Osnabrück - Nach dem Tod eines Kindes einen kompletten Neustart wagen - das ist es, was eine junge Familie im Spielfilm "In America" des irischen Regisseurs Jim Sheridan versucht. Doch unterschätzen die beiden Eltern, wie sehr das Thema des Kindsverlusts sich auf das gesamte Familiensystem auswirkt. Auch wenn sich das im neuen Alltag anfangs noch gar nicht so sehr bemerkbar macht. Das Besondere an "In America" ist: Diese Geschichte ist nur in Teilen ausgedacht. Jim Sheridan hat das Drehbuch zusammen mit seinen Töchtern verfasst - und für die war es beinahe eine Art Tagebuchschreiben über ihre eigene Familie, wie sie im "Making Of" verraten. Die Flucht in ein neues Land und in ein neues Leben als Flucht nach vorne, raus aus der Trauer - kann das gelingen? Der Film transportiert hierzu viele Wahrheiten, aber er verklebt sie zuweilen unter einer etwas zu dicken Märchentapete, so dass man genau hinsehen muss.
Das hat damit zu tun, dass sich Regisseur und Autor Jim Sheridan dazu entschieden hat, seinen Film in der Betrachtungsform des "Magischen Realismus" anzulegen - einer Kunstrichtung, in der sich mystische Elemente mit realistischen vermischen. Sheridan lässt den größten Teil der Filmgeschichte nicht nur aus der Sicht der beiden jungen Töchter erzählen, von denen zumindest die fünfjährige Ariel noch mitten in ihrer magisch-verträumten Kindheitsphase ist, er verlagert auch einen Teil seiner Filmsequenzen in den Camcorder, den die elfjährige Christy überall mit hinnimmt. Der Film ist von 2002, also aus einer Zeit vor der Einführung der heute omnipräsenten Smartphones, so dass ein Camcorder damals die einzige Möglichkeit war, Videos aufzunehmen (für alle Millennnials zur Erklärung). Aus diesem Kontrast - der Zaubermagie einer kindlichen Fantasie und dem bildlichen Realismus eines selbst aufgenommenen Videofilms - schafft "In America" ein interessantes Spannungsverhältnis. Aber ist er auch ein Film, der uns etwas über das Erleben von Trauer erzählen kann? Kommt dieser Film der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation nahe? Das sind die Grundfragen für meine Reise durch die Welt der Trauerfilme und für diese Artikelserie auf meinem Blog.
(Alle Fotos: Thomas Achenbach, Aushangfotos: 20th Century Fox) |
Als Jim Sheridan diesen Film veröffentlichte, war er auf der Höhe seiner kreativen Schaffenskraft angekommen. Mit "Mein linker Fuß" und "Im Namen des Vaters" hatte er zwei irisch-amerikanische Meisterwerke geschaffen, die das Publikum auf der ganzen Welt in den Bann geschlagen hatten. Die Kritik lobte Sheridan für sein Gespür für sensible Inszenierungen, deren emotionale Kraft sich langsam entfalten kann. Da sollte "In America" dran anknüpfen, ohne sich mit Rührseligkeit und Tränendrüsigkeit an das Publikum ranzuwanzen. Diesem Anspruch wird der Film über weite Strecken auch gerecht. Sein größtes Potenzial sind dabei die beiden Kinderdarstellerinnen, die ihre Rollen mit einer solchen lebensfrohen Natürlichkeit und Frische verkörpern, dass alleine ihr Spiel das Angucken zum reinsten Vergnügen macht. Jim Sheridan verarbeitete in "In America" den Verlust seines Bruders Frankie, der mit 16 Jahren an einem Gehirntumor starb. Im Film wird daraus nun der kleine Sohn einer Familie, aber der Name blieb: Frankie.
Keine gute Gegend für kleine Kinder
Ein heruntergekommener Mietblock mitten in einem abgerockten Viertel voller Alkoholiker und Drogensüchtiger - keine gute Gegend, um Kinder großzuziehen und doch der einzige Wohnort, den die junge Familie in New York finden kann. Denn nach dem Wegzug aus der Heimat Irland ist das Ehepaar Johnny und Sarah mit den beiden Kindern Christy und Ariel über Kanada illegal in die USA eingereist, wo sie ein neues Leben aufbauen wollen. Weil die Filmhandlung Mitte der 80er spielt, handelt es sich bei dem New York von damals noch um einen grundsätzlich gefährlichen Ort voller Kriminialität, Drogen und Gewalt, gefährlicher als heute.
