Mittwoch, 17. Februar 2021

Die besten Filme über Trauer, Tod und Sterben, Folge 1: Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt (und warum sich der Film auch sonst lohnt) - Serie über "Die besten Trauerfilme", Tipps/Rezensionen

Osnabrück - Sein bester Freund hat sich gerade erschossen und seine Lieblingstante ist vor wenigen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Kein Wunder, dass der 15-jährige Charlie manchmal Aussetzer hat, sich an nichts erinnern kann. Oder dass er nur noch in gelegentlichen Flashbacks an diese wohl traumatischsten Szenen seines jungen Lebens erinnert wird - zum Beispiel jenen Augenblick, als der Polizist vor der Tür stand. Und trotzdem versucht der Schüchterling, der auch ganz ohne diese Traumata ein klassisches Mauerblümchen wäre, irgendwie unfallfrei durch die Schulzeit zu kommen. 

Mit dem Jugenddrama "Vielleicht lieber morgen" beginnt hier auf diesem Blog eine neue Serie über die besten Filme rund um die Themen Trauer, Tod und Sterben. Und da gehört diese Coming-Of-Age-Geschichte aus den ausklingenden 90er Jahren durchaus dazu - weil sie zeigt, wie vielschichtig die Ebenen von Verdrängung sein können. Ich gebe gerne zu: "Vielleicht lieber morgen" ist eher ein leichtherzigerer Film mit einem tragischen Unterbau, relativ gut zu ertragen, vergleichsweise, mehr Teeniedrama als Trauerstudie. Genau damit setzt er einen guten Startpunkt für diese Serie. Es werden auch noch andere Filme eine Rolle spielen. Außerdem ist es der Film, mit sich die umwerfende Emma Watson erstmals von ihrer Harry-Potter-Hermine-Überfigur freigespielt hat.  

Eine Reise durch die Welt der Trauerfilme


Was können uns Spielfilme über das Erleben von Trauer erzählen? Können wir etwas über das Leben lernen? Kommen sie der Lebenswirklichkeit von Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation nahe? Sind Sie für Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise geeignet, weil sie ihnen Verständnis oder Ermutigung anbieten können? Diese Fragen bilden sozusagen das Grundgerüst für meine Reise durch die Welt der Trauerfilme, die ich für diesen Blog unternehmen möchte. Startend mit einer - trotz aller Schwere - bewundernswert lockerleichten Kost: Mit den "Vorteilen des Mauerblümchendaseins", wie der Originaltitel "The Perks Of A Wallflower" es treffend ausdückt. Willkommen in der Welt von Charlie. 

"Vielleicht lieber morgen" ist auf DVD und Blu Ray und über Netflix erhältlich (alle Fotos: Capelight Pictures, mit freundlicher Genehmigung).

Obwohl Charlie seinem täglichen Highschool-Leben und seinen eigenen Gefühlen vollkommen hilflos ausgeliefert ist, ahnt er doch, dass es auch ein Leben als Erwachsener geben könnte. Eines nach der Schule. Also zählt er einfach die rund 1400 Tage rückwärts, die es noch braucht, bis er dort rauskommt. Während er in seinem Inneren noch mit den beiden Todesfällen beschäftigt ist. Doch ist der Film "Vielleicht lieber morgen" keine Studie über Trauer oder über Traumata - auch wenn er durch eine ganz unvorgesehene Wendung gegen Ende eine existenzielle Tiefe erhält -, sondern ein hochintelligenter und glücklich machender Film über Teenager, wie ich wohl auch mal einer war und es tausende sind: Mehr so aus der Ecke unangepasster Individualist, nicht überall dazugehörend, gefangen in ganz eigenen Welten und emotionalen Verstrickungen. Nirgendwo kann er so richtig andocken - und die Altlasten aus der Vergangenheit scheppern zusätzlich in seiner jungen Seele, die damit noch ziemlich überfordert ist. Was Charlie aber gar nicht so richtig merkt und was anfangs auch nur angedeutet wird.

