Dienstag, 29. Mai 2018

Was machen wir nur mit all den Sachen, die die Verstorbenen hinterlassen haben - und warum das Wegwerfen nicht immer die erste Wahl sein muss (Vierter Teil des Dialogs "Zwei Trauerbegleiter unterhalten sich")

Osnabrück/Berlin – Vor dieser Aufgabe stehen viele, die einen Menschen verloren haben. Da sind immer noch all die Gegenstände, Kleidungsstücke oder, falls ein Kind gestorben sein sollte, Spielzeuge, alles, was der Mensch in der Zeit seines Lebens so benutzt und besessen hat. Und jetzt? Viele Freunde, Angehörige oder Bekannte raten rasch zum Wegwerfen oder dazu, sich möglichst schnell dieser Aufgabe zu stellen. Aber ist das wirklich so wichtig? Im vierten Teil unserer Serie "Zwei Trauerbegleiter unterhalten sich", die parallel hier auf diesem Blog und auf dem Blog der Buchautorin und Trauerbegleiterin Eva Terhorst aus Berlin (siehe hier) erscheint, geht es um genau dieses Thema und um unsere Erfahrungen, die wir damit gemacht haben. Ich darf den Anfang machen. Los geht's:  

Liebe Eva, vor kurzem hatte ich wieder mal das Thema: Was machen wir bloß mit all den Dingen, die ein gestorbener Mensch hinterlassen hat? Also mit so ganz normalen Alltagsgegenständen wie zum Beispiel Kleidung. Ich habe die Erfahrung gemacht: Entweder gibt es Trauernde, die gleich ganz beherzt alles auf einmal wegschmeißen – oder es gibt Trauernde, die es nicht übers Herz bringen, auch nur die kleinste Kleinigkeit weggeben zu können. Da scheint es nur Extreme zu geben. Wie so oft in solchen Fällen. Wie erlebst Du das in Deiner Arbeit, Eva? Was sagst Du den Menschen dazu? Liebe Grüße, Thomas

Eva Terhorst aus Berlin hat mehrere Bücher zum Thema Trauer geschrieben und arbeitet unter anderem als Trauerbegleiterin. Sie betreibt auch einen Blog zum Thema Trauer.

Guten Morgen lieber Thomas, ja diese Extreme mit dem Umgang des Nachlasses eines Verstorbenen habe ich auch kennengelernt, aber auch alle Nuancen dazwischen. Es gibt natürlich die Situation, dass ein Haushalt aufgelöst werden muss, wenn die Wohnung zur Miete war oder auch das Haus in dem die Person gelebt hat, verkauft werden soll. Dann ist nicht viel Zeit und die äußeren Umstände zwingen zu einer schnellen Reaktion, was den Angehörigen oft ungeheuer schwer fällt, denn sie hätten gerne die Zeit dafür, sich in Ruhe zu überlegen, was wohin kommen soll und wer was bekommt. Andererseits gibt es auch diesen Drang die Notwendigkeiten zu erledigen. Oftmals handelt es sich um zusätzlich erschwerte Konfliktsituationen, wenn dann noch Streitigkeiten um das Erbe auftauchen. Aber im Normalfall und wenn der Verstorbene in einem eigenen Haushalt gelebt hat, der weiterhin bestehen bleibt, wird sich oft Zeit gelassen. Das klingt jetzt ganz locker, ist es aber nicht, denn beim Zeitlassen fragen sich die Angehörigen immer wieder, ob jetzt vielleicht der richtige  Zeitpunkt gekommen ist, das eine oder andere zu verschenken, wegzugeben oder zu entsorgen. Dieser Prozess ist häufig von vielen Tränen und einem sehr schweren Herzen begleitet. Wenn diese Schwierigkeit in meiner Praxis zur Sprache kommt, empfehle ich, sich so wenig wie möglich unter Druck zu setzen sondern einfach Geduld zu haben und den Moment abzuwarten an dem man spürt, dass die Ablösung von bestimmten Gegenständen sich nun ganz natürlich anfühlt. Selbstverständlich gibt es auch die Möglichkeit des kreativen Umgangs damit. Aber jetzt warte ich erst mal deine Antwort ab und schreibe dir das nächste Mal mehr darüber, falls dich das interessiert. In gespannter Erwartung auf deine Meinung dazu: liebe Grüße, Eva.

Liebe Eva, ja, das hast Du sehr treffend und wertvoll zusammengefasst. Bei den Trauernden, mit denen ich gearbeitet und gesprochen habe, durfte ich auch etwas über dieses Thema lernen. Am härtesten, so scheint mir, sind die Themen Kleidung und Kosmetik. Oder Parfüms. Halt alles, was bei den gestorbenen Menschen so etwas wie die „zweite Haut“ gebildet hat. Was mit der echten Haut in Kontakt war. Das wegwerfen zu müssen, kommt manchen Trauernden so vor, als würden sie den geliebten gestorbenen Menschen ein zweites Mal wegwerfen müssen. Von außen betrachtet mag das irrational klingen – aber in der Trauer ist eben nichts mehr irrational, sage ich immer gerne. Da spricht man halt mit seinen Toten. Und bewahrt ihre Sachen auf. Wenn mich die Leute sowas fragen wie: Finden Sie das wirklich in Ordnung, wenn meine Mutter da noch über Jahre die Klamotten von meinem toten Vater im Schrank hat – das gammelt doch, da kommen doch die Motten…? Dann sage ich gerne, genauso wie Du: Solange diese Dinge da im Schrank liegen, erfüllen sie auch eine Funktion – davon können Sie beherzt ausgehen. Und wenn sich diese Funktion erschöpft hat, können auch die Dinge weg. Meistens geschieht das ganz automatisch. Auf jeden Fall sollte es ohne Druck von außen geschehen. Auch das habe ich oft erlebt – auch selber: Es sind meistens die Angehörigen, nicht die Trauernden selbst, die diese Gegenstände gerne weghaben möchten. Und jetzt bin ich gespannt auf das, was Du sowieso noch sagen wolltest, liebe Eva. Herzliche Grüße, Thomas

