Osnabrück - Warum wird ein Rocksong, der eine Schiffskatastrophe beschreibt, gerne auf Beerdigungen eingesetzt? Müsste nicht ein solches Lied dafür viel zu vollgesogen sein von Trauer, Tragik und Tod, also von allem, was schnell unerträglich wird? Und hätte es nicht sogar etwas Übergriffiges gegenüber den Hinterbliebenen, einen solchen Song zu einer Brücke zwischen dem Unaushaltbaren und einer transzendentalen Hoffnung werden zu lassen? Die Rockband "Marillion" hat mit "Estonia" einen mutigen Sprung gewagt, der Song hat zudem eine bemerkenswerte Entstehungsgeschichte - aber offensichtlich hat sie richtig damit gelegen. Denn das Lied wird den Worten des Marillion-Sängers Steve Hogarth zufolge häufig für Trauerfeiern benutzt. So berichtet es der Sänger in einem Podcast. Merkwürdig für mich, dass mich das Estonia-Thema immer irgendwie wieder einholt Aber der Reihe nach.
Es beginnt wie an einem düsteren Tag am Meer. Die Musik illustriert eine immergleiche Bewegung, wie schlammtrübe Wellen an einem Strand ohne Sonne. Doch plötzlich geschieht etwas anderes, die Musik nimmt Tempo auf, eine helltönende Balalaika durchbricht die Melancholie und eine beinahe folkig-fröhliche Melodie entspinnt sich im Refrain. Eine Melodie, die ihren bekümmerten Unterbau zwar nie ganz verlässt, aber doch in andere Gefilde hinüberführt. Über die anfängliche Verzweiflung hat sich eine zaghafte Hoffnung gelegt, schon rein musikalisch. Die jedoch schnell wieder verebbt, denn schon bald kehrt das Lied zurück zum Graudüsteren und der immergleichen Bewegung. Und im Text spiegelt sich das, was wir in der Musik schon hören, wieder. Darin steckt die Idee, dass die Toten nicht gestorben sind, solange wir an sie denken können, dass sie irgendwie doch bei uns bleiben. Darum geht es in dem Lied und in diese Richtung entwickelt sich auch der Text, allerdings erst später. Da heißt es dann: Niemand ist jemals ganz weg, wenn du in ihrem Herzen und ihrem Verstand weiterlebst.
Der Song "Estonia" befindet sich auf dem Album "Strange Engine", auf dem die Schiffahrt allgemein eine größere Rolle spielt (alle Fotos: Thomas Achenbach). |
Ein Schiffswrack voller ungelöster Rätsel
Der Untergang des Schiffes MS Estonia gilt nicht nur als die größte europäische Schiffskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg, sie bleibt auch der Gegenstand allerlei ungelöster Rätsel und Unklarheiten. Alleine das macht es für die Hinterbliebenen schwer, die Unaushaltbarkeit des Geschehens ertragen zu können. 989 Menschen waren an Bord des Schiffs, als es in der Nacht vom 27. auf den 28. September 1994 auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm war. Kurz nach Mitternacht bekam die Fähre Schlagseite, kenterte binnen weniger Minuten und versank in der Ostsee. 852 Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen beim Untergang ums Leben. Nur 137 Menschen überlebten. Zwar gab es später eine offizielle Erklärung, was zum Untergang geführt haben sollte: die Theorie des defekten Bugvisiers. Doch daran wollen viele nicht glauben. Und es gibt tatsächlich viele Merkwürdigkeiten, wie noch vor kurzem im Jahr 2020 neue Filmaufnahmen eines Tauchroboters zeigten, die verbotenerweise durchgeführt worden waren. Denn in dem Gebiet rund um das Schiffswrack gilt eigentlich ein Tauchverbot, die Zone rund um das Wrack ist Sperrgebiet, das Wrack hatte ursprünglich mit Beton zugegossen werden sollen - bloß warum?
Ich selbst hatte 2004, zum zehnten Jahrestag der Schiffskatastrophe, als ich seinerzeit als Volontär in der Politik-/Weltspiegel-Redaktion noch journalistisch aktiv gewesen war, eine umfangreiche Recherche zum Thema Estonia durchgeführt und einen Artikel darüber verfasst (er lässt sich aktuell noch unter diesem Link finden). Aber wie eine englische Rockband dazu kam, im Jahre 1997, also drei Jahre nach der Katastrophe einen Song darüber zu verfassen, ist ebenfalls eine bemerkenswerte Geschichte. Der Marillion-Sänger Steve Hogarth berichtet in der 2020 veröffentlichten Podcast-Serie "The Corona Dairies" über sein zufälliges Zusammenkommen mit einem Überlebenden des Untergangs, dem Landschaftsarchitekten Steve Barney.