Der Stoff ist inzwischen sogar Schullektüre


Charlie schreibt regelmäßig Briefe, in denen er von seinem Leben berichtet - und von seinem Innenleben. Dieses Element ist im Film so beibehalten, macht aber deutlich, dass eine literarische Vorlage zugrunde liegt. Der Briefroman „The Perks of Being a Wallflower“ – übersetzt etwa:  Die Vorteile eines Mauerblümchendaseins – ist im Herbst 1999 erschienen und hat sich mittlerweile zu einem Kultbuch entwickelt, das auch in Schulen oft gelesen wird, wobei die deutsche Buchversion einen anderen Titel trägt, nämlich "Das also ist mein Leben". Warum diese beiden wesentlich besseren Originaltitel für den deutschen Film durch „Vielleicht lieber morgen“ ersetzt wurden und ob das Vorteile bringt, sei mal dahingestellt. Aber weil sowohl Film und Buch nicht einfach nur eine Coming-Of-Age-Geschichte erzählen und weil sie die üblichen Klischees dieser Gattung von Film oder Literatur gekonnt umschiffen, lohnt sich die Beschäftigung mit dem Werk. 

Auf ins Erwachsenenleben - da mussten wir alle durch


Denn als sich Charlie mit einem ziemlich wilden Geschwisterpaar anfreundet, nämlich mit der hübschen Sam und ihrem Bruder Patrick, beginnt sich seine Welt langsam zu wandeln. Sam hat den Ruf, ein Flittchen zu sein, Patrick ist offen homosexuell. Beide sind ebenfalls Außenseiter, aber wesentlich standfester. Durch sie erfährt Charlie erstmals ein Akzeptiertsein, das er bislang nicht kannte. Und mit dieser neuen Freundschaft beginnt seine Reise: Raus aus dem längst abgelegten Kinderleben und hin zu all den nötigen wie lästigen Turbulenzen einer beginnenden Adolenszenz. Mit allem dabei, was dazugehört: Dem ersten Vollrausch, dem ersten existenziellen Verliebtsein, dem ersten Sex und, nicht zu vergessen, einem Haschkeks… Doch erst die intime Berührung eines Mädchens ist es, die Charlies Leben am Ende des Films vollkommen auf den Kopf stellen wird. Wenn auch gänzlich anders als erwartet. Mehr darüber zu verraten wäre ein Monsterspoiler – nur soviel: Es hat etwas mit Trauma und Abspaltung zu tun und katapultiert den gesamten Film auf eine ebenso mutige wie unerwartete neue Ebene. Aber: Ist es auch ein geeigneter Film, der einem so etwas Komplexes wie Trauer nahebringen kann....? Werfen wir einen Blick auf das Fragen-Grundgerüst für diese Artikelserie: 

- 1.) Was sagt der Film darüber aus, wie Trauer ist - wie sie sich anfühlt? 

„Ich bin glücklich und traurig zugleich und versuche noch immer herauszufinden, wie das eigentlich sein kann“, schreibt Charlie in einem seiner Briefe. Das grundlegende Gefühl dem Leben irgendwie hilflos ausgeliefert zu sein, gekoppelt an gelegentliche Flashbacks, ist sozusagen der Unterbau dieses Films. Tatsächlich spielt Charlies Trauer an sich fast gar keine Rolle, sie bleibt mehr so die erahnbare Grundstimmung, die aber nur in Andeutungen gestreift wird. Das ist einerseits einer der großen Pluspunkte dieses Films, andererseits aber muss ganz klar gesagt sein: "Vielleicht lieber morgen" ist kein Film über Trauer. Eher noch ist er ein Film über Traumata. Vor allem aber ist es ein Film über das Großwerden und die Irritationen auf dem Weg dorthin.