Thomas Achenbach ist der Autor dieses Blogs, er ist in der Region und Stadt Osnabrück als Trauerbegleiter aktiv.   (C.-Achenbach-Foto) 

Lieber Thomas, ich finde deinen Vergleich mit der zweiten Haut sehr gelungen. Gerade so ein Bild, das du damit zauberst, hilft den Betroffenen sich selbst besser zu verstehen, wenn sie sich so schwer tun, die Dinge, die eben doch mehr als einfach nur Dinge sind, aufzugeben. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich zukünftig dein Bild mit der zweiten Haut bei meinen Trauerbegleitungen auch verwenden. Was ich immer gerne und eigentlich vor allem unbedingt bei diesem Thema anregen möchte, ist der kreative Umgang mit dem einen oder anderen Erinnerungsstück auch wenn es vielleicht nur ein Gebrauchsgegenstand war. Gerade wenn es „nur“ ein Gebrauchsgegenstand des Verstorbenen war, ist es möglicherweise deutlich leichter diesen zu verändern. In meiner Begleitung habe ich gemerkt, dass die Menschen sich oft sehr schwer tun, die Dinge zu verändern. Sie lassen sie ehr liegen oder räumen oder schmeißen sie weg. Veränderung scheint für uns alle immer wieder eine Herausforderung zu sein. Warum denn verändern fragst du? Die Antwort hat mehrere Komponenten: Der Tod des geliebten Menschen hat Vieles verändert. Wenn wir Gebrauchs- und Erinnerungsstücke umfunktionieren indem wir ihnen eine andere, eine neue Form geben, dann machen wir diese Metamorphose auf diese Weise sichtbar bzw. deutlich. Das ist vor allem für uns selbst wichtig, denn zu begreifen, dass derjenige nie mehr zurück kommen wird und eben nicht einfach nur auf einer längeren Dienstreise ist, ist unglaublich schwer. Was mich zum zweiten hilfreichen Aspekt des kreativen Umgangs mit dem einen oder anderen Teil des Nachlasses bringt. Wir müssen irgendwie begreifen, dass der geliebte Mensch nicht mehr kommt. Wenn wir beispielsweise aus seinen Lieblings-T-Shirts ein Kopfkissen oder eine Decke machen, dann tun wir das mit unseren Händen, die uns beim begreifen helfen. Zusätzlich können wir so ein Kissen oder eine Decke benutzen und in diesem Fall können wir sie nachts, wenn die Sehnsucht besonders groß ist, ganz nah bei uns haben. Hier kommt dein Bild mit der zweiten Haut wieder ins Spiel: Viele tragen unter ihrer Kleidung beispielsweise ein Unterhemd des Verstorbenen. Sie tun dies heimlich, weil sie nicht für verrückt gehalten werden wollen und manche haben auch manchmal Angst verrückt zu werden. Was ja auch stimmt, denn jetzt wo der geliebte Mensch nicht mehr kommt und nichts mehr ist wie zuvor, ist alles verrückt. Hier macht sich auch der Kontrollverlust bemerkbar, denn wir konnten den Tod des Verstorbenen nicht verhindern und so wird uns klar, was wir die meiste Zeit verdrängen: wir haben bei den großen Themen des Lebens wie Leben, Liebe, Gesundheit und Tod wenig Einfluss und Kontrolle. Wir können zwar ein gesundes und achtsames Leben führen, doch ist diese Art von Schutz und Kontrolle auch trügerisch. Wenn wir also wenigstens die Erinnerungsstücke und deren Form und Verbleib selbst in die Hände nehmen, gaukeln wir uns vor, dass wir wenigstens etwas selbst bestimmen können. Das ist gerade in der Phase, in der wir zutiefst erschüttert sind eine recht einfache aber hilfreiche Maßnahme, um wieder etwas schneller das Gefühl zu bekommen, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Im Sinne der ständigen Veränderung und Wandlung grüße ich dich heute wieder ein mal ganz besonders herzlich. Eva

Liebe Eva, ja, das ist sehr wahr. Ich glaube, über diesen Prozess der Wandlung werden wir immer mal wieder – auch bei anderen Themen – sprechen müssen. Das mit dem Unterhemd druntertragen finde ich ja irre, das hat mir noch keiner gesagt. Finde ich aber total nachvollziehbar – und warum denn auch nicht? Beim der Frage „Bin ich jetzt verrückt?“ gibt es meiner Meinung nach nur eine Antwort: Natürlich sind Sie das. Aber mit einem Bindestrich dazwischen. Sie sind ver-rückt, weil ihre ganze Welt ver-rückt ist, nichts ist mehr an dem Platz, wo es vorher war, alles ist durcheinander und muss sich neu ordnen. Klar darf man da ver-rückt sein. Oder, in einem Bild aus der Systemik ausgedrückt: Unsere Welt ist oft wie so ein Mobile. Solange die Dinge irgendwie an ihrem Platz sind, bewegt sich alles in den geordneten Bahnen. Aber wenn eines der hängenden Teile abgeschnitten wird, kippt nicht nur eine der Achsen, sondern es gerät das ganze Gebilde in Unordnung, bewegt sich nicht mehr so hübsch synchron und geordnet, sondern gestürzt und chaotisch. So ist das auch mit dem System unseres Lebens, wenn wir einen Menschen verloren haben oder uns etwas anderes zugestoßen ist. Und was die beständige Wandlung im Leben angeht, das gilt ja auch in weniger drastischen Fällen als beim Tod eines Menschen. Die Engländer bringen das so schön auf den Punkt. „The only thing constant is change“. Da ist viel Wahres dran. Wenn man das erstmal mit ganzem Herzen und ganzer Seele verinnerlicht hat, kann das hilfreich sein. Übrigens darfst Du gerne das Bild mit der zweiten Haut benutzen. Da habe ich kein Copyright drauf. Wäre ja verrückt, oder? Augenzwinkernde Grüße, Thomas

