Dienstag, 17. Mai 2022

Die besten Filme über Trauer, Tod und Sterben, Folge 10 - Warum "Blaubeerblau" sozusagen der perfekte Einsteiger-Film für alle ist, die sich an das Thema Hospiz noch nicht so richtig herangetraut haben (und warum sich das Ansehen trotz mancher Überzeichnung durchaus lohnt)

Osnabrück - Bei seinem ersten Besuch in einem Hospiz bekommt er erstmal einen Lachanfall. Mit allem hätte er gerechnet, womöglich mit dem Schlimmsten - Siechentum, Versehrung, Gebrechen. Aber eine junge hübsche Frau, die ein "Ave Maria" auf der Harfe spielt? In einem beinahe klassizistischen Wohnzimmer auf feinem Holzfußboden? Da bricht sich erstens all seine Nervosität Bahn und er zweitens in Gelächter aus. Denn in ein Hospiz hineinzugehen, auch nur für einen beruflichen Auftrag außerhalb des Sterbens, das hat ihn eine Übermacht an Überwindung gekostet. Da drin ist doch der Tod, nicht? Ja, ist er, der Tod und all die Menschlichkeit, die er mitbringt - und deswegen nimmt dieser 2012 für die ARD produzierte Spielfilm "Blaubeerblau" die Hauptfigur und die Zuschauer mit hinein - ins Hospiz. Und in die Auseinandersetzung mit der Frage: Wie ist es da?  

Dieses ewige Gerede davon, dass der Tod doch zum Leben gehöre, davon hat der etwa 30 Jahre alte Jungarchitekt Fritjof Huber nun wirklich genug. "Der Tod ist der Feind des Lebens, er ist einfach widerlich!", zetert er. Doch alle Empörung nützt ihm nichts, seine Chefin bleibt eisern: Weil das Architekturbüro ein Hospiz umbauen soll und jemand dort das Aufmaß nehmen muss, wird eben Fritjof, genannt Fritte, geschickt. Der ist Muttersöhnchen genug, sich nicht gegen seine ebenfalls mütterliche Chefin zur Wehr zu setzen. Und so landet Fritte im Hospiz - und trifft dort auf seinen ehemaligen Mitschüler Hannes, der dort als Bewohner lebt. Beziehungsweise: Stirbt. Ein Mitschüler, den Fritte damals nicht hatte leiden können und mit dem er dennoch eine Art Zweckgemeinschaft eingeht, die ihn immer wieder zurückführen wird. Ein Buddy-Movie ganz ohne Straße, das aber doch zwei ganz ungleiche Menschen auf dem letzten Weg des einen miteinander vereint. 

Ohweh, die Freundin will, dass sich was ändert - für "Fritte" eine Aptraumvorstellung... ( Foto: BR/ARD). 


Im November des Jahres 2012 gestaltete die ARD mit großem Aufwand eine Themenwoche unter dem Motto "Leben mit dem Tod". Der werbetaugliche Slogan: "Sie werden sterben. Lasst uns darüber reden". Sogar der "Tatort" wurde an das Thema angepasst und mit einer an Krebs erkrankten weiblichen Hauptfigur ausgestattet, die mordend unterwegs war, um ihre Töchter zu schützen (das waren die titelgebenden "Dinge, die noch zu tun sind"). Auch das Thema Hospiz sollte unbedingt eine Rolle spielen. Also brauchte die ARD noch einen Spielfilm, der dort spielte und die Realität eines Hospizes einigermaßen realistisch, aber doch harmlos genug für einen 20:15-Uhr-Slot, vermittelte. Das Ergebnis ist der Film "Blaubeerblau", den es auch auf DVD zu kaufen gibt. Zum Glück, denn er ist wirklich eines geworden: Ein richtig guter Einsteigerfilm in das Thema Hospiz. 