Charlie (Logan Lerman) fühlt sich nicht wohl in seiner Haut (Foto: Capelight Pictures).

- 2.) Ist der Film für Menschen in einer Trauer- und Verlustsituation empfehlenswert? 

Vermutlich nur bedingt. Letztlich bleiben die erlebten Verluste als Themen zu unbehandelt, sie werden allenfalls am Rande erwähnt. Vor allem der Suizid des besten Freundes spielt im Grunde gar keine Rolle. Was jedoch im Film weitestgehend untergeht und sich erst bei einem Blick in das zugrundeliegende Buch erschließt: Dass Charlie diese Briefe mit seinen inneren Monologen an die gestorbenen Menschen adressiert. Es sind also Briefe, die den Toten gegenüber noch einmal das zur Sprache bringen wollen, was noch gesagt werden sollte und was innerlich gerade "obenauf liegt". Das ist ein Ritual, mit dem in einer Trauerbegleitung - je nach Art des Verlusts - durchaus auch gearbeitet werden kann. Und es kann ein kraftvolles Ritual sein. So gesehen: Ein guter Tipp. 


Charlie (Logan Lerman) gibt Sam (Emma Watson) Nachhilfe (Foto: Capelight Pictures). 

- 3.) Kann der Film seinem Publikum die Gefühle von Trauer und Verlust und allem, was dazugehört, nahebringen (vor allem Zuschauern, die nicht davon betroffen sind)? 

Flashbacks und Verdrängung, Trigger-Augenblicke, die einen aus dem aktuellen Leben reißen, das gehört bei manchen Menschen zu ihren Trauerprozessen durchaus dazu. Und es gehört auch dazu, dass diese Momente einen völlig überraschend in Situationen überfahren, in denen man niemals mit so etwas gerechnet hätte. Das alles zeigt der Film durchaus eindrucksvoll. Jedoch braucht es ein bereits vorhandenes Verständnis von all diesen Prozessen, um sie als das wahrnehmen zu können, was sie sind. Wer sich noch nicht mit den Themen Trauer, Tod und Sterben beschäftigt hat, dürfte fast enttäuscht sein, wenn er an diesen Film die Erwartung stellt, dass dieser sie ihm nahebringen kann. 

Charlie (Logan Lerman) wartet auf seinen Freund Patrick (Foto: Capelight Pictures). 

- 4.) Meine persönliche Lieblingsszene aus dem Film? 

Die Tunnelszene - mit dem grandiosen "Heroes" von David Bowie als Soundtrack dazu. Es gibt dieses Ritual, das die beiden Geschwister offenbar öfters zelebrieren: Immer dann, wenn ein anregender Song die beiden emotional packt, fahren sie zu einem ganz bestimmten Tunnel, um dann dort hindurchzufahren. Im Tunnel angekommen, steigt Sam (Emma Watson) durch die Dachluke der Fahrerkabine auf die Ladefläche des Pickups und steht dort hinten, bei vollem Tempo, die Kleidung im Fahrtwind flatternd, wie Kate Winslet am Bug der Titanic... Das erste Mal erfahren wir als Zuschauer etwas über dieses Ritual, als die beiden Geschwister mit Charlie im Pickup auf dem Nachhauseweg sind und plötzlich David Bowies "Heroes" aus dem Autoradio erklingt... "Oh mein Gott, was ist das für ein Song?", fragt Sam - und dann: "Patrick, wir müssen durch den Tunnel fahren!!"... Was sie dann auch tun, genauso wie oben beschrieben. In dieser kurzen Szene ist echt alles drin, was Jungsein ausmacht: Freiheit, Wildheit, die Poesie der Jugend, das Gepacktsein von einem Song, der einen ganz tief in den Sog des Augenblicks hineinzieht - in einen Augenblick, der wie die Ewigkeit ist. We could be heroes. Just for one day. Großartige Szene (als Youtube-Clip unter diesem Link zu finden).