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„Zwei Trauerbegleiter unterhalten sich“: Hier tauschen sich die beiden Trauerbegleiter Thomas und Eva über die Themen ihrer Arbeit aus. Das soll zu einem besseren Verständnis beitragen, warum Trauerbegleitung wichtig ist und euch helfen, besser zu verstehen, was ihr gerade durch macht, wenn ihr einen geliebten Menschen verloren habt. Auch für Angehörige von Trauernden kann dieser Dialog hilfreich sein. Denn es ist manchmal nicht so leicht nachzuvollziehen, was in jemandem vor sich geht, wenn er trauert. So kommt es schnell zu Missverständnissen und gut gemeinten Ratschlägen, die oft das Gegenteil vom Beabsichtigten auslösen. Sehr, sehr gerne können Trauernde, Angehörige, Trauerbegleiter und alle, die mit dem Thema zu tun haben, mit ihren Kommentaren dazu beitragen, dass dieser Dialog lebendig und hilfreich sein kann! Mehr Infos über Eva und ihre Arbeit gibt es hier....


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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

Alle aktuellen Termine, Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare etc. mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Den Blog zum Anhören als Podcast - bitte hier klicken für die aktuelle Episode aus dem Trauer-ist-Leben-Podcast...

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wenn Töne und Texte die Seele ins Schwingen bringen, Teil #01: Serie über Trauer und Musik - die besten Songs und Alben über Trauer und Tod 

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Mittwoch, 23. Mai 2018

Eltern von Sternenkindern haben es besonders schwer, weil keiner ihre Trauer anerkennen mag - ehrenamtlicher Service fertigt kostenlos Bilder von Sternenkindern an, weil das in der Trauer für die Eltern enorm hilfreich sein kann - warum Bilder soviel ausmachen

Für Eltern oft kaum zu ertragen: Wenn das Kinderbett daheim leer bleiben muss.  (Thomas-Achenbach-Foto)

Osnabrück/Bremen - Fotos von Sternenkindern anfertigen? Als Ehrenamt? Das ist tatsächlich ein Service, den eine neue Initiative anbietet. Und für die Eltern, die mit dem Tod ihres Kindes nicht nur in eine schwere Trauer- und Verlustkrise stürzen können, sondern auch noch mit einer gesellschaftlich nicht anerkannten Trauer zu tun haben (Nach dem Motto: "Ihr könnt ja noch so viele Kinder haben..."), kann das eine sehr wertvolle Hilfe sein. Auf der Messe Leben und Tod im Mai 2018 hat sich die Initiative www.dein-sternenkind.eu kürzlich mit einem Stand und einem Workshop vorgestellt. Das hat mich daran erinnert, dass ich auch vor einiger Zeit bereits über diese Initiative berichtet hatte - und kürzlich versprochen hatte, das hier noch einmal nachzuholen, weil ich diesen Text noch gar nicht teilen konnte.

Mein Artikel über diesen Service fand sich bereits in der ON-Ausgabe (Osnabrücker Nachrichten) vom 10. 12. 2017, das war der Sonntag, an dem im vergangenen Jahr das World Wide Candle Lighting zum Gedenken an alle gestorbenen Kinder stattgefunden hatte. Gerne würde ich hier einen Link zu der Online-Version des Artikels hier einfügen, aber das lässt sich wegen einer technischen Umstellung im ON-E-Paper/Onlineauftritt derzeit leider nicht anbieten. Wie gut also, dass sich zumindest an dieser Stelle eine Möglichkeit bietet, den Text auch online anzubieten. Hier habe ich also den Text des Artikels in diesen Blog einkopiert....

In der Trauer können Fotos helfen


Fotografenservice fertigt kostenlos Bilder von Sternenkindern an – auch in der Region Osnabrück aktiv


Osnabrück (ON) – Gerade als die Freunde zum Grillen eingetroffen waren, kam die Nachricht via Smartphone – oder, wie Sabine Wiek es beschreibt, der „Call“: Die Geburt eines Sternenkindes im Marienhospital stand kurz bevor, die Eltern wünschten sich den kostenlosen Fotografenservice von „Dein Sternenkind“, für den Wiek arbeitet. Also mussten die Freunde erstmal alleine grillen – sie hatten jedoch Verständnis dafür. Was Sabine Wiek hier anbietet, ist reines Ehrenamt. Und extrem wichtig für die Eltern in einer der schwierigsten Situationen, die das Leben bieten kann.