Johnny schlägt sich als Taxifahrer durch, weil es mit der Schauspielkarriere nicht klappen will, Sarah arbeitet in einem Eisladen als Kellnerin. Beide leiden noch immer unter dem Verlust des zweijährigen Sohns Frankie, der an einem Gehirntumor starb. In ihrem Haus wohnt der wütende, schwarze Maler Mateo, dessen Schreie oft durch den ganzen Hausblock dringen, direkt in der Wohnung unter ihnen. Und doch wagen es die beiden Kinder, an Halloween an seine Tür zu klopfen. Auf den Straßen durch die Gegend zu ziehen mit dem in den USA üblichen "Trick or Treat" ist in einem solchen Viertel eben nicht so ohne Weiteres möglich, also müssen die Wohnungen im Haus reichen. Der Mut der Kinder wird belohnt. Mateo bricht mit der selbstauferlegten Vereinsamung und wagt sich wieder aus seiner Wohnung. Zwischen dem Maler und der Familie entwickelt sich sogar eine Art von Freundschaft. Doch wie sich herausstellt, ist Mateo sterbenskrank - und sein Sterbensprozess ist auf fast magische Art und Weise verknüpft mit dem Wachsen des neuen Babys im Bauch der wieder schwanger gewordenen Sarah.
Magischer Realismus und ein wenig Zauberei
Weil der Film so konsequent aus der Perspektive der Kinder erzählt wird, sind seine zauberischen Anwandlungen, ist also der erwähnte magische Realismus, sein wesentliches Element - und Sheridan versteht es meisterhaft, Poesie und Pathos so geschickt auszubalancieren, dass eine Überkitschung über weite Strecken ausbleibt. Der Zuschauer staunt und lässt sich gern verzaubern. Mehr episodenhaft als linear erzählt, gleitet der Film durch ein ganzes Kalenderjahr, kaum merklich strebt er auf die Verdichtung aller seiner Erzählelemente zu. Doch als es soweit ist, zeigt sich: Der Verlust des Sohnes bzw. Bruders ist noch immer der Stachel, der ein irgendwie normales Weitermachen unmöglich macht. Was der Film dabei gut herausarbeitet, ohne es zu seinem eigentlichen Thema zu machen, ist die systemische Auswirkung eines solchen Verlusts auf die ganze Familienkonstellation:
Da ist die älteste Tochter, die sich für das emotionale Gleichgewicht der gesamten Familie verantwortlich fühlt, genau spürend, dass die Eltern dieses aktuell nicht mehr herstellen können. Da ist die junge Mutter, die sich irgendwann einfach auf die Treppe nach oben zur Wohnung sinken lässt und dort sitzenbleibt - wie der Zuschauer ahnt, aus einer seelisch-kräftezehrenden Erschöpfung heraus, die nicht allein durch die brütende Schwüle herbeigeführt wird. Da ist der Vater, der sich in die Verantwortlichkeit für die Familie flüchtet, in das Funktionierenmüssen und Daseinmüssen, und dem deswegen auch der fast übermenschliche Kraftakt gelingt, in brutaler Tropenhitze eine gebrauchte Klimaanlage aufzutreiben und sie eigenständig das gesamte Treppenhaus hochzuwuchten. Und da ist die noch halb im Kleinkinddasein verfangene jüngste Tochter, die mit strahlend-lebensfrohen Augen die Welt um sich herum aufsaugt und alles spannend findet und deren Trauer sich nur in winzigen Augenblicken zeigt - wenn sie sich zum Beispiel vor der zunehmenden Verhärtung ihres Vaters erschreckt. "Du bist nicht mein Vater!" brüllt sie dann vor lauter Verzweiflung, "Du bist ein anderer Mann!". Jeder versucht seinen ganz eigenen Weg zu finden, ohne zu merken, dass das gesamte System sein Gleichgewicht verloren hat. Es wieder zu stabilisieren, geht nur zusammen.
