Freitag, 25. Oktober 2019

Vorgestellt: Drei neue Bücher, die ich empfehlen möchte - Mit einem Themenmix rund um Trauer und Verlust, persönliche Krisen und andere wichtige Bereiche wie das Draußen gehen und Presse- und Öffentlichkeitsarbeit - Buchtipps im November 2019

(Alle Fotos: Thomas Achenbach)

Osnabrück - Schon seit mehreren Wochen, sogar Monaten, liegen hier drei Bücher bei mir im Arbeitszimmer, die ich gerne vorstellen wollte und die mich sehr interessiert haben. Jetzt endlich finde ich die Zeit, sie angemessen zu würdigen und mit einer längeren Besprechung zu bedenken. Es geht um weibliche Trauer nach dem Verlust eines Partners, es geht darum, warum uns das Gehen - das schlichte Gehen - als Menschen nicht nur in einer Krisensituation so besonders gut tut und es geht um Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, ein Thema, dem ich mich auch auf diesem Blog immer mal wieder als Randaspekt gewidmet habe und dass ich in Seminaren bei Hospiz- und Palliativeinrichtungen vermittelt habe. Lust drauf? Ja? Prima, dann kann's ja losgehen:



1.) "Alleine weiterleben" / Eva Terhorst

Kurzbeschreibung des Buches: Wenn es im Titel heißt "Alleine weiterleben - wenn der Partner stirbt", dann ist das sehr bewusst auf die männliche Form reduziert. Denn das neue Buch von Eva Terhorst, mit der ich hier auf diesem Blog auch ein paar Dialoge zum Thema Trauer und Verlust gestaltet habe, richtet sich explizit an Frauen. Eva ist inzwischen in der Welt der Trauerbuchautoren fest etabliert und bringt mittlerweile ihr fünftes Buch auf den Markt. Bekannt geworden war sie anfangs mit "Das erste Trauerjahr". Veröffentlicht im Herder Verlag, Taschenbuch, 158 Seiten, 18 Euro.

Wie ich auf das Buch aufmerksam geworden bin: Der Verlag hatte es mir auf Evas Bitte hin zugeschickt, wie er es auch schon mit ihren vorherigen Büchern getan hat.

Wie ich dieses Buch gelesen habe: Ich war neugierig darauf, wie es Eva wohl gelingen würde, sich wieder einer bestimmten und sehr zugespitzten Zielgruppe zuzuwenden, zumal einer, der sie selbst aufgrund ihrer eigenen Trauererfahrungen sehr nahesteht, was sowohl Vor- wie auch Nachteil sein kann.

Was mir an dem Buch gefällt: Tatsächlich ist der unschlagbare Vorteil dieses Buches, dass es sich ganz klar und sehr zugespitzt an eine bestimmte Zielgruppe richtet, also an Frauen, die ihren Partner verloren haben - und dass Eva diese Zielgruppe immer wieder ganz bewusst adressiert und anspricht. Das macht das Buch persönlich und noch besser lesbar. Außerdem geht es nicht alleine um Trauer und die damit verbundenen Gefühle, die Eva wieder einmal besonders einfühlsam aufzuzeigen versteht, sondern auch um ganz praktische Aspekte: Wie gehe ich damit um, wenn mit dem Tod des Partners meine finanzielle und existenzielle Sicherheit auf dem Spiel steht? Was muss ich dann alles tun (diese Frage wird sogar in Form einer Checkliste behandelt, sehr hilfreich). Wie kann ich die Kinder gut begleiten in einer solchen Situation, was brauchen sie - und vor allem, in welchem Alter brauchen Kinder genau was? Einen langen Abschnitt widmet Eva auch der Frage, wie sich eine trauernde Frau wohl auf Partys, Familienfeiern und bei anderen öffentlichen Anlässen fühlt - und sie ermutigt die Betroffenen dazu, sich nur das zuzumuten, was ihnen gut tut und einfach wegzubleiben, wo es ihnen nicht gut tun wird. Solcherlei verständnisvolle und empathische Tipps finden sich an vielen Stellen des Buches. Wie immer in ihren Büchern bietet Eva wieder viele Affirmationen und viele Traumreisen an (teilweise auch zum Anhören), von denen ich mir gut vorstellen kann, dass sie bei der weiblichen Leserschaft richtig gut ankommen - und nicht nur da, mit dem Impuls "Ich traue meinen Kindern ihr Schicksal zu" hat sie auch bei mir in einer gerade nicht ganz so leichten Zeit, wenn auch ohne Trauerkontext, voll ins Schwatze getroffen. 
Eva berichtet in diesem Buch zudem viel von ihrem eigenen Todesfall und den Erfahrungen, die sie gemacht hat, drängt sich damit aber nicht in den Vordergrund, stattdessen bilden die praktischen und pragmatischen Aspekte den Hauptbestandteil. Das ist eine insgesamt gelungene Mischung, die das Publikum sicher ansprechen wird