Immer, wenn am zweiten Sonntag im Dezember um 19 Uhr das „World Wide Candlelighting“ stattfindet, dann wird wieder aller verstorbenen Kinder gedacht. Jeder, der mag oder der betroffen ist, kann eine brennende Kerze ins Fenster stellen. So zieht sich ein Lichterband um die Welt.

So hat der ON-Artikel am 10. 12. 2017 ausgesehen. 

Ein guter Anlass auch dafür, den Dienst vorzustellen, den die Initiative „Dein Sternenkind.eu“ anbietet – nämlich das Fotografieren der Kinder nach der Geburt. Der gestorbenen Kinder, bedeutet das.

Warum das so wichtig sein kann, ist für alle Nicht-Betroffenen oft nur schwer zu begreifen. Und doch kann es für Eltern im laufenden Trauerprozess hilfreich sein, um diese Verlässlichkeit zu wissen: Ja, das Kind hat es wirklich gegeben, ja, wir haben es auf dem Arm gehabt, ja, wir sind Eltern. 

Darin schwingt die Anerkennung mit, dass eben ein „vollwertiger Mensch“ zu früh wieder gehen musste und nicht ein Etwas, das diese Definition nicht verdient hätte. Die Trauer um ein Sternenkind ist oft etwas, das Eltern von ihrem Umfeld eher aberkannt wird – „Du kannst ja noch so viele Kinder haben“, heißt es dann.

Zwar hat sich unter Eltern durchgesetzt, alle Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt gestorben sind, als Sternenkinder zu bezeichnen. Ganz richtig ist das jedoch nicht. Wie die dpa (Deutsche Presse-Agentur) im Februar 2016 schrieb, gibt es Schätzungen zufolge bundesweit jährlich zwischen 100 000 und 200 000 Fehlgeburten. Aber diese Zahlen sagen wenig aus. Denn: Anders als bei Totgeburten – laut medizinischer Definition Föten über 500 Gramm – besteht bei den Sternenkindern – die unter 500g wiegen oder vor der 24. Woche gestorben sind – keine Meldepflicht. „Die Anzahl der Kinder, die mit weniger als 500 Gramm lebend zur Welt kommen und sterben, ist nicht bekannt“, so schrieb es die dpa weiter.

Tatsächlich gibt es eine große Dunkelziffer, weil sich Eltern von Sternenkindern auch selten in die Öffentlichkeit trauen. Was traurig ist, denn ihr Leid ist oft groß.
Für die 40-jährige Sabine Wiek ist die Teilnahme eine Ehrensache und ein Ehrenamt. „Einfach nur Geld spenden ist nix für mich“, sagt die lebensfrohe Frau im Gespräch mit den ON, „ich kann da besser etwas tun.“


Dürfen wir uns wirklich Eltern nennen, auch, wenn unser Kinderschlafsack leer bleiben wird? Vor dieser Frage stehen die Eltern von Sternenkindern oft. Wenn sie dann die Fotos von ihrem Kind anschauen, fällt ihnen die Entscheidung vielleicht leichter. Zu sagen: Wir sind Eltern. (Thomas-Achenbach-Foto).

Sie arbeitet für den Dienst, ohne dass sie übrigens jemals selbst von einem solchen Fall betroffen gewesen wäre, einfach nur, weil sie sich als einen so empathischen Menschen beschreibt. Als alleinerziehende Mutter (mit zwei Kindern lebt die eigentlich als Buchhalterin in einem Pflegedienst arbeitende Wiek im Stadtteil Eversburg. Von dort aus geht es auf ihre Einsätze in Sachen Sternenkind, die sie schon nach Gronau, Meppen, Rheine oder in die Kliniken des regionalen Niels-Stensen-Verbundes geführt hat. Nur bei einem in Hannover geplanten Einsatz musste sie einmal passen. Was aber kein Problem ist: Es gibt mehrere für die Aktion arbeitende Fotografen, auch in unserer Region, man stimmt sich ab, einer findet sich immer.

Die Einsatzgebiete sind recht groß gehalten, was mit der Programmierung der Calls zu tun hat. Diese Alarmrufe – die von ebenfalls ehrenamtlich arbeitenden Administratoren gesteuert werden– gehen an eine auf das Smartphone installierte App, über die die Einsätze geplant und koordiniert werden. Manchmal bleibt noch etwas Zeit, um den Einsatz gut organisieren zu können – die Kinderbetreuung, Arbeitgeber, Freunde oder Verwandte müssen ja ggf. informiert werden –, manchmal, so wie beim Grillen, muss es schnell gehen.

Auch wenn die Fotografen die Eltern in einer emotionalen Grenzsituation begleiten und ihnen dabei nahe sind, bleibt es meist bei einem Kontakt, erzählt Sabine Wiek – die ihren eigenen Worten zufolge übrigens die harten Erfahrungen gut wegstecken kann. Vielleicht sei es ihre ländliche Prägung, die ihr dabei behilflich ist, glaubt sie. Totgeborene Fohlen und gestorbene Tiere jedenfalls hatte Wiek schon früh gesehen. Gut für sie, denn eine zusätzliche Begleitung der Fotografen kann die Initiative nicht anbieten.

Seit dem Frühjahr 2017 ist Sabine Wiek bei dem Dienst gemeldet. Seither hat sie sechs Einsätze absolviert. Ihren Arbeitgeber musste sie bislang nicht versetzen, irgendwie hatte alles bislang gut gepasst.