Ein Überlebender berichtet von der Horrornacht
Nachdem Steve Hogarth zu Promotionzwecken für das Marillion-Album "Afraid Of Sunlight" in Stockholm unterwegs gewesen war, ging es mit dem Flugzeug nach Hause in Richtung London. An Bord kam der Sänger mit einem nicht unweit von ihm sitzenden Mann ins Gespräch, ebenfalls Engländer, eigentlich ein Landschaftsgärtner - und, wie sich herausstellte, einer der 137 Überlebenden des Schiffsunglücks. Wie dieser Mann die Katastrophennacht und all ihre Tragik schilderte, habe ihn tief bewegt, berichtet Hogarth. Horrorgeschichten von Menschen, die über Bord gespült werden, von einer von haushohen Wellen umgeworfenen Rettungsinsel nach der vermeintlichen Erlösung durch das Hineinkrabbeln aus dem sturmbewegten Meer. Paul Barney überzeugt die Band, bei einem Benefizkonzert zugunsten der Überlebenden aufzutreten, weil viele der Opfer bei dem Schiffsunglück auch die Familienversorger verloren haben. Man vereinbart sich auf einen Termin - und in der Zwischenzeit verarbeitet Steve Hogarth zusammen mit den anderen Bandmitgliedern das von ihm Gehörte in diesem Song.
Marillion-Sänger Steve Hogarth ist auf der CD daselbst ganz oben abgebildet. |
"Estonia" ist ein vertonter Meerestod mit einem über das Diesseits hinausweisenden Ausbruch im Refrain. Bemerkenswert ist allerdings das Ende des Songs: Denn das kehrt ganz sachte zurück zum Immergleichen, zu der fast im Stillstand verharrenden Bewegung vom Beginn. Also: Zu der leisen Verzweiflung, mit der alles begonnen hat. Dann wird es langsam ausgeblendet. Wie im Progressive Rock üblich, für den Marillion schon seit ihren größten Erfolgen in den 80ern maßgeblich steht (oder um ganz genau zu sein, für die Auskenner unter uns: Im Neo Prog), hat das Lied mit seinen knapp acht Minuten eine Laufzeit von deutlich mehr als der im Radio erlaubten Maximallänge und durchlebt verschiedene Stadien, wie die meisten dieser als "Long Ones" bezeichneten langen Tracks dieser Band. Das ist übrigens mit einer der Gründe, warum ich mich durchaus als ein Fan dieser Band bezeichnen würden - und ich habe Marillion sogar schon mal live sehen dürfen, wenn auch an einem eher merkwürdigen Ort für ein Rockkonzert.
Trauer, Stillstand - und trotzdem positive Energie
Dass die Toten irgendwie weiterleben, ob ins uns selbst oder woanders, könne er sich gut vorstellen, sagt Hogarth im Corona-Podcast. Manchmal stelle er sich vor, wie seine eigenen Eltern kichernd in irgendeiner Form von Jenseits säßen und das Weltgeschehen weiter beobachten. Das habe dann etwas Tröstendes - It's a beautiful thought", sagt er. Es ist ein wunderschöner Gedanke. Auf jeden Fall ist es ein wunderschöner Song. Wieviel positive Energie in dem an sich so melancholischen Material steckt, schält ein von zwei DJs angefertigter Remix heraus - der "Positive Light"-Remix aus dem Album "Tales From The Engine Room" ist mehr Dancefloor-Ambient als Rocksong und betont die transzendentale Energie des Stücks.
Mehr zum Thema MS Estonia (externe Links):
- 25 Jahre nach dem Untergang: Der Marillion-Ambient-Remix mit Original-Videoaufnahmen aus dem Schiff als Videoclip über diesen Youtubelink
- Neue verbotene Videoaufnahmen sollen beweisen, dass es doch ein Loch in der Schiffshülle gegeben haben soll (ntv berichtet)
- Die Estonia - ein Schiffswrack voller Fragen, mein kompletter Text aus dem Jahr 2004 findet sich unter diesem Link
Die besten Songs & Alben über Trauer und Tod - die ganze Serie:
- Folge 1 - Auftakt der Serie über Trauer und Musik mit Mumford & Sons, Genesis, Eric Clapton - hier klicken
- Folge 2 - Auf dem Rücksitz, mitten in der Trauer, was die kanadischen Indierocker von Arcade Fire alles richtig machen - hier klicken
- Folge 3 - Steven Wilson und die Geschichte des alten Manns, der in einem Raben die gestorbene Schwester entdeckt
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Über diese Serie: Musik ist meine größte Leidenschaft. Die Trauerbegleitung ist eine meiner Professionen und eine meiner Tätigkeiten. Beide Themen zu vermischen, das habe ich schon lange vorgehabt. Jetzt ist eine gute Zeit dafür. Denn in den vergangenen Jahren habe ich emsig gesammelt: Ganz viel Musik über Trauer und Schmerz. Songs, Alben, Orchesterwerke; dazu ganz viele Geschichten, die sich in diesen Tönen und Texten verstecken. Seine eigene Trauer über Musik kreativ auszudrücken, das hat für Komponisten Tradition - überwiegend für männliche Komponisten, übrigens, aber dazu ein andermal mehr. Manchmal führt ein einziger Tod sogar zu mehreren Songs darüber.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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