in das Leben der O'Neills, wie er so oft in das Leben hineinplatzt: Ganz plötzlich und unerwartet. Da sackt der Vater einfach am Steuer seines Pickups in sich zusammen und stirbt. Was die junge Tochter hinten auf der Ladefläche erst gar nicht bemerkt. Als das Auto von der Straße auf eine Wiese abbiegt und sie sich mächtig festhalten muss hinten an den Stangen, jauchzt sie vor lauter Vergnügen. Bis das Auto in den mächtigen Feigenbaum prallt, der von da an immer mehr die Hauptrolle übernehmen wird. Wobei seine fast menschengroßen Wurzelarme, die sich überallhin ausbreiten, schon bald Probleme machen. Weil sie beispielsweise in die Hausabflüsse hineingewachsen sind und sich dann Frösche in der Toilettenschüssel breitmachen. Überhaupt spielt die Natur an sich eine wesentliche Rolle im Mittelteil dieses Films. Ihre doppelgesichtige Wesensart, einerseits wunderschön und voller Leben, andererseits auch mal eine Bedrohung für die Menschen, findet sich in vielen Szenen des Films wieder - wennn zum Beispiel plötzlich eine verirrte Fledermaus an der Küchenlampe hängt. Die natürlich, und damit schließt sich der thematische Bogen wieder, zuvor im Baum gehangen hatte. So ist "The Tree" auch eine Meditation über Naturgewalten - Trauer, das ist die Botschaft, ist eine der größen Naturgewalten, die gibt. So wie die Liebe, ihre andere Seite. 


(Alle Fotos und das Filmplakat: Pandora-Film, mit freundlicher Genehmigung)

Nicht alles an diesem Film lässt sich ganz unkritisch hinnehmen. Klar, die junge Morgana Davies als Darstellerin der achtjährigen Simone ist eine schauspielerische Wucht - und eines jeden Papas Traumtochter mit ihrer unverwüstlichen Treue über den Tod hinaus und ihren blonden Haaren und den großen Augen. Wie sie mit ihrem facettenreichen Ausdrucksreichtum sogar eine Charlotte Gainsbourg locker an die Wand spielt, ist bemerkenswert. Und doch bleiben die Kinder in diesem Film allesamt sehr unkindlich gezeichnet. Mit beinahe zen-buddhistischen Lebensweisheiten ausgestattet, ertragen sie viel zu viel, als dass sowas im echten Leben möglich sein könnte. Aber sei's drum. Die wahre Hauptfigur dieses Films bleibt der Baum - und der ist nun wirklich eindrucksvoll. Schon bald wird er zum Symbol für die Trauer an sich. 

Jeder Versuch ihr zu entkommen, macht Trauer stärker


Wenn die Familie beispielsweise nach einer längeren Abwesenheit für die Weihnachtswochen zu ihrem Haus zurückkehrt und feststellen muss, dass sich der Baum mit seinen Auswüchsen des ganzen Bauwerks bemächtigt hat, ist auch das, wie fast alles in diesem Film, eine Metapher: Der Versuch eines Ortswechsels, der Versuch zu entkommen, endet nur damit, dass einen die Trauer noch viel stärker umfangen hält als vorher. Diese Naturgewalt ist zu mächtig dafür - Du kannst ihr nicht entkommen. Dass der Film am Ende dann doch eine vorsichtig optimistische Katharsis wagt, ist in dramaturgischer Hinsicht sicher nötig. Aber auch dieses Finale bleibt von einem echten Happy End entfernt. Wie im echten Leben. Kann der Film also seinen Zuschauern das Gefühl von Trauer nahebringen? Werfen wir einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie: 





- 1.) Was sagt der Film darüber aus, wie Trauer ist - wie sie sich anfühlt? 

Am Anfang eine massive Erschöpfung. Später eine sich immer wieder aufbäumende Verzweiflung. All das und mehr macht der Film erlebbar, ohne dabei zuviel zu erklären, ohne auf die Tränendrüse zu drücken und ohne jemals eine hollywoodesque Gefühlsüberladung über sein Publikum auszukippen. Der Film ist eine sehr exakte Studie über menschliches Leiden. Alles, was wir hier zu sehen bekommen, deckt sich mit dem, was uns Trauernde aus ihrem Leben erzählen.


- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert? 

Durchaus, ja. Weil er dazu einlädt, sich selbst die Erlaubnis zu so vielem zu geben, was zur Trauer dazugehören kann - zum Beispiel dazu, mit den gestorbenen Menschen zu sprechen. Und weil er Alltagssituationen zeigt, die Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise nur allzu bekannt vorkommen. Wenn die Nachbarin von gegenüber zum Ausmisten der Schränke rüberkommt, weil sie das für nötig hält; wenn die Mutter es vor lauter seelischer Erschöpfung ein paar Tage lang nicht mehr aus dem Bett schafft; wenn jeder Versuch eines Neuanfangs mit der umso massiveren Rückkehr der Trauer endet... Das kennen Menschen, die unter einem Verlust leiden. 


- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)? 

Wer einen Menschen verloren hat, der redet mit seinen Toten. Davon haben mir fast alle der Trauernden, die ich bislang begleiten durfte, berichtet. Außerdem ist es den Menschen wichtig, dass sie ihre Toten irgendwo verorten können. Das kann an einem Grab sein oder an einer Stelle, wo etwas gemeinsames Schönes erlebt worden ist. Oder es kann in einem Baum sein. Zu wissen, dass der tote Mensch dort jetzt ist und dass man dort mit ihm in den Kontakt treten kann - das ist allen Menschen wichtig, die unter einem Verlust sehr zu leiden haben. Der Film zeigt das nicht nur sehr detailliert, er dekliniert dieses Bedürfnis auch für jedes einzelne Familienmitglied durch. Auch die Mutter klettert noch in den Baum, um mit ihrem Mann zu sprechen. Und der mittlere Sohn wird den Baum mit Wasser versorgen - obwohl das eigentlich streng verboten ist, mitten in der Dürrephase im australischen Outback.


- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film? 

Gegen Ende des Films wird die achtjährige Simone ihre Matratze in eine Astgabel hineinwuchten und vom Haus in den Baum umziehen. Sie wickelt eine bunte Lampiongirlande um ihr neues Zuhause und schläft und lebt dann zwischen den Ästen. Das weckt zweierlei Gefühle in mir: Eine Art väterlicher Sorge, sie möge nicht herunterstürzen und sich verletzen (was sie nicht tut). Und eine Art Sehnsucht nach einem ebenso naturbelassenen Schutzraum für Leib - und Seele. Vor allem die Seele.


- 5.)  Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Film in einem angeregt? 

Wo könnte ich einen Ort finden - einen inneren oder äußeren -, an dem ich mich den gestorbenen Menschen nahe fühlen kann? Wo, glaube ich, sind diese Menschen jetzt - oder das, was von ihnen übriggeblieben ist? Und: Wenn ich jetzt damit anfange, mit den gestorbenen Menschen Gespräche zu führen, halte ich mich dann für verrückt oder für ganz normal?


- Mein Fazit und meine Empfehlung: "The Tree" entwickelt sich langsam und ist eine durchweg metaphorisch gemeinte Filmerfahrung, seine Bildsprache ist jedoch nicht allzu schwer zu dechiffrieren. Der Film zeigt ebenso präzise wie schonungslos, welche Naturgewalt die Trauer ist und was sie mit uns macht - er ist Film gewordene Trauer. Gut geeignet für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation


--------------- Alle Folgen aus der Serie "Die besten Trauerfilme": ------------

- Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt - zur Folge 1 der Serie

- Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine exakte Studie über das Trauern ist - zur Folge 2 der Serie

- Was uns das oscar-prämierte US-Drama "Manchester By The Sea" alles über Schuld und Familiensysteme in Trauer erzählen kann- zur Folge 3 der Serie

- Der Tod zweier Söhne, ein Familiensystem und seine Geschichte - warum John Irvings "The Door In The Floor" ein Fim übers Erzählen ist - Folge 4

- Der Suizid der Mama und wie eine Familie weiterzumachen versucht, eindrucksvoll, aber zurückhaltend gezeigt in "Der letzte schöne Tag" - Folge 5

- Ein poetischer Film über Japan, alternde deutsche Ehepaare und die ewige Nähe des Todes - Dorris Dörries "Kirschblüten Hanami" ist eine Wucht - Folge 6

- Warum der Spielfilm "Das Zimmer meines Sohnes" unbedingt sehenswert und bemerkenswert realistisch eine Familie in Trauer abbildet - Folge 7 der Serie

- Ein kluger Film darüber, wie Trauer als latente Grundschwingung das Leben junger Menschen beeinflussen kann, "Dieses Sommergefühl"Folge 8 der Serie

- Als Familie nach dem Tod eines Kindes in der Ferne den Neustart wagen - was das mit Geschwistern und Eltern macht, erzählt "In America" - Folge 9 der Serie 

- Warum "Blaubeerblau" der perfekte Einsteiger-Film für alle ist, die sich an das Thema Hospiz noch nicht so richtig herangetraut haben - Folge 10 der Serie

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Im Trauergeschichten-Podcast zum Hören: "Darf ich das - ist das normal?" - was sich Trauernde so alles fragen und was es darauf für Antworten gibt  

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellt und was das für den Trauerprozess bedeuten kann - über die "Aufgaben der Trauer"

Ebenfalls auf diesem Blog: Entrümpeln, Ausmisten und Aufräumen nach dem Tod eines Menschen - was mache ich damit und warum ist das so hart?

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

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