Nicht immer haben die Eltern schon passende Kleidung für das Kind parat. Dann hat Sabine Wiek immer ein paar Sachen dabei, die von der ebenfalls ehrenamtlich arbeitenden Initiative Herzenssachen genäht wurden. Ein Set bekommt das Kind angezogen, ein zweites Set bekommen die Eltern als Erinnerung mit. Auch das kann bei der Trauer wichtige Dienste leisten: Etwas haptisches, etwas zum Anfassen, etwas, das beim Begreifen helfen kann. Beim Begreifen von einer Sache, die doch gar nicht zu begreifen ist...

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Der Autor dieser Zeilen 
bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung). Er hält auch Vorträge zum Thema Trauer und Umgang mit Trauernden. Mehr Infos gibt es hier

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Männertrauergruppe für verwaiste Väter in der Region Osnabrück: Offene Gruppe, Einstieg jederzeit möglich - alle Infos über die Gruppe gibt es hier

Ebenfalls auf diesem Blog: Wenn Töne und Texte die Seele ins Schwingen bringen, Teil #01: Serie über Trauer und Musik - die besten Songs und Alben über Trauer und Tod 

Was einem helfen kann - Fotoaktion: Kraftquellen Fotografie, Kreativität & Gestaltung: Wie das Fotografieren mir den Zen-Buddhismus näherbringt

Ebenfalls auf diesem Blog: Die merkwürdige Beständigkeit der Dinge - warum das Wegwerfen von Sachen für Menschen in einer Trauerkrise erstmal nicht möglich ist

Ebenfalls auf diesem Blog: Eine der schwierigsten Aufgaben in einem Trauerprozess - überhaupt begreifen zu können, was da geschehen ist - was das so schwer macht

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wer Öffentlichkeit will, muss sie selbst herstellen - Praxis-Tipps für gute Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für Hospiz-, Trauer & Palliativinitiativen

Und im Kultur-Blog des Autors: Wie man als Autor vom Schreiben leben kann - Tipps für Hobbyautoren von einem echten Profi (und ein Plädoyer fürs Selfpublishing)

Dienstag, 15. Mai 2018

Blühende Kastanienbäume als mein ganz persönliches Symbol für verborgene Kraftquellen - Wie mich das Verlassenwerden darin bestärkt hat, Krisen des Lebens meistern zu können - Meine Mai-Fotos für die Mitmachaktion "Hoffnungsvoll und Seelenschwer..." des Bundesverbands Trauerbegleitung

Für mich sind sie zu einem Symbol fürs Weiterleben und Weiterkommen geworden - blühende Kastanien, aufgenommen im Mai 2018 an der Kastanienalle der Ernst-Sievers-Straße in Osnabrück (Thomas-Achenbach-Foto).

Osnabrück - Jedes Jahr, wenn die Kastanien blühen, erinnert mich das daran, wie ich einmal in meinem Leben verlassen worden bin. Denn auch damals haben gerade die Kastanien geblüht. Es hat prächtig ausgesehen. Und noch während ich durchaus gelitten habe, innendrin, hat sich fast unmerklich schon etwas Neues gebildet, auch in mir, hat sich eine mich dennoch irgendwie tragende Kraft bemerkbar gemacht, die mich weitergeführt hat. Wenn ich heute an solche Phasen meines Lebens zurückdenke, ist es nicht mehr der Schmerz, den ich noch präsent habe. Sondern das, was daraus geworden ist. Die große Freiheit, die es plötzlich auch gab (auch ein seltener Luxus im Leben, durchaus nicht unangenehm). Die guten Lehren, die ich aus den Erfahrungen ziehen konnte. Ernest Hemingway hat einmal geschrieben: "Die Welt zerbricht jeden - und nachher sind viele an den Bruchstellen stärker". Genau das symbolisieren für mich die Kastanien. Sie sind zu meinem persönlichen Symbol geworden dafür, dass sich Krisen überleben lassen und dass wir sie überstehen können. Sie sind: "Hoffnungsvoll und Seelenschwer". Und damit sind sie als Motiv prädestiniert für meine inoffizielle Teilnahme an dieser offiziellen Aktion...

Ich weiß bis heute nicht, was genau mir eigentlich damals die Sinne so geschärft hat. Welcher Mechanismus da am Werk gewesen ist. Denn tatsächlich waren mir blühende Kastanien niemals zuvor besonders aufgefallen. Ich hatte keinen Sinn dafür gehabt, hatte es nicht wahrgenommen oder wenn, dann eher mit Achselzucken als etwas irgendwie auch immer wieder Passierendes. Ob es zum tiefergehenden Erwachsenwerden einfach dazugehört, einen neuen Sinn für die Natur und den Frühling vermittelt zu bekommen - ich war seinerzeit kurz vor dem 30. Geburtstag -, oder ob es die Krise selbst gewesen ist, die mich unbewusst mit einer neuen Wachheit und Sensibilität für all diese Schönheit um mich herum ausgestattet hatte, kann ich nicht durchdringen. Jedenfalls konnte ich mich auf einmal an diesem Anblick erfreuen - und das war ein schönes Gefühl. Seither geht es mir Jahr für Jahr aufs Neue so. Und es kamen noch weitere Entwicklungen dazu.