Wo ich beim Lesen noch Fragezeichen hatte: Eva richtet sich mit diesem Buch ganz ausschließlich an Frauen. Nicht nur der Klappentext sagt das so, der ganze Inhalt des Buches ist so gestrickt. Das ist einerseits gut so, andererseits hat es mir nochmal verdeutlicht, dass es nun im Grunde genommen noch die "männliche Perspektive" bräuchte. Gewissermaßen als Gegenpol dazu. 


2.) "Draußen gehen - Inspiration und Gelassenheit im Dialog mit der Natur" / Christian Sauer

Kurzbeschreibung des Buches: Nein, das hier ist kein Trauerbuch - und doch passt es perfekt in den Trauerkontext. Es ist, wie der Name schon sagt, ein Buch über das Gehen. Aber genau deswegen gibt es viele Verbindungen zur Trauer (und zur Trauerbegleitung), die an einer Stelle im Buch sogar explizit so benannt werden. Das Buch soll ein eher meditativer-sinnenfreudiger Genuss sein, was sich auch an Gestaltungs- und Papierqualität festmachen lässt (als ursprünglich gelernter Schriftsetzer habe ich an allen Büchern besondere Freude, in denen die für den Satz benutzten Schriften im Impressum angegeben werden - ein Zeichen für eine besondere Qualität). Zwar als Taschenbuch veröffentlicht, aber als großes und besonders gestaltetes, ist es alleine schon haptisch ein besonderes Buch. Veröffentlicht im Verlag Hermann Schmidt, 174 Seiten, 29,80 Euro. 

Wie ich auf das Buch aufmerksam geworden bin: Ich kenne den Autoren, Dr. Christian Sauer (der seinen frisch erworbenen Doktortitel hier bescheidenerweise weglässt), weil er mir zu jenen Zeiten, als ich noch als Redaktionsleiter gearbeitet hatte, gelegentlich als Coach zur Seite gestanden hat, was immer sehr hilfreich gewesen ist. Seither stehen wir in einem gelegentlichen und dann sehr herzlichen Austausch, worüber ich mich freue. 

Wie ich dieses Buch gelesen habe: Mit einer mehrfachen Neugier. Vor allem deswegen, weil ich in Zeiten persönlicher Krisen das Gehen tatsächlich als überraschend hilfreich erlebt habe.  

Was mir an dem Buch gefällt: Fangen wir mal mit der Trauer an. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass mehrere Trauergruppen diese beiden Elemente miteinander verbinden: Das Gehen in der Natur und das Sprechen über die Trauer. So wie es beispielsweise das Angebot "Wandern für Trauernde" von der Hospiz- und Palliativinitiative Spes Viva einmal im Monat in der Region Osnabrück anbietet (Transparenzhinweis: Ich bin bei Spes Viva selbst als Ehrenamtlicher aktiv, allerdings nicht in der Leitung dieser Wandergruppe). Auch das Buch benennt an einer Stelle sehr konkret diesen Zusammenhang, wie sehr einen die Natur wieder mit dem Archaischen, dem Echten und dem Endlichen im Leben verbinden kann. Passenderweise beginnt das Buch mit der Szene eines trüben, grauen Herbsttages. Christian Sauer hat sein Buch als Collage aufgebaut - in kurzen Absätzen beschreibt er eigene Wanderungen oder Spaziergänge durch Städte, die sich mit allgemeinen Gedanken und Thesen über das Gehen und seine Kraft abwechseln. Dabei werden viele spannende und wahre Aspekte gestreift - dass sich Landschaften beispielsweise niemals wirklich fotografieren lassen, beispielsweise, oder dass das Gehen eine Psycho- und Kulturtechnik mit therapeutischen Qualitäten sein kann. Besonders gut gefällt mir allerdings der Abschnitt, in dem Christian Sauer wie in einer Art Ratgeber eine Liste der perfekt geeigneten Wege gesammelt hat - die passenderweise mit "Einmal um den Block" beginnt. Das macht tatsächlich schrecklich Lust darauf, einfach loszugehen (weswegen auch dieser Blogartikel in mehreren Abschnitten entstanden ist, unterbrochen, na klar, von einigen wohltuenden Spaziergängen). Und, ja, dass das Gehen einem auch in persönlichen Krisenzeiten viel Energie und innere Ruhe zurückbringen kann, habe ich wie gesagt selbst schon einmal erlebt. Tatsächlich hat es eine Zeit gegeben in meinem Leben, in der ich fast jede dafür verfügbare Minute in den Wäldern rund um Osnabrück verbracht habe. Heute geht das schon rein familientechnisch nicht mehr, aber die Sehnsucht danach ist noch da. Denn genauso wie Christian Sauer es in seinem Buch beschreibt, kann das Gehen an sich etwas fast Magisch-Therapeutisches bekommen. 

