Osnabrück - Andrew Fletcher, herrje. Der Keyboarder von Depeche Mode. Die Todesmeldung in den 7-Uhr-Nachrichten. 60 Jahre, ist doch kein Alter. Denkst Du, der Du es besser wissen müsstest; so viele verwaiste Eltern, wie Du bereits gesprochen hast. Aber dieses Lebewohl ist anderer Natur. Ein Begleiter aus der Ferne verlässt Dich. Vor Deinen Inneren Augen werden plötzlich eigene Lebenssituationen abgespult. Als ob der Radiosprecher persönlich den Deckel eines Erinnerungskästchens für Dich abgenommen hätte. Plötzlich zu spüren, wie stark die Kreativität dieser Band und ihrer Mitglieder Dein Leben stets untermauert hat, füllt Deinen Seelenraum aus. Dieses leise Gefühl eines nicht näher definierbaren Abschieds. Wovon?
Ich erinnere mich noch genau an die Situation, als ich in den Radionachrichten vom Tod David Bowies erfahren habe. Ich war auf dem Innenstadtring in Osnabrück in Richtung der Stadthalle unterwegs (die für mich immer Stadthalle bleiben wird, auch wenn pfiffige Marketingfachleute sie längst umgetauft haben). Im eigenen Auto, ein leicht gräulicher Januartag, nicht wirklich Winter, nicht wirklich freundlich, irgendwie unentschieden. Obwohl ich mich nie als einen echten David-Bowie-Fan bezeichnet hätte, traf mich die Nachricht härter als ich es gedacht hätte. Auch, weil mir plötzlich bewusst wurde, wie sehr Bowie irgendwie immer mitgelaufen war, im Hintergrund meines Lebens, im Strom dessen, was um mich herum so geschah.
Da war er zum ersten Mal spürbar, dieser Nachhall, das plötzliche Aufpoppen von Bildern aus meinem Gestern.
(Alle Fotos: Thomas Achenbach) |
Diesmal stehe ich in unserer Küche, Familienalltag, das Frühstück abräumen, die Tochter muss gleich zur Schule, der Griff zum kleinen Radiogerät, die Nachrichten. Das Erschrecken. Andy Fletcher. Auch von Depeche Mode waren andere Menschen stets besessener als ich es je gewesen bin. Während sich gute Freunde in meinem Umfeld selbstgemachte "Violator"-Rosen aufs Auto klebten und das Besuchen von Livekonzerten zum Pflichtprogramm erhoben, blieb ich durchaus interessiert an der Band, aber insgesamt auch neutraler. Dennoch überrascht mich, wie sehr mich die Todesnachricht jetzt anfasst, im Inneren.
Aber klar. Genau wie das Werk David Bowies ist auch die Musik von Depeche Mode irgendwie ganz automatisch ein elementarer Bestandteil meines Lebens geworden, hat sich quasi in mich hineingeschlichen, sich als entfernter Begleiter immer mal wieder dezent bemerkbar gemacht. Man sagt, ohne Andrew Fletcher seien Depeche Mode nicht denkbar. Er sei der Kitt gewesen, der die Extreme zusammengehalten habe. Das Understatement, das die Band gebraucht habe. Jemand, der mich nicht kannte, hat zusammen mit seinen Mitstreitern, die mich nicht kannten - schwierigen Mitstreitern, die zu zähmen ihm irgendwie gelungen ist - fast unmerklich Leuchtmarken in meine Lebenslaufbahn gesetzt. So wie nur Musik das kann.
Ich stelle fest, dass die Band mir offenbar etwas zu sagen hatte. Auf das ich gewartet hatte. Ohne es zu wissen. So vieles wird wieder wach.
VHS-Tape 1. Anfangsjahre einer Freundschaft. Wir spulen ein kleines Stück vor.