Auf einer Party lernt Charlie (Logan Lerman) neue Freunde kennen (Foto: Capelight Pictures).

- 5.)  Welche ganz persönlichen Fragen werden durch den Film in einem angeregt? 

Was ist der Soundtrack Deines Lebens? Der Soundtrack Deiner Jugend? Lässt sich in Deiner Lieblingsmusik eine biographische Linie entdecken? Wie sähe diese aus? Und: Welche Musik braucht es, damit Du Dich ganz frei fühlen kannst?

Charlie (Logan Lerman) und Sam (Emma Watson) feiern Patricks (Ezra Miller) bestandene Prüfung (Foto. Capelight Pictures). 

- Mein Fazit und meine Empfehlung: "Vielleicht lieber morgen" ist ein großartiger Film über einen vielfältigen Strauß von Themen, die geschickt ausbalanciert erzählt werden, ohne dass sich der Film dabei verheddert. Obwohl dem Genre der Coming-Of-Age-Geschichten zugeordnet, verliert sich der Film nicht in den üblichen Mustern von Mobbing und Opferdasein, sondern erzählt eine ebenso intensive wie schmerzvolle Geschichte über das Erwachsenwerden unter erschwerten Bedingungen. Die drei Jungdarsteller Logan Lerman, Emma Watson und Ezra Miller sind durchweg überzeugend und großartig. Einer der größten Pluspunkte des Films ist es, dass er immer angenehm unprätentiös bleibt. 
Hochintelligent, dazu mit viel guter Musik; ein Film, der glücklich machen kann. Dass der Film in einer Zeit angesiedelt ist, in der es noch Cassetten gab, dafür aber keine Handys, macht ihn meiner Meinung nach zusätzlich sympathisch


--------------- Alle Folgen aus der Serie "Die besten Trauerfilme": ------------

- Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt - zur Folge 1 der Serie

- Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine exakte Studie über das Trauern ist - zur Folge 2 der Serie

- Was uns das oscar-prämierte US-Drama "Manchester By The Sea" alles über Schuld und Familiensysteme in Trauer erzählen kann- zur Folge 3 der Serie

- Der Tod zweier Söhne, ein Familiensystem und seine Geschichte - warum John Irvings "The Door In The Floor" ein Fim übers Erzählen ist - Folge 4

- Der Suizid der Mama und wie eine Familie weiterzumachen versucht, eindrucksvoll, aber zurückhaltend gezeigt in "Der letzte schöne Tag" - Folge 5

- Ein poetischer Film über Japan, alternde deutsche Ehepaare und die ewige Nähe des Todes - Dorris Dörries "Kirschblüten Hanami" ist eine Wucht - Folge 6

- Warum der Spielfilm "Das Zimmer meines Sohnes" unbedingt sehenswert und bemerkenswert realistisch eine Familie in Trauer abbildet - Folge 7 der Serie

- Ein kluger Film darüber, wie Trauer als latente Grundschwingung das Leben junger Menschen beeinflussen kann, "Dieses Sommergefühl"Folge 8 der Serie

- Als Familie nach dem Tod eines Kindes in der Ferne den Neustart wagen - was das mit Geschwistern und Eltern macht, erzählt "In America" - Folge 9 der Serie 

- Warum "Blaubeerblau" der perfekte Einsteiger-Film für alle ist, die sich an das Thema Hospiz noch nicht so richtig herangetraut haben - Folge 10 der Serie

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Im Trauergeschichten-Podcast zum Hören: "Darf ich das - ist das normal?" - was sich Trauernde so alles fragen und was es darauf für Antworten gibt  

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellt und was das für den Trauerprozess bedeuten kann - über die "Aufgaben der Trauer"

Ebenfalls auf diesem Blog: Entrümpeln, Ausmisten und Aufräumen nach dem Tod eines Menschen - was mache ich damit und warum ist das so hart?

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

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