Wo ich beim Lesen noch Fragezeichen hatte: Das Buch will ganz bewusst kein Ratgeber sein, sondern mehr eine philosophisch-soziologische Betrachtung. Dementsprechend ist es ein in seinem Tonfall eher meditativ gehaltener Text. Das liest sich sehr angenehm, es braucht allerdings ein bisschen Zeit, um in den Text reinzukommen. Wie bei einer Meditation, tatsächlich: Bis sich die Gedanken und die Außenwelt etwas mehr zurückgezogen haben, bleibt es im Inneren erstmal laut und impulsiv. Aber später kommt der Text mit seiner ihm eigenen Kraft noch besser zur Geltung. 



3.) "Das Wichtigste zuerst - Meldungen schreiben in Zeiten von Twitter, Fake News und Roboterjournalismus" / Stephan Köhnlein

Kurzbeschreibung des Buches: Das Buch richtet sich an alle, die im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Journalismus unterwegs sind (und damit auch an alle, die im Kontext von Hospiz- und Palliativangeboten die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantworten). Das Buch macht mit vielen Praxisbeispielen und in einer wohltuenden Klarheit deutlich, was wirklich wichtig ist beim Schreiben von Texten - und wie das gelingen kann. Veröffentlicht als "Book On Demand" im BOD-Verlag, Norderstedt, 99 Seiten, 9,99 Euro. 

Wie ich auf das Buch aufmerksam geworden bin: Ich kenne den Autoren, Stephan Köhnlein, als Journalistenkollegen mit einer spannenden Laufbahn. Wir stehen in gelegentlichem Kontakt und ich freue mich, dass ich verfolgen darf, was das Leben so mit Stephan macht - er steht übrigens ebenfalls für Workshops und Seminare zur Verfügung.

Wie ich dieses Buch gelesen habe: Immer wieder ergibt sich für mich eine gute Mischung aus meinen beiden Professionen - Journalismus und Trauerbegleitung. So habe ich beispielsweise im Mai 2019 in Berlin beim Deutschen Hospiz- und Palliativverband (DHPV) einen Vortrag und einen Workshop geben dürfen. Immer mal wieder werde ich auch mal angerfragt, ob ich nicht für Firmen und für Unternehmen einen Workshop in Storytelling geben könnte. Aber, ganz ehrlich, mir ist es wichtig, dass zunächst einmal das grundlegende Verständnis geschaffen wird davon, was im Journalismus wirklich wichtig ist: Was sind eigentlich Nachrichtenwerte, wie schreibt man eine Nachricht, wie erkenne ich eigentlich, ob ich etwas Berichtenswertes vorliegen habe oder nicht... Und weil Stefan genau dort anfängt, war ich besonders froh über dieses Buch und besonders neugierig darauf. Auch wenn es überhaupt nicht im Trauerkontext steht: für die Presse- und Öffentlichkeitsbeauftragten von Hospiz- und Palliativinitiativen ist es eine gute Lektüre.