Ein etwas zu simples Ende, aber hollywoodtauglich
Ärgerlicherweise setzt der Film in seiner finalen Auflösung auf einen ebenso klischierten wie überholten Mythos: Dass das eigene Leben nur für denjenigen weitergehen könne, dem es gelingt, sich von seinen Toten gänzlich zu verabschieden, sie also "loszulassen". Das hätte Jim Sheridan eigentlich besser wissen müssen angesichts seines eigenen Verlusts - und es entspricht nicht der Lebensrealität von Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise, ganz im Gegenteil, tatsächlich haben die meisten eher Angst vor der Endgültigkeit dieses Abschieds. Wie der Trauerforscher William Worden es so treffend formuliert hat, stellt uns der Prozess vor eine ganz andere Aufgabe: Den Verlust zuerst einmal zu begreifen und ihn dann ganz langsam, beinahe tröpfchenweise, in die eigene Lebensbiographie zu integrieren, ohne seine Schwere jemals zu verleugnen, darum geht es (einen Blogbeitrag über Wordens Modell der Traueraufgaben gibt es unter diesem Link). Und so wird "In America" am Ende doch noch das allzu simple Feel-Good-Kino, das auf Massentauglichkeit angelegt ist statt auf das exakte Durchdeklinieren von Trauerstadien. Ein hervorragend gemachter Film mit einer magisch-verzauberten Kindergrundierung bleibt das Werk dennoch, fällt aber im Kontext dieser Artikelserie über Trauerfilme ein wenig aus dem Rahmen. Werfen wir also, wie üblich, einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie:
Was der Film tatsächlich recht realistisch darstellt - bei aller märchenhaften Überhöhung - : Wie wenig die Trauer der einzelnen Familienmitglieder im Alltag zur Sprache kommt oder eine Rolle zu spielen scheint. Obwohl jedes einzelne Familienmitglied im Inneren noch raumgreifend mit dem Verlust beschäftigt ist, versuchen sie alle, dies für die Anderen auszublenden. Bis das nicht mehr geht.
- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert?
Nur bedingt, vermutlich eher nicht. Zwar spielt der Verlust eines Kindes eine wesentliche Rolle, aber der Film nimmt dies mehr als Aufhänger für eine Reihe weiterer Themen, die nicht unbedingt die gängigen Alltagsfragen berühren, mit denen sich Menschen in einer solchen Situation herumtragen. Die Flucht in ein neues Land, ein neues Leben mit all seinen Herausforderungen, das tägliche Überleben in einer schwierigen Umgebung, ökonomisch und gesellschaftlich und mit angeknackstem Familiensystem, das ist das zentrale Thema des Films.
- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)?
Ebenfalls nur bedingt, dazu bleiben sie zu sehr unter der Oberfläche und werden nicht genug ausdekliniert, zumal die konsequent kindliche Erzählerperspektive eine zusätzliche Verfremdung darstellt. Es bedarf einer profunderen Kenntnis dieser Themen, um sie in diesen Verstecken in ihrer Tiefe entdecken zu können.
- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film?
Es gibt viel Schönes in diesem Film, das einen berühren kann, mich hat jedoch gleich die Anfangssequenz am meisten bewegt: In ihrer Anfahrt auf New York durchquert die Familie den Lincoln-Tunnel, der von New Jersey direkt nach Manhattan führt. Die Fahrt durch dieses Nadelöhr wird zugleich zur karthatischen Neugeburt der gesamten Familie - als sie am Ende des Tunnels in die Stadt einfahren, ist es für alle wie ein Befreiungsschlag. Für einen ganz kurzen Augenblick liegt alles Schwierige hinter ihnen und nichts als Hoffnung vor ihnen, Aufbruch, Neues, ein wahrgewordener Traum - dass sich dieser schon bald in einen entbehrungsreichen Alltag verwandeln wird, ist für diese wenigen Sekunden der Ekstase ganz egal. Und wieder zeigt sich, dass die simpelsten Bilder oft die intensivsten sind: Das Licht am Ende des Tunnels sehen zu können. Jim Sheridan versteht es meisterhaft, diesen sekundenfüllenden Glückstaumel spürbar zu machen.
- 5.) Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Film in einem angeregt?
Wenn Du ganz neu anfangen wolltest, was würdest Du tun? Was würdest Du alles in Kauf nehmen dafür? Wie weit würdest Du sinken wollen (und können)?
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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