Mittwoch, 3. März 2021

Wo versteckt sich eigentlich die Trauer in diesen Zeiten der Pandemie? Hat sich über die Themen Trauer, Tod und Sterben ein gesellschaftlicher Deckmantel ausgebreitet? Zu vieles bleibt in der Coronapandemie unbesprochen und ungefühlt, was die Trauer der Hinterbliebenen angeht

Osnabrück - Einer der Sätze, die ich gerade am meisten höre: "Du müsstest doch im Augenblick ganz viele Anfragen haben - und ganz viel zu tun". Jetzt, mitten in einer weiteren Welle der Pandemie, immer noch im Lockdown, steht oft die Vermutung im Raum, dass Trauerbegleitung ein vielgefragtes Instrument sein müsste, weil doch so viele Menschen auf ebenso brutale wie unsägliche Weise einen anderen Menschen verlieren mussten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Mag es derzeit auch vermehrt zu Trauerfällen kommen, bleiben sie wohl weitestgehend unbesprochen. Vielleicht auch unausgelebt. Das geht nicht nur mir so. Fast scheint es so, als wäre ein Mantel des Schweigens über die Themen Trauer, Tod und Sterben ausgebreitet worden, den wenigstens einmal anzulupfen bereits eine Überschreitung dessen darstellt, was gesellschaftlich angemessen erscheint. Umso wichtiger ist es, noch einmal auf zwei Dinge hinzuweisen. 

Erstens: Jede Trauer darf gelebt werden, jede Trauer hat ihre eigene Berechtigung - das sollte selbstverständlich sein, und doch habe ich manchmal so das Gefühl, dass wir uns genau diese Erlaubnis als Gesellschaft derzeit nicht mehr zugestehen mögen, was, wenn es wirklich so wäre, einen enormen Rückschritt bedeutete. Und zweitens: Trauer darf kein Luxus sein, ein Gefühlsüberfluss, den man sich vielleicht in krisenfernen Wohlstandssituationen leisten darf, sonst aber nicht. Denn alleine aus der Arbeit mit Männern in einer Trauer- und Verlustsituation wissen wir: Wer in einer solchen Lage nur Härte zu zeigen versucht, kann an ebendiesem selbstauferlegten Nicht-hinsehen-wollen auch zerbrechen. "Toxische Männlichkeit" meint genau das. Nur dass Trauer gerade für alle toxisch geworden zu sein scheint, nicht bloß für Männer. Nur wenige Trauerbegleiterkolleginnen und -kollegen berichten davon, dass sie vereinzelte Anfragen nach Trauerberatung oder Trauerbegleitung erhalten, aber in der Summe sind es (deutlich) weniger als vor der Pandemie. Andere berichten davon, dass ihnen die Menschen nach einer Verlusterfahrung so etwas sagen wie: "Es geht doch gerade allen so, da sind wir doch nichts Besonderes". So und ähnlich sind die Aussagen von Menschen, mit denen ich mich jüngstens bei Onlineseminaren und Videokonferenzen austauschen durfte. 

Auch wenn da mehr sein sollte, wird es weniger

Wohlgemerkt: Es wird weniger. Nicht mehr. Auch wenn viele glauben, da müsste doch mehr sein als vorher. Mehr Trauer, mehr Verzweiflung, mehr Ohnmacht. In Anfragen nach Beratung und Begleitung spiegelt sich das nicht. Auch sonst nicht.

(Fotos: Thomas Achenbach) 

Genau deswegen hat es im März 2021 die Aktion "Trauer ist systemrelevant" gegeben, die vom Bundesverband Trauerbegleitung initiiert wurde und bei der Unterzeichner für eine Online-Petition gesucht wurden. Doch dümpelte auch diese Aktion mehr so vor sich hin, anstatt wirklich zu zünden. Als ich diesen Artikel zuerst veröffentlicht hatte, Anfang März 2021, waren nach rund einem Monat Laufzeit um die 3900 Unterzeichner zusammengekommen. Am Ende waren es knapp über 5000 (um genau zu sein: 5014). Rein rechnerisch gesehen sind das bei 83 Millionen Einwohnern in Deutschland 0,006 Prozent der gesamten, also tatsächlich systemrelevanten, Bevölkerung. In Worten: Null komma Null Null Sechs. Was jetzt nicht wirklich als gesellschaftsverändernde Masse bezeichnet werden kann. Ein Ergebnis, das mich schlichtweg ratlos macht. Aber auch das spricht ein deutliches Zeichen: Von Trauer will gerade kaum jemand etwas wissen. Und dabei müsste es doch gerade jetzt sehr viel mehr an Trauer geben als vorher. Stellt sich bloß die Frage:

Kommt die Bugwelle oder bleibt sie verborgen?