Was mir an dem Buch gefällt: Dass es Stephan Köhnlein gelingt sowohl alle aktuellen Trends einzufangen - Roboterjournalismus, Twitter-Nachrichten, Fake News und Co. - und trotzdem immer ganz bodenständig zu den allerwichtigsten Fragen zurückzufinden, die sich jeder stellen sollte, der Pressearbeit, Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus macht: Was ist mein Nachrichtenwert? Habe ich eine Geschichte oder habe ich keine? Wie finde ich meine Nachricht? Womit fange ich beim Schreiben an? Wie lange sollte ein guter Bericht sein? Was ist ein erster guter Satz? Wie zitiere ich korrekt und ansprechend, wann ist indirekte Rede besser? Ganz nebenbei streift Stephan Köhnlein noch ein paar der Alltagsfragen, die ich mir auch immer mal wieder stelle: Heißt es eigentlich gäbe oder gebe? Dass Stephan Köhnlein nebenbei immer mal wieder Einblicke gibt in seine bewegte Zeit als Agenturjournalist bei der damaligen deutschen Associated Press (AP), die es leider nicht mehr gibt, und darin, wie sich das Journalismusgeschäft aktuell verändert hat, macht das Buch zusätzlich lesenswert und sorgt für einen gewissen Unterhaltungswert. Gleichzeitig gibt Stephan wichtige Hinweise darauf, wie ein Artikel für Online-Suchmaschinen optimiert wird und was dabei zu beachten ist. Ein ziemlich umfassender und wertvoller Einblick in das grundlegende Handwerk einer Branche, die ihr grundlegendes Handwerk derzeit allzu oft aus den Augen verliert. 

Wo ich beim Lesen noch Fragezeichen hatte: Stephan Köhnlein ist ein hervorragender  Agenturjournalist mit einem wertvollen und reichen Erfahrungssschatz, von dem man viel lernen kann. Hier geht es um die Fakten, um das Voranstellen der Nachricht, um den ganzen Brot-und-Butter-Bereich des journalistischen Tuns, der niemals unterschätzt sein darf. Und so wohltuend - und immer wichtiger - es auch ist, immer wieder auf die grundlegende Basis der journalistischen Arbeit zu blicken, ist der Alltag eines Tageszeitungsredakteurs heute noch von so vielen anderen Bedingungen geprägt. Dementsprechend müsste das Kapitel über Suchmaschinen und Online-Überschriften, über das Auffindbarmachen seiner Texte im Internet und über die Bedingungen für Onlinejournalismus eigentlich ganz weit nach vorne und es müsste vielleicht noch etwas länger sein. 

Eine Randbemerkung noch: Was den Roboterjournalismus angeht, sollte übrigens niemand glauben, dass es sich dabei um eine sehr weit entfernte Zukunftsvision handelte - die ersten Roboterkollegen im Journalismus sind tatsächlich bereits aktiv. Man lese einmal die Wetterankündigungen für Städte und Gemeinden auf manchen Zeitungswebsites und googele dann einmal den Namen des "Autoren". Gelegentlich wird sich ein Anbieter von künstlicher Intelligenz darunter finden, beispielsweise aus Dortmund. Willkommen in der neuen Welt... PS: Ich bin übrigens echt. Ganz ehrlich. Fleisch und Blut und so. ;-)


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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

Alle aktuellen Termine, Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare etc. mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Warum die Mutter von Rolf Zuckowski auf dem Sterbebett einen Song ihres Sohnes zitierte - der Kindermusiker über seine Trauererfahrungen

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Und im Kultur-Blog des Autors: Warum die "Live-im-Kino"-Ereignisse ein großer Wachstumsmarkt, was die Branche noch Spannendes plant und warum sie medial gesehen zwischen allen Stühlen sitzt - ein Interview rund um Rock'n'Roll & Oper im Kino

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Samstag, 12. Oktober 2019

Trauer und Trauma in der Lokalredaktion eines kostenlosen Anzeigenblattes - was uns die Netflix-Serie "After Life" mit Ricky Gervais alles über Trauernde und ihre Gefühle vermitteln kann - wie eine TV-Serie vieles richtig macht (und dabei sogar trotzdem lustig ist)

Osnabrück - Von einer fiktiven Fernsehserie etwas über das wirkliche Leben lernen zu wollen, ist sicher ein ambitioniertes Vorhaben. Denn natürlich gehen die meisten TV-Serien am echten Leben gekonnt vorbei, was sie ja auch müssen, um für das Publikum interessant genug und ansprechend zu bleiben. Auch die aktuell bei Netflix gezeigte Serie "After Life" ist dramaturgisch zugespitzt und ein bisschen überzogen. Aber eben nur ein bisschen. Dafür, dass es eine TV-Serie des Brachialkomikers Ricky Gervais ist (der mit "The Office" die Vorlage für das deutsche "Stromberg" lieferte), ist sie sogar vergleichsweise zurückhaltend. Und tatsächlich lassen sich in dieser Serie über einen trauernden Redakteur eines Anzeigenblatts viele Dinge lernen, die dem wirklichen Leben recht nahekommen.