Denn aus heutiger Sicht muss ich sagen: Es war wirklich gut, dass ich damals verlassen worden bin. Es war der richtige Schritt, den ich selbst längst hätte gehen sollen - und es hat mich enorm weitergebracht im Leben. Nicht nur, aber auch, weil es mich erneut darin bestärkt hat, dass sich Krisen überstehen und aushalten lassen und dass das Leben danach besser werden kann - aber so etwas weiß man ja immer erst Jahrzehnte später. Kürzlichen haben sie also wieder geblüht, die Kastanien - und mit der ihnen von mir verliehenen Symbolkraft erinnern sie mich wieder an all das. Wie vieles im Leben ist auch das irgendwie "Hoffnungsvoll und Seelenschwer". So wie diese Aktion hier. Denn der Bundesverband Trauerbegleitung (BVT) - in dem ich ebenfalls Mitglied bin - feiert seinen zehnten Geburtstag in Form einer kreativen Mitmachaktion, zu der noch bis zum Ende des Jahres alle, die Lust haben, zur Teilnahme aufgerufen sind. Auch ohne jeden Bezug zum Thema. Wobei es interessant sein kann, sich den BVT einmal näher anzugucken.



Gegründet mit dem Ziel, der Ausbildung zum Trauerbegleiter in Deutschland einen einheitlichen Lehrplan und ein einheitliches Zertifikat verschaffen zu können, versteht sich der Verband inzwischen als Sprachrohr und Interessenvertretung für alle Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise. Sie sind es auch, die sich zur Teilnahme an der Aktion eingeladen fühlen sollen (alle Infos gibt es unter diesem Link). Wer sich ganz kreativ beteiligen möchte, kann sogar versuchen, ganze 365 Beiträge beizusteuern. Also für jeden Tag eines Kalenderjahres einen. Der Kreativität und der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt, allein das Oberthema der Aktion gilt es zu beachten:



Nämlich die Fragestellung: Was sind Kraftquellen, Stolpersteine, was trägt mich in meiner Achtsamkeit, was ist hilfreich für meine Selbstfürsorge? Was bringt Wut in den Bauch, was streichelt meine Seele? Was lässt mich stolpern und wobei schöpfe ich Kraft? Es geht darum, Gefühle und Ressourcen sichtbar zu machen. In Wort, Bild oder anderen kreativen Ausdrucksformen. Die Idee ist es, aus allen Einsendungen eine bundesweite Wanderausstellung zu schaffen. Gleichermaßen soll die Aktion dazu dienen, wieder fokussierter und konzentrierter durchs Leben gehen zu können. Denn dass sich auf den Smartphones die schnell gemachten Fotos häufen, diese aber kaum mehr wahrgenommen werden, ist ein Phänomen unserer Zeit.



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Alle Infos zur Aktion "Hoffnungsvoll und Seelenschwer" gibt es auf der BVT-Website....

Erster Beitrag zur Fotoaktion (Januar): Warum auch meine alten ausgelatschten Chucks eine Kraftquelle für mich sind

Zweiter Beitrag zur Fotoaktion (Februar): Kraftquelle Waldeswillen - wie sich ein alter und gestürzter Baum einfach nicht unterkriegen lässt und warum das so gut tut

Dritter Beitrag zur Fotoaktion (März): Kraftquelle Kulturerlebnisse - wie sich mein Leben mit allen Tiefern und Höhen auch in Eintrittskarten abbilden lässt

Vierter Beitrag zur Fotoaktion (April): Kraftquellen Fotografie, Kreativität & Gestaltung: Wie das Fotografieren mir den Zen-Buddhismus näherbringt

Fünfter Beitrag zur Fotoaktion (Mai): Warum blühende Kastanien für mich zu einem Symbol dafür geworden sind, dass sich Krisen auch überstehen lassen

Sechster Beitrag zur Fotoaktion (Juni): Die alte Teekanne meiner Oma als ein Symbol für die Beständigkeit von Geteiltem im Leben - und für erlebtes Leiden

Siebter Beitrag zur Fotoaktion (Juli): Kindheit, die erste Heimat auf dieser Welt - so voller Mysterien und doch so zerbrechlich - von der Wirkmacht der ersten Jahre

Achter Beitrag zur Fotoaktion (August): Eintauchen in andere Welten durch Rock-LPs und ihre Plattencover - wie mir die Vermischung zweier Künste durch die Zeit half

Neunter Beitrag zur Fotoaktion (September): Standfest, sicher und ausgesetzt - warum die Bäume auf einem Osnabrücker Berg einen so hohen Symbolwert haben 

Zehnter Beitrag zur Fotoaktion (Herbst, die erste): Warum eine fundierte Ausbildung für einen Trauerbegleiter so wichtig ist und warum in meiner Schlümpfe eine Rolle spielen

Elfter Beitrag zur Fotoaktion (Herbst, die zweite): Ein ganzes Leben unter bunten Buchdeckeln - Warum Blanko-Notizbücher eine Kraftquelle sein können

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Der Autor dieser Zeilen 
bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung). Er hält auch Vorträge zum Thema Trauer und Umgang mit Trauernden. Mehr Infos gibt es hier

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Männertrauergruppe in der Region Osnabrück: Offene Gruppe, Einstieg jederzeit möglich - alle Infos über die Gruppe gibt es hier

Ebenfalls auf diesem Blog: Die merkwürdige Beständigkeit der Dinge - warum das Wegwerfen von Sachen für Menschen in einer Trauerkrise erstmal nicht möglich ist

Ebenfalls auf diesem Blog: Eine der schwierigsten Aufgaben in einem Trauerprozess - überhaupt begreifen zu können, was da geschehen ist - was das so schwer macht

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wer Öffentlichkeit will, muss sie selbst herstellen - Praxis-Tipps für gute Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für Hospiz-, Trauer & Palliativinitiativen


Ebenfalls auf diesem Blog: Wenn Töne und Texte die Seele ins Schwingen bringen, Teil #01: Serie über Trauer und Musik - die besten Songs und Alben über Trauer und Tod 

Und im Kultur-Blog des Autors: Was "Babylon Berlin" wirklich zu einer ganz besonderen Serie macht - und das ist nicht alleine Bryan Ferry von Roxy Music







Montag, 7. Mai 2018

Kommt, Leute, wir nehmen dem Tod jetzt ein Stück seiner Macht - was auf der Messe "Leben und Tod 2018" in Bremen hier und dort als Subkontext spürbar gewesen ist, könnte eine gesellschaftliche Trendwende andeuten - ein Nachbericht mehr aus gefühlter denn erlebter Perspektive (und warum man sich bald einen Bestatter suchen sollte)

Da geht's lang zu allen großen Themen des Lebens.... Die Messe "Leben und Tod" in Bremen fand diesmal Anfang Mai statt  - bei allerfeinstem Wetter draußen (Thomas-Achenbach-Foto).