1986, düstere Zeiten, Black Celebration. Du bist 10 Jahre alt, als der Reaktor in Tschernobyl explodiert. In die Sorglosigkeit Deiner Kindertage reißt das keine wirklichen Löcher, Dein Leben bleibt ein herrlich unbekümmerter Erlebnisstrom aus Drei-???-Cassetten, Superman-Comicheften und Ronnys Pop Show-Samplern. Alleine am Entsetzen der Erwachsenen kannst Du erahnen, dass die Welt jetzt eine andere ist. Jeder Regen bringt auf einmal etwas Lebensbedrohliches mit sich - das ist neu. Und schräg. Kurz zuvor haben Depeche Mode dieses Album veröffentlicht, das noch immer als ihr melancholischstes gilt. Jemand hat es für Dich auf Cassette überspielt, die klassische Popmusik-Distribution für Kinder der 80er. Die Düsternis und Schwere der Musik strahlt sofort eine morbide Faszination auf Dich aus. Das Ineinandergleiten der Songs, der Konzeptcharakter der Platte, das ist neu und aufregend für Dich. Der Ernst des Erwachsenenlebens; die Dunkelheit, die sich über eine Seele stülpen kann; entfernte Echos aus einem Leben, das diese Facetten einst mit sich bringen könnte. Du kannst das weder begreifen noch in Worte fassen, Du kannst es nur spüren. Und es macht etwas mit Dir.
Reiz und Erschrecken. Anziehung und Erschaudern.
1987, die Sommerferien vor Music For The Masses. Die LP erscheint im Herbst, die ersten Singles bilden den Rahmen für die Monate vorab. Noch könnte man Dich als Kind bezeichnen, auch wenn erste Anzeichen längst von all den unausweichlichen Entwicklungen künden. Donnerstags erscheint die Bravo, die ist Pflicht. Der erste Sommer in einem neu gebauten Haus, der Wechsel zum Gymnasium steht bevor, Aufbruch in ein neues Leben, alles muss sich noch formen, die Eltern legen den Garten an. Auch im Weltengeschehen stehen die Zeichen auf Veränderung: Sogar Du als Kind kennst den russischen Generalsekretär Michail Gorbatschow (Nebenfrage: wer war damals eigentlich Präsident und warum war das so unwichtig?), sogar Du als Kind weißt, dass die russische Politik von "Glasnost" und "Perestroika" sanfte Zeichen der Hoffnung setzt nach einem Jahrzehnt des Kalten Kriegs, in dem Du groß geworden bist. Dass diese Sommertage auch allerlei Abschiede mit sich bringen, kannst Du nur an einem leisen Zittern erahnen, das gelegentlich hinter dem Horizont Deines Seelenraums spürbar wird. Das Warten auf den Stimmbruch (der nicht kommt). Du fährst mit dem "Ferienpass" in den Heide Park. Und nutzt die Sondermarken fürs Freibad. Es wird der letzte Sommer ungetrübter Kindheit.
Wir spulen vor, noch ein kleines Stück, weiter vor.
1989, die 101, das Live-Album, Doppel-LP. 14 Jahre alt und längst auf dem Weg ins Leben. Klassenfahrt nach Lübeck und an den Ratzeburger See. Jemand hat eine Cassette mit, spielt das Album auf dem Walkman. Sturm und Drang, das teuflische Zwillingspaar, erbittet baldmöglichsten Einlass. Erstes Anschwelgen von Mitschülerinnen, im Verborgenen; erstes echtes Sehnen. Gleichzeitig rauscht als mächtige Welle die Unsicherheit heran, spült das Geborgensein der Kinderjahre fort. Im Deich um Deinen inneren Kern herum die ersten Risse. Was bloß werden, wo Du noch nichts bist - und wie? Ein Programmpunkt der Klassenfahrt: Rudern auf dem Ratzeburger See, ein schmales Sportboot, ihr seid flott unterwegs, links von Dir die Weite und Freiheit des Wassers, rechts von Dir die "Zonengrenze", die noch so ganz unzerstörbar zu sein scheint. Nicht einfach nur ein anderes Bundesland, eine andere Welt. Sie nennt sich demokratisch, alle wissen, dass sie das nicht ist. Zu wissen: Wenn Du diesen Ufersaum betrittst, bist Du verloren, musst Du womöglich um Dein Leben fürchten, unvorstellbar, erschreckend, faszinierend. Als dann diese Grenze für immer fällt, später im Jahr, sind nur Monate vergangen. Aber es erreicht Dich kaum noch. Während sich Deutschland in einen bananenseligen Kollektivrausch hineinschaukelt, haben sich Dein Körper und Gehirn in die Neuorganisation begeben. Außenwelt nicht zugelassen. Beginn der schwierigen Jahre.