Eines muss ich gestehen: Ich mag Ricky Gervais sonst nicht so wirklich. Er ist mir in vielerlei Hinsicht zu "zu" - zu brachial, zu derb, zu zotig, zu direkt, zu platt, zu offensiv, zu provokativ. Seine Soloshows und seine Moderationen sind oft wie ein Schlag ins Gesicht, sein komödiantisch überstrapaziertes Dauerthema sind superlange Männerhoden und sein "The Office" mochte ich wegen genau dieser, hahaha, Wortspiel, "Stoßrichtung" auch nicht wirklich. Erst mit dieser Netflix-Serie habe ich mich mit Ricky Gervais wieder ein wenig aussöhnen und anfreunden können - denn der britische Komiker, der hier nicht nur das Drehbuch, sondern auch die Regie verantwortet, zeigt sich hier von einer überraschend menschlichen Seite. Darum geht es: Der Anzeigenblattredakteur Tony Johnson leidet massiv unter dem Krebstod seiner Freundin. Für ihn dreht sich alles nur noch um sie und um seine Trauer - und was das angeht, nimmt er auch selten ein Blatt vor den Mund (eine typische Ricky-Gervais-Figur, eben): Dass er sich am liebsten selbst das Leben nehmen würde, erzählt Tony allen, die ihm irgendwie begegnen. Einmal ist er sogar kurz davor. 


Skurille Randfiguren sorgen für Komik und Menschlichkeit


Nur der gemeinsame Hund als überlebender Zeitzeuge und die Verantwortung für ihn hält Tony von seinem Vorhaben ab. Klingt alles ziemlich dramatisch, ist aber stellenweise unfassbar witzig. Erstens, weil Ricky Gervais seinen Tony gekonnt in ein Panoptikum der skurrilsten, aber irgendwie dennoch ganz nah am echten Leben orientierten Figuren eingebettet hat. Alleine der "Fotograf" des Anzeigenblatts - der statt mit einer fetten Spiegelreflexkamera nur mit einer kleinen Digitalknippse arbeitet - ist ein zum Schmunzeln und Mitfühlen anregender Sidekick. Und zweitens, weil "After Life" in Wahrheit eine Comedyserie ist. Wenn auch eine mit Tiefgang. Der Humor ist manchmal recht schwarz und der Ton ist insgesamt lakonisch, alles sehr britisch halt, lässt aber trotz allem eine ordentliche Portion Menschlichkeit zu. Und genau das macht die Serie so besonders: Dass sie bei aller Übertreibung so nah dran ist an der Trauer, so wie Menschen sie wirklich oft erleben. 

Hier sind fünf Beobachtungen, die ich in meiner Arbeit als Trauerbegleiter immer wieder gemacht zu haben glaube und die ich auch in der Serie so wiederfinden kann: 

Sie sind beide verwaist: Ricky Gervais in der Rolle des Anzeigenblattredakteurs Tony Johnson und sein Hund. (Alle Fotos: Netflix Media Center/Pressreleases)

1.) Trauernde reden tatsächlich mit ihren Toten. Das sind mit die berührendsten Szenen dieser Serie: Bei seinen täglichen Besuchen am Grab stößt Tony auf die freundliche ältere Lady Ann, die auf einer Parkbank sitzend in allerlei Zwiegespräche mit ihrem gestorbenen Mann vertieft ist. An diesen Gesprächen nimmt Tony nicht nur bald teil, Ann wird bald für ihn zu einer Art Mentorin und einer hilfreichen Untersützung - weil sie als einzige verstehen kann, wie Tony sich wohl fühlt und ihm spiegeln kann, was sein Verhalten wohl bewirkt. Auf dem Weg zurück ins eigene Leben baut Ann ihm vielerlei Trittsteine. Damit ist sie wohl fast so etwas wie eine Art kleine Trauerbegleiterin. 



2.) Trauernde kommen aus ihrem Leidenszustand kaum heraus - also jedenfalls scheint es den Außenstehen oft so. Und: Es dauert alles wesentlich, wesentlich länger als andere es einem Trauernden zugestehen mögen. "After Life" zeigt das sehr eindrucksvoll, wie es wirklich oft ist: Eigentlich hat keiner der Menschen, mit denen Tony sich täglich umgibt, noch wirklich Lust auf sein "ewiges Gejammere". Dass es sich dabei um echtes, tiefes Leiden handeln könnte, ist in diesem Zustand des Genervtseins längst untergegangen. So erleben das viele Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise: Dass sie nicht nur ungetröstet, sondern auch unverstanden sein müssen. Ich sage immer gerne: Trauer ist das am meisten unterschätzte Gefühl, das es so gibt. Und das unverstandenste, das es oft gibt. Wer an diesem Punkt seiner Lebenswege noch nicht gestanden hat, der kann oft einfach nicht mitreden. 