Dem Gast das Beste - was er im Leben am liebsten mochte


Denn dass Hospize eben vor allem freundliche Orte sind, in denen der Mensch so sein darf, wie er eben ist, und in denen die Sterbenden nochmal so schön leben dürfen, wie es gerade noch möglich ist, das gehört zur Grundhaltung dieser Einrichtungen. Von Siechentum ist dort wenig zu spüren, von Lebenslust hingegen deutlich mehr. Ganz wie es der hospizlichen Haltung entspricht. In einem solchen Ort riecht es eher nach Apfelkuchen oder Kartoffelpuffer als nach Krankenhaus. Und diese Haltung, diesen Geist, fängt der Film ebenfalls ein. So dauert es nicht lange, bis das zu nehmende Aufmaß für Fritte immer unwichtiger wird.  

Das Architekturbüro braucht ein Aufmaß, jemand muss rein, ins Hospiz. Wen es wohl treffen wird (Foto: BR/ARD)?


Wer hätte das gedacht? Es solle sich bitte nichts verändern, gar nichts, am besten; es soll alles so bleiben, wie es ist, das ist anfangs noch Fritjofs Lebensmotto. Als seine Freundin andeutet, dass sie sich Veränderungen wünscht, als sie das Schreckgespenst einer "gemeinsameren Zukunft" hinaufbeschwört, ist es mit der Beziehung rasch vorbei. Lieber die Vögel füttern, zu denen Fritjof seit Kindertagen eine besonders enge Verbindung hat. 

Eine gewisse Prime-Time-Öffi-Betulichkeit


Leichtfüßig zwischen Komödie und Drama hin- und hertänzelnd, durchaus unterhaltsam, wenn auch meistens vorhersehbar, vor allem aber hervorragend gespielt von sehr guten Darstellern, ist dem Film natürlich jederzeit anzumerken, dass es sich um einen öffentlich-rechtlichen Fernsehfilm handelt. Soll heißen: Eine gewisse Betulichkeit ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Sie sorgt dafür, dass leider nur ein ziemlich guter, nicht aber ein wirklich großartiger Film aus dem Stoff geworden ist. Weniger wäre mehr gewesen. Dass sich für die - angenehm schräge - Figur des Fritte doch noch eine Liebesnacht mit der einstigen Angebeteten ergibt,... Nun ja, wäre auch ohne gegangen. Und gestorben wird hier natürlich eher "schön", womit der Film gerade zu seinem Ende doch zu sehr über die Kitschgrenze schlittert. Nur eine auf dem Flur stehende Sauerstoffflasche macht in einer Szene ahnbar, dass das Sterben eben nicht immer nur sachte und friedlich vonstatten geht. Also in der echten Welt. Sei's drum, das Anschauen lohnt sich dennoch.

Hospizliche Haltung konsequent zu Ende gedacht: Wer Kühe liebt, bekommt eine ans Sterbebett (Foto: BR/ARD).

Vor allem, weil  der Drehbuchautorin Beate Langmaack und dem Regisseur Rainer Kaufmann, der in den 90ern Kinofilme wie "Stadtgespräch" oder "Die Apothekerin" inszenierte, mit stetig wiederkehrenden Einblendungen von überbelichteten Kindheitserinnerungen einige fast schon poetische Bilder geglückt sind. Diese lassen den Film für kurzzeitige Momente zu einem kleinen Arthouse-Kunstwerk werden. So erinnert sich die Hauptfigur Fritte immer wieder an die Vögel, die ihn als Kind so prägend fasziniert haben - und der von ihm quasi unbewusst sterbebegleitete Ex-Mitschüler hat seinerseits Kindheitserinnerungen an Kühe, Felder, Natur, die eine wichtige Rolle spielen.

Den Tod vor der Nase - zurückgeworfen aufs innere Kind 


Dass der Kontakt mit dem Sterben die Menschen wieder ganz eng mit ihrer Kindheit verschränkt - die Sterbenden ebenso wie diejenigen um sie herum -, ist eine Erfahrung, von der tatsächlich Sterbebegleiter immer mal wieder berichten. Auch wenn "Blaubeerblau" weit davon entfernt ist, eine Trauer- oder Sterbesituation allzu realistisch nachzuzeichnen, geht er an dieser Stelle die richtigen Schritte. 

Der eine stirbt, der andere verkümmert. David Striesow als Fritjof, Stipe Erceg als Hannes (Foto: BR/ARD).