Das VHS-Tape endet mit einem sanften Klacken und geht automatisch in den Rückspulmodus. Schrilles Kreischen, wenn die innenliegenden Spulen am Plastikgehäuse entlangschaben.
Und von da an geht es weiter - und immer weiter.
Sag mir eine Jahreszahl und ich kann Dir diese DNA-Doppelschlaufe benennen: Der Song, der für mich prägend gewesen ist, und die Ereignisse, die sich mit ihm verbunden haben. In meinem Kopf purzeln die Jahreszahlen ebenso durcheinander wie die Lieder, die Alben, die Remixes, die CDs und Maxi-CDs. 1993, das erste Mal Urlaub ohne Eltern, Try Walking In My Shoes. 1997, erste Schritte ins Berufsleben, It's No Good (ironischerweise - war halt so). So viel Erlebtes; so viel Begriffenes, ein dicht gewebtes Netz aus eigenen Erfahrungen, schmerzvolle, gute, beschämende, befreiende; aber lehrreich, immer lehrreich. Lernen geht nur durch Fallen, das wissen schon Babys. Dann, schließlich, ein Höhepunkt: 2013 in Hamburg, Konzert im Stadion, das erste und einzige Mal Depeche Mode live in meinem Leben - Männer sammeln sowas -; meine Frau ist mit dabei, unser Kind auch schon, aber nur in ihrem Bauch. Musikalische Früherziehung, bei Bruce Springsteen waren wir auch schon, Pflichtprogramm. Aufbruch in ein ganz neues Leben. Wieder einmal. Sich immer wieder neu erfinden.
Wenn das, was in Dir unsagbar bleibt, sich ausdrückt in der Musik, die Dich begleitet, um welche Art von Partnerschaft handelt es sich dann? Freundschaft? Ferndiagnose? Während es geschieht, machst Du Dir keine Gedanken darüber, erstmal nimmst Du es mit. Everything Counts.
Aber wenn dann diese Begleiter sterben, steht es Dir ganz deutlich vor den Augen: Dass Du eine Beziehung zu diesen Menschen gehabt hast. Du zu ihnen, wenn auch sie nicht zu Dir. Dass mit diesem Menschen auch ein kleines Stück Deiner Selbst gestorben ist. Was natürlich unlogisch ist - aber, bitte, es geht hier um Trauer, was zählt da schon Logik? Und Dein Leben darf Dir jetzt so vorkommen: irgendwie anders, zementierter, katalogisierter, als ob mit dem Tod dieses Musikers auch ein Teil Deiner möglichen Entwicklungen abgestorben ist. Logisch; Du bist kein Einzelfall, Du weißt sehr genau, dass es zahlreichen anderen - Tausenden, vermutlich - genauso geht wie Dir. Dass sich auch ihr Leben auf das Engste verschränkt hat mit diesem Menschen, seiner Musik, seiner Band, dem, was sie erschaffen haben.
Die 7-Uhr-Nachrichten im Radio und alles steht wieder auf in meinem Inneren, was ich so erfolgreich hinter mir lassen konnte, Gott sei Dank: Die naive Unzerstörbarkeit meiner Jugend und die flatternde Verletzlichkeit meines jungen Erwachsenenlebens. Jeder Tod erinnert uns an die Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens. Immer eine Mahnung: Auch Du. Jeder. Zeitpunkt ungewiss. But not tonight..... ......... .....?
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