3.) Trauernde wollen gerne den Toten "nachsterben" und reden gelegentlich von diesen Ideen. Dieser für andere sehr erschreckende Gedanke hat eine im Grunde zutiefst romantische Idee als Kern: Dass es vielleicht möglich wäre, sich dortin zu begeben, wo die Toten jetzt sind. Trotzdem ist es für andere Menschen - zu Recht - besonders schockierend, wenn ihnen gegenüber solcherlei Gedanken geäußert werden. Was bei den Betroffenen meistens dazu führt, dass sie diese Gedanken eher für sich behalten. Die TV-Serie geht hier an mehreren Stellen überraschend, vielleicht auch erschreckend, weit und das auszuhalten ist nicht immer leicht und manchmal kontrovers. In einer Szene beispielsweise schleudert Tony einem Komiker auf der Bühne sein Innenleben entgegen und kümmert sich wenig darum, dass der ganze Saal Zeuge davon wird. Aber tatsächlich können solcherlei Gedanken manchmal zu einem Trauerprozess dazugehören. Wichtiger Hinweis, liebe Leser: Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, können Sie mit anderen Menschen darüber sprechen. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar unter Telefon 0800-1110111 und 0800-1110222.

4.) Trauernde sind egozentiert und haben scheinbar keine Antennen für andere Menschen. Das geht natürlich nicht alleine den Trauernden so, vielleicht ist diese Rolle ja genau deswegen so perfekt geeignet für Ricky Gervais? Aber, Ironie beiseite, es ist ja oft so: Sich auf andere Menschen einzulassen, kostet Energie. Es braucht eine gute Selbstregulation, die Fähigkeit, sich selbst in seinem als zerrissen erlebten Inneren irgendwie zusammenreißen zu können. Wer einen anderen Menschen verloren hat, ist dazu oft zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Das ist nicht schlimm. Es darf so sein, das ist okay. Es kommt vielleicht ein bisschen drauf an, wie lange es geht, aber auch hier gilt: Es geht wesentlich länger als andere Menschen sich das vielleicht vorstellen können und es ist immer ein ganz individueller Prozess - wie Trauer überhaupt.



5.) Eine Psychotherapie ist nicht immer hilfreich bei Trauer. Okay, zugegeben, der hier in der Serie gezeigte Psychologe wird sehr bewusst als ein ziemlicher Depp dargestellt. Einer, der mitten im Therapiegespräch zu twittern anfängt, weil einer seiner Studenten dort etwas Blödes über ihn schreibt. Einer, der mitten im Gespräch lauthals zu gähnen anfängt. Irgendwie unsympathisch. Eine Knallcharge, halt, muss es ja auch mal geben. Es ist eben eine TV-Serie des britischen Brachialkomikers Ricky Gervais, und da muss es wohl immer einen geben, den Gervais am Ende ordentlich beschimpfen und mit ungehörigen Wörtern überziehen kann. Geschenkt. Tatsache ist aber, dass eine Psychotherapie bei Trauer nicht immer eine sinnvolle Intervention ist bzw., anders formuliert, dass es sehr stark darauf ankommt, wie der jeweilige Therapeut mit dem Thema umzugehen versteht. Warum? Weil viele Psychologen noch die alte Freudsche Lehre der "Trauerarbeit" verinnerlicht haben, deren Basis oft lautet, dass man die Toten "loslassen" müsse. Dieser Ansatz geht aber im Grunde in die falsche Richtung und trifft nicht die Lebenswelt von Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise. 


Menschen wollen mit aller Macht in die Zeitung kommen


Und, übrigens, auch was die Redaktion eines Anzeigenblatts angeht, ist die Serie relativ nah dran an der Realität, wenn auch hübsch übertrieben. Wie hier nach den menschlichen Geschichten außerhalb der aktuellen politischen und sonstigen Nachrichtenlage gesucht wird, wie hier die Menschen mit aller Macht versuchen, Bestandteil der Berichterstattung zu werden - ja, so etwas habe ich zu meinen eigenen Anzeigenblattzeiten auch schon erlebt. Passt. 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

Alle aktuellen Termine, Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare etc. mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 


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