Der aus Kroatien stammende Stipe Erceg ("Die fetten Jahre sind vorbei") ist mit seinem hageren Gesicht und seinem nachhaltigen Fatalismus die perfekte Besetzung für den sterbenden Hannes. Der ganz zurückhaltend und doch enorm überzeugend spielende David Striesow, bekannt als Ex-Tatort-Kommissar Jens Stellbrink aus dem Saarland, macht die Hauptfigur Fritjof zu einem irgendwie angenehm verschrobenem Menschen, wie man sie ebenfalls im Bekanntenkreis hat (die Bloggenden daselbst sind natürlich immer ausgenommen). Präzise Charakterzeichnung mit wenig Mitteln, das zeichnet beide Hauptrollen aus - und so trägt dieses Miteinander der beiden Hauptfiguren über die eine oder andere Drehbuchschwäche hinweg.  

Es braucht ein eigenes Genre für diese Sorte Film


Es ist übrigens gar nicht so einfach zu definieren, in welches Genre sich der Film einordnen lässt. Letztlich schafft er sich seine ganz eigene Nische: Er ist ein Hospiz-Dramedy. Gut aushaltbar, recht unterhaltsam, ohne seinem Thema die nötige Ernsthaftigkeit zu rauben. Muss man auch erstmal schaffen, sowas. Respekt. 

"Blaubeerblau" ist vor einigen Jahren auf DVD erschienen und im gut sortierten Handel noch erhältlich. Und natürlich im Onlinehandel.


--------------- Alle Folgen aus der Serie "Die besten Trauerfilme": ------------

- Was uns das Teenager-Drama "Vielleicht lieber morgen" mit Emma Watson über Trauer, Trauma, Flashbacks und Trigger erzählt - zur Folge 1 der Serie

- Warum die australisch-französische Filmperle "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg eine exakte Studie über das Trauern ist - zur Folge 2 der Serie

- Was uns das oscar-prämierte US-Drama "Manchester By The Sea" alles über Schuld und Familiensysteme in Trauer erzählen kann- zur Folge 3 der Serie

- Der Tod zweier Söhne, ein Familiensystem und seine Geschichte - warum John Irvings "The Door In The Floor" ein Fim übers Erzählen ist - Folge 4

- Der Suizid der Mama und wie eine Familie weiterzumachen versucht, eindrucksvoll, aber zurückhaltend gezeigt in "Der letzte schöne Tag" - Folge 5

- Ein poetischer Film über Japan, alternde deutsche Ehepaare und die ewige Nähe des Todes - Dorris Dörries "Kirschblüten Hanami" ist eine Wucht - Folge 6

- Warum der Spielfilm "Das Zimmer meines Sohnes" unbedingt sehenswert und bemerkenswert realistisch eine Familie in Trauer abbildet - Folge 7 der Serie

- Ein kluger Film darüber, wie Trauer als latente Grundschwingung das Leben junger Menschen beeinflussen kann, "Dieses Sommergefühl"Folge 8 der Serie

- Als Familie nach dem Tod eines Kindes in der Ferne den Neustart wagen - was das mit Geschwistern und Eltern macht, erzählt "In America" - Folge 9 der Serie 

- Warum "Blaubeerblau" der perfekte Einsteiger-Film für alle ist, die sich an das Thema Hospiz noch nicht so richtig herangetraut haben - Folge 10 der Serie

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Im Trauergeschichten-Podcast zum Hören: "Darf ich das - ist das normal?" - was sich Trauernde so alles fragen und was es darauf für Antworten gibt  

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellt und was das für den Trauerprozess bedeuten kann - über die "Aufgaben der Trauer"

Ebenfalls auf diesem Blog: Entrümpeln, Ausmisten und Aufräumen nach dem Tod eines Menschen - was mache ich damit und warum ist das so hart?

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Trick mit der Selbstwirksamkeit - wie wir uns selbst gut in seelischen Krisen helfen können: psychologische Tipps

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich Trauernde förmlich zerrissen fühlen  - eine Einführung in das "Duale Prozessmodell der Trauer" und seine Fallstricke

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum sich ein Suizid viel öfter verhindern ließe als wir das glauben und warum es so wichtig ist, immer wieder darüber zu reden

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und Trauer - was Menschen in einer Verlustkrise hilft, was man Trauernden sagen kann 

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