Montag, 28. September 2020

Warum sagt man Zugehörige statt Angehörige? Was ist der Unterschied zwischen Zugehörigen und Angehörigen? Wie eine gesellschaftliche Entwicklung die Trauer- und Bestattungskultur mitprägt und warum es wichtig ist, darum zu wissen und sie mitzugestalten

Osnabrück - In jüngster Zeit hat es sich immer mehr durchgesetzt, im Falle eines Todes nicht mehr von den "Angehörigen" zu sprechen, sondern von den "Zugehörigen". Vor allem bei Bestattern gehört das Wort inzwischen zum Standardrepertoire. Ich habe mich oft gefragt: Warum eigentlich? Meine Recherche über diese Frage hat mich weiter geführt als gedacht.

Denn es geht bei diesem Thema um etwas sehr Grundsätzliches: Es geht um die Frage nach Lebensentwürfen. Die sehen heute in jüngeren Generationen oft ganz anders aus als noch vor einigen Jahren. Als zugespitzte These formuliert, ließe sich das so zusammenfassen: Früher war mehr Familie. Oder anders gesagt: Heute spielen die Freunde eine noch viel wichtigere Rolle als früher. Und das gilt eben auch für alle Fragen rund um das Lebensende, also die Fragen nach Sterbebegleitung, Trauerfeiern und Beerdigungen. Womit wir genau beim Thema sind.

Angehörig? Oder zugehörig? Das ist hier die Frage (alle Fotos: Thomas Achenbach)

Das Wort "Angehörige" gilt nach wie vor für Familienmitglieder. Je enger miteinander verwandt man ist, desto angehöriger ist man auch. Das Wort "Zugehörige" ist etwas schwammiger, spannt den Bogen aber wesentlich weiter - und genau darauf kommt es an: Als zugehörig erleben sich auch Freunde, die eben nicht direkt verwandt sind. Wohingegen die direkten Verwandten eben auch irgendwie dazugehören, also ebenfalls zugehörig sind und bleiben, sprich: Das Wort schließt sie nicht aus, sondern durchaus mit ein. 

Viele Alternativen zum klassischen Familienmodell 



Auf meiner Suche nach den Zahlen, Daten und Fakten, die zu der oben geäußerten These passen, stoße ich rasch auf Aussagen wie diese: Mehr als ein ­Drittel der Haushalte sind heute Singlehaushalte, jeder fünfte Deutsche lebt allein, jede zweite Familie heutzutage ist eine Ein-Kind-Familie, die Zahl der Alleinerziehenden steigt von Jahr zu Jahr, außerdem kommen zum klassischen Modell von Mutter-Vater-Kind heutzutage immer mehr alternative Versionen dazu: Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, etc. Ganz abgesehen davon leben wir in der mobilen Moderne, in der Angehörige oft weit entfernt über das ganze Land verstreut wohnen.


Werfe ich einen Blick in mein persönliches Umfeld, werden mir einige Beispiele bewusst: Einer meiner engsten Freunde hier in der Stadt ist auch im Alter von fast 50 Jahren ein alleine wohnender Single, dessen Mutter als einzige noch lebende Verwandte in Süddeutschland wohnt. Ein älteres Ehepaar auf dem Lande, das ich gut kenne und mit dem ich gern zusammenarbeite, diskutiert ebenso offen wie oft über das Gründen von Senioren-Wohngemeinschaften mit Freunden als dem optimalen Altersmodell. Das alles sind zu wenige Erfahrungen, um daraus einen allgemeinen Trend ableiten zu können. Aber wenn sich inzwischen schon die Bestatter angewöhnt haben, ein anderes Wort zu gebrauchen als vorher, wird auch dieser Wandel auf Erfahrungen begründet sein, die sie gemacht haben. 


Eine Überforderung für die Freundschaft?



Aber Freunde in den Tod begleiten? Eine Sterbebegleitung übernehmen? Sich um ihre Trauerfeiern und Beerdigungen kümmern? Ist das nicht alles sehr tragweit, sind die Verantwortungen nicht doch ein bisschen zu groß, als dass ein Freundschaftsmodell sie tragen könnte? Vermutlich geht das nicht ohne eine weitreichende vorherige Abstimmung, am besten eine schriftliche Vereinbarung, eine Art freundschaftlicher Vorsorgevertrag. Zumindest die Soziologin Julia Hahmann - die über Freundschaften ihre Doktorarbeit geschrieben hat und als Expertin für dieses Thema gilt - ist bei diesem Thema jedoch zurückhaltender: "Wenn ich jetzt Freundschaften in ein Umfeld packe, wo sie genau das erfüllen sollen – alltägliche Unterstützungsleistung – dann wird auch noch diese, diese letzte Beziehungsform, die so frei ist von Kosten-Nutzen-Kalkulatorischen Denken ausgehöhlt..." sagte sie einmal dem "Deutschlandfunk Kultur" in einem Feature über Freundschaften in modernen Zeiten (der gesamte Beitrag lässt sich hier finden). 


Bleibt die Frage: Wer kann sich denn überhaupt kümmern, wenn es keine Familie mehr gibt? Sind dann nicht die Freunde ohnehin gefragt, schon aus einer gefühlten moralischen Verpflichtung heraus? Und schon sind wir mittendrin in einem spannenden Thema, dessen Bandbreite zu Diskussionen und Gesprächen einladen sollte. Warum also nicht seine besten Freunde einmal einladen zu einer Art privatem Death Cafè? Und bei Kaffee, Kuchen und freundschaftlichem Zusammensein einmal die ganz großen Fragen des Lebens diskutieren. Ergebnisoffen. Aber zugehörig.

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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