Bremen - Der Tod wird so langsam immer gesellschaftsfähiger. Es ist vielleicht noch keine Revolution, was da gerade im Gange ist - "aber eine Bewegung", um es in den Worten des modernen Bestatters und Ex-Musikmanagers Eric Wrede zu sagen. Beweise dafür bot die diesjährige Messe "Leben und Tod", die vergangenes Wochenende in Bremen stattfand, gleich mehrfach. Denn erstmals überhaupt waren auf der Messe mehrere Autorinnen sowie eine Bloggerin zu erleben, die eben nicht - wie 95 Prozent des Publikums - aus der Hospiz-, Palliativ- und Trauerbegleiter-Szene stammen (oder aus dem kirchlichen Umfeld), sondern aus dem ganz normalen Leben. So bewies die Messe im Jahre 2018 und in ihrem neunten Veranstaltungsjahr eindrucksvoll, dass eine zaghafte Bewegung in Gang gekommen zu sein scheint. Welche genau? Nun, vielleicht diese: Eine Rückeroberung. 

Ja, noch immer gibt es in unserer Gesellschaft diese Leerstelle, die der Tod darstellt. Diesen blinden Fleck, auf den wir nicht so gerne schauen mögen, also, die meisten von uns. Aber immer mehr Menschen spüren das Bedürfnis, dieses Feld nicht einem rein angstbesetzten Ausgeliefertsein zu überlassen, es mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten auszustatten, sich davon nicht so überfahren zu lassen wie es unsere Gesellschaft jahrzehntelang getan hat. Sowohl in den beiden Lesungen der Buchautorinnen Anna Funck und Muriel Marondel als auch im Vortrag von Bloggerin Silke Szymura tauchten an verschiedenen Stellen die gleichen Erfahrungen auf: Dass man sich mehr (mit-) geteilte Erfahrungswerte mit den Themen Tod und Sterben gewünscht hätte, dass man allgemeine Ratgeber zum Umgang damit vermisst hatte (und deswegen selbst welche geschrieben hat), dass das Umfeld sich von einem abkehrt, wenn man mit diesen Themen konfrontiert ist, dass aber die Intensität des Lebens allgemein hochgefahren wird, wenn man einmal auch sein Ende erlebt hat. Sie sind nicht die Einzigen, die das so schildern, wie beispielsweise der Blog von Anja Pawlowksi - "Ein Stück untröstlich" - zeigt (die übrigens auch auf der Messe anzutreffen war, jedoch als Gast, Grüße an dieser Stelle). Aber sie mischen sich mit hinein in einen Chor, der zwar noch im Piano singen muss, aber immerhin das Pianissimo längst hinter sich lassen konnte. Denn dass sich langsam etwas ändert in der allgemeinen Wahrnehmung von Tod und Sterben, das zeigen alleine schon die Cover der oben erwähnten neuen Bücher.


Ein echter Ben Becker... Der Schauspieler mit seinem markanten Testimonial für die jährlich in Bremen stattfindende Messe "Leben und Tod" (Thomas-Achenbach-Foto).

Schwungvolle Schreibschriftvarianten und in Grün oder Lila getauchte Farbwelten, wie man sie sonst eher aus der Bloggerszene kennt - aus den Bereichen Glück und Lebensgestaltung, positives Denken und Persönlichkeitsentwicklung -... Soviel intensive Lebenszugewandtheit war noch nie auf Büchern, die sich ja eigentlich mit Tod und Trauer beschäftigen. Es wird nicht alleine daran liegen, dass beide Autorinnen noch sehr jung sind (geboren 1980/1985). Tatsächlich geht zumindest die auch mal als RTL-Reporterin arbeitende und sich selbst als "Fernsehtante" bezeichnende Anna Funck in ihrem Buch "Mama ist tot, und jetzt?" einen gänzlich neuen Weg: Fast flappsig und immer irgendwie quirlig berichtet sie von den Tiefen, durch die sie nach dem Tod ihrer Mutter geschritten ist. Sterben und Trauer mehr so aus der Prosecco-Sicht des Lebens, wenn auch ganz ehrlich und offen geschildert - das geht manchem im Publikum doch ein bisschen zu weit. Die ebenfalls als Journalistin arbeitende Muriel Marondel bietet die Alternative an: In ihrem sehr intimen Lebensbericht lässt sie die Zuhörer teilhaben an den Panikattacken, an ihrem Ausgeliefertsein an all die Ohnmächte, die sie doch so gerne und so lange "im Griff" haben wollte. Bis diese dann sie im Griff hatten. Dass das alles normal sein kann und dass es zur Trauer einfach dazugehören kann, sogar die Panik - "ja, das habe ich doch gar nicht gewusst", erzählt die Autorin zwischendurch. Und erntet verständnisvolles Nicken von einem Publikum, das solche Berichte natürlich kennt und schätzt, weil es sich in seiner Haltung und seiner Bedeutung bestätigt sieht (also, äh, ja klar: ich auch). Ein weiterer wichtiger Aspekt, den die Messe mehrfach ins Bewusstsein spülte: Wie sehr der Tod einen auch in die Eigenverantwortung hineindrängt.