Wo versteckt sich diese Trauer? Wo bleibt sie? Warum bleibt sie unbesprochen, ungesagt, vielleicht sogar ungefühlt? War Trauerbegleitung vielleicht doch ein Luxus, der durch die Coronakrise unmöglich geworden ist? Kommt sie eines Tages noch, diese große Bugwelle an aufgestauten Gefühlen, die bislang keinen Raum haben durften, und wenn ja, wann? Oder wird unsere Gesellschaft versuchen, auch die kollektive Trauer der Coronakrise in den Mauschelraum des Bessernichtgesagten zu verstecken, ungefähr so, wie sie es nach den Weltkriegen getan hat? Was, wie wir aus der spannenden Forschung rund um Kriegsenkel und Kriegkskinder wissen, sich in späteren Gesellschaftsseelen rächen kann und rächen wird (in den Kinderseelen, allen voran). Es könnte wichtig sein, diesen Fragen nachzugehen. 

Als dieser Blogbeitrag erschien, hatten wir Anfang März 2021. Genau ein Jahr davor, am 7. März 2020, hatte ich in Wien auf der damals noch existierenden Messe "Seelenfrieden" einen Vortrag zum Thema Männertrauer halten dürfen - als Präsenzveranstaltung mit echtem Publikum vor der Brust. Es war mein vorletzter Vortrag mit echtem Publikum im Saal und nicht bloß mit Einzelpersonen in kleinen Kacheln auf einem Bildschirm. Und es war das letzte Mal, dass ich für einen Vortrag weiter gereist bin als bis in die Innenstadt meines Wohnorts. Es war ein besonderer Tag - von dem ich nicht wusste, dass es ein Abschiedstag sein würde. Dann kam der Lockdown Nr. 1 - und mit ihm kamen die Absagen. Salzburg, Nürnberg, Hamburg, Bremen und zahlreiche andere Städte hätten auf meiner Reiseliste gestanden. Am Ende stand dort gar nichts mehr. Und auch Einzelbegleitungen, Trauergruppen, also das übliche Geschehen war auf Halt. Manches davon, vieles, ist bis heute abgesagt. 

An dieser Stelle ein Schnitt - und die Überleitung zu einer anderen wichtigen Person, die klar erkannt hat, wie dramatisch es um die Situation von Trauernden in Deutschland steht: Unsere "First Lady", Elke Büdenbender

"Alles ist überlagert von der Pandemie"

„Wir können (derzeit) nicht unbelastet trauern (…) Wir können uns nicht einfach in unsere Trauer hineinbegeben. Alles ist überlagert von der Pandemie. Das trifft uns als Gesellschaft insgesamt." Dies sagte die Frau von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), das am 24. Januar erschienen ist und dem diese Sätze entnommen sind. Der Titel des Interviews war: "Wir müssen über das Sterben reden". Und das stimmt, auch das müssen wir. Wir müssen aber auch über die Trauer reden. 

Elke Büdenbender (Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler, mit freundlicher Genehmigung)

Elke Büdenbender hat eine Erklärung dafür parat, warum die Themen Sterben, Tod und Trauer derzeit so ausgeblendet bleiben im allgemein gesellschaftlichen Diskurs. Sie vergleicht unser aktuelles Sterben mit der Situation eines Weltkriegssterbens: "Der Tod als Massenereignis im Krieg ist auch deshalb so grauenhaft, weil er den Menschen die Individualität nimmt." Da ist vielleicht etwas Wahres dran. Und es könnte eine gute Antwort sein auf die oben gestellten Fragen. 

Elke Büdenbender sagte im Interview mit der FAS: "Ich-sein-können im Tod, in der Art und Weise, wie ich Abschied nehmen möchte von der Welt, das hängt zutiefst mit meiner Vorstellung davon zusammen, wer ich als Mensch gewesen bin und sein möchte.“ Und dieses Ich-sein-können, das ist derzeit nicht immer möglich. Nicht im Tod, nicht in der Trauer, nicht in einer ständig vor sich selbst weggesperrten Gesellschaft - es gilt jetzt die Balance zwischen Schutz der Menschen einerseits und der Möglichkeit menschlichen Kontakts mit Mitgefühl andererseits wieder neu auszuhandeln. Damit menschliches Sterben und menschliche Trauer nicht das bleiben, was sie im vergangenen Jahr zunehmend geworden sind: Ein Luxus, den zu leisten sich diese Gesellschaft selbst verboten hat

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Der neue Podcast von Thomas Achenbach: "Trauergeschichten - Menschgeschichten", Gespräche über Leben, Tod und Sterben, jetzt online

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