Anna Funck bei ihrer Lesung aus dem Buch "Mama ist tot, und jetzt?", erschienen im Herder-Verlag, auf der Bremer Messe "Leben und Tod" 2018  (Thomas-Achenbach-Foto).

Es war die Familien-Trauerbegleiterin und Buchautorin Mechthild Schroeter-Rupieper (mit ihrem eigenen Stand so etwas wie ein kleines Epizentrum der diesjährigen Messe), die in ihrem Vortrag auf diesen Aspekt hingewiesen hatte. Ihr Tipp an alle lautet: Kümmert euch am besten zu Lebzeiten um einen passenden Bestatter für Euch und für Eure Lieben, lotet vorher aus, was ihr Euch wünscht und was das Bestattungsinstitut alles mitmachen sollte und sucht Euch dann eines, was das mitzumachen auch bereit ist. "Ich wünsche mir ein Bestattungsinstitut, das beim Ankleiden hilft", sagte sie, beispielsweise. Warum man sich nicht rechtzeitig und ohne jede Todesandrohung um diese Dinge kümmern sollte, leuchte ihr nicht ein: "Wenn ich ein Kind bekomme, suche ich ja auch lange vorher schon die Klinik aus, da gehe ich nicht einfach zur nächstbesten, wenn es soweit ist...". Auch der Bestatter Eric Wrede argumentierte bei der die Messe abschließenden großen Podiumsdiskussion mit Moderatorin Bärbel Schäfer in eine ähnliche Richtung...


Was Bilder und Symbole angeht, ist Mechthild Schroeter-Rupieper immer besonders einfallsreich: Aus diesem Herzen..... 

"Es wird keine Eigenverantwortung hinsichtlich des Todes übernommen - aber wenn ich möchte, dass ich nicht bei einem Bestatter lande, der die Oma mit vollen Windeln in den Sarg schmeißt, muss ich mich vorher darum kümmern", sagte Wrede, der den spannenden Lebensweg von einem Musikmanager bei Universal (Abteilung: A & R, für die Auskenner) zum modernen Bestatter mit eigenem Institut gegangen ist. Und er sprach in diesem Zusammenhang auch den bereits zitierten Satz: "Es ist noch keine Revolution, aber eine Bewegung." Dass sich so langsam ein gesellschaftlicher Wandel einstellt, hat auch Mechthild Schroeter-Rupieper festgestellt, aber ihr Votum hierzu ist eindeutig: "Die Hospizkultur hat schon viel verändert", sagte sie, "aber es reicht noch lange nicht aus!". Doch worin sich alle einig sind: Es ist noch viel Aufklärung nötig, es ist aber auch vieles bereits im Gang. Interessant übrigens, dass die Bremer Messe jetzt auch viel prominente Unterstützung aus Bereichen erhält, die ebenfalls nichts mit Hospizkultur zu tun haben. Das ließ sich beim Autofahren besonders gut beobachten. Wobei das mit Fahren meist eher wenig zu tun hatte.


.... werden im sprichwörtlichen Handumdrehen zwei große Tränen  (Thomas-Achenbach-Fotos).

Denn die Stop-and-Go-Heimfahrt durch den dicksten Bremer Stadtautobahnstau am Freitagabend gab einem immerhin die Möglichkeit, an mehreren Stellen die schicken neuen Testimonial-Plakate bewundern zu können, mit denen die Messe jetzt auf sich aufmerksam macht: Ben Becker oder Bärbel Schäfer, Thomas Schaaf oder Henning Scherf machen mit markanten Aussagen klar, wie zerbrechlich unser Leben doch sein kann. Auf der Messe selbst findet man die Plakate auf den das kommunikative Zentrum der Messehalle umzäunenden Holzlatten. Sehr gelungen. Und dennoch: Nächstes Jahr bleibe ich gleich eine Nacht oder zwei Nächte in Bremen. Denn auch die A1 nach Hause ist am Freitagabend von so manchem Stau so vollgestopft, dass ich noch wenige Kilometer vor dem Nachhausekommen wieder ausgebremst werde. Als ich beim Umfahren des Knotenpunktes einmal sträflich unachtsam bin und nur eine kurze Strecke von Daheim entfernt einem anderen Autofahrer die Vorfahrt nehme, erschrecke ich mich über meine eigene Schusseligkeit. Und darüber, wie schnell so etwas geschieht. Einen Minisekundenbruchteil unachtsam und beinahe --- Bämm...! Wäre vermutlich nur Blechschaden gewesen. Aber viel davon. Und dabei muss es ja nicht immer bleiben in so einer Situation. Denn das Leben ist zerbrechlich. Und ich habe noch keinen Bestatter. Wird Zeit, das zu ändern - schon jetzt. Auch das eine Erkenntnis der diesjährigen "Leben und Tod".  

Auch Fußballprofi Thomas Schaaf weiß um die Zerbrechlichkeit des Lebens - da gibt es keine Verlängerung und keinen Elfmeter  (Thomas-Achenbach-Foto).

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung). Er hält auch Vorträge zum Thema Trauer und Umgang mit Trauernden. Mehr Infos gibt es hier

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