Osnabrück – Wie lange darf Trauer denn dauern? Hat dieses Leiden nicht auch mal ein Ende? Oder wird es wengstens irgendwann milder? Solche Fragen stehen oft im Raum, wenn sich Menschen mit Gefühlen konfrontiert sehen, die sie noch nie gehabt haben und die überraschend hartnäckig sein können. Für die Trauerbeilage der Neuen Osnabrücker Zeitung durfte ich jetzt zwei exklusive Artikel schreiben, deren ungekürzte Originalfassungen ich nun auch auf meinen Blog anbieten darf. Hier ist die erste davon.
Es gibt in unserer Gesellschaft diese große
Lücke, die kaum jemand als eine solche erkennt. Ich nenne sie die Verständnislücke. In meinen Vorträgen male ich sie auf Flipcharts auf. Mit ganz viel Rot. Man könnte auch das Bild eines Grabens bemühen: Auf der einen Seite stehen Menschen, die jemanden verloren haben, meistens durch den Tod.
Auf der anderen Seite stehen Menschen, die diese Erfahrung noch nicht haben
machen müssen. Und je länger - nach einem Todesfall - die Zeit
voranschreitet, desto größer wird das Unverständnis zwischen diesen beiden
Fraktionen. Das ist menschlich. Das ist nachvollziehbar. Es ist für die
Betroffenen dennoch schmerzvoll - zusätzlich schmerzvoll.
(Alle Fotos: Thomas Achenbach) |
„Jetzt ist es aber langsam mal gut“ oder „Ihr hattet doch eine so schöne Zeit“ oder auch „Werd‘ mal langsam wieder normal“ bekommen diese Menschen auf der einen Seite oft zu hören. Gut gemeinte Ratschläge, die genausogut Schläge in die Magengrube sein könnten. Das verunsichert und gibt den Menschen das Gefühl nicht ganz normal zu sein – mit einer Trauer, die scheinbar viel zu heftig ausgewuchert zu sein scheint, weil sie sich kaum verändert. Dass sie so lange jedenfalls nicht dauern sollte, ist auf der gegenüberliegenden Seite des Grabens oft allgemeiner Tenor. Manchmal schon nach sechs Monaten. Meistens nach einem Jahr. Spätestens.
Manche fragen sich: Ist das noch normal?
Bei den Menschen mit den Verlusterfahrungen kann sich so rasch ein Gefühl des Unverstandenseins breitmachen. Kommen sie dann in eine Trauerbegleitung oder zu einem Trauerseminar, dann geht es unter anderem darum, die Verunsicherung aufzufangen. „Bin ich eigentlich noch normal, wenn ich so lange um jemanden trauere?“ - eine oft besprochene Frage in einem solchen Setting. Genauso wie die Frage: Wie lange darf Trauer denn überhaupt dauern, wird Trauer nicht irgendwann ungesund, wenn sie überhandnimmt, führt sie nicht zwangsläufig in eine Depression?
Meine beiden Artikel aus dem aktuellen Trauerratgeber der Neuen OZ. |
"Eines habe ich bei ihrem Vortrag begriffen: Ich bin ein Lehrling im ersten Lehrjahr, was meine eigene Trauer angeht". So formulierte es einer der Zuhörer, die mich bei einem meiner ersten Präsenzvorträge nach den pandemischen Lockdowns erlebte. Eine weise gewählte Formulierung. Denn die Lehrlingszeit in Deutschland dauert in der Regel mehrere Jahre. Wenigstens drei. Je nach Zusatzqualifizierungen auch mal mehr. Das auszuhalten, eine solche Zeit, das ist eine der Aufgaben, vor die uns die Trauer stellen kann.
Es geht um Erlaubnis: Ja, Du darfst so sein!
Zu den Aufgaben eines Trauerbegleiters kann es manchmal gehören, den Menschen allerlei Erlaubnisse zu geben, die sich selbst nicht zu geben trauen. Zum Beispiel die Erlaubnis, dass sie genauso sein dürfen, wie sie jetzt gerade eben sind – innerlich zerbrochen oder zerrissen, hin- und hergewühlt, verunsichert, mal wütend, mal ohnmächtig, mal laut, mal leise, mal voller Tränen, mal eben nicht (und dann vielleicht verzweifelt, weil die Tränen ausbleiben, oder vielleicht auch erleichtert, weil das so ist - Trauer ist oft voller Ambivalenzen).
Oder auch die Erlaubnis, Dinge zu tun, von denen sich kein Mensch vorher jemals hätte vorstellen können, dass er so etwas vermeintlich Verrücktes einmal tun würde: Mit den toten Menschen zu reden; sich ihre Kleidung anzuziehen; mit einem Picknickkorb ans Grab zu gehen um den Tag dort zu verbringen… Alles gesund? Na klar! Wer das Gefühl hat, dass es ihm damit einen kurzen Moment lang besser geht, der ist doch schon weit gekommen, oder?
Na also.
So etwas kann es geben. Oder auch nicht. Jede Trauer ist anders, zeigt sich anders, geht mal tiefer, mal weniger tief, jede Trauer ist ein hochindividueller Prozess. Nur eine Sache ist immer gleich: Das erste Jahr nach dem Todesfall spielt eine wichtige Rolle. Denn dieses erste Jahr ist vollgestopft von „Ersten Malen“, für die es keine Erfahrungswerte gibt: Das erste Mal Todestag, was tun? Das erste Mal Geburtstag des gestorbenen Menschen, was tun? Das erste Mal Ostern, Weihnachten, Namenstag, was auch immer. Jeder dieser Tage bringt beides mit sich: Eine große Überforderung - aber auch eine Chance zur Gestaltung.
Es gibt diese große Lücke, die Verständnislücke. In meinen Vorträgen male ich sie auf, mit ganz viel Rot - so wie hier bei einem Vortrag in Oldenburg (Forum St. Peter/Screenshot:Achenbach). |
Ist dieser Zyklus einmal durchlaufen, sind die Betroffenen um viele Erfahrungen reicher. Was den Schmerz aber nicht mindern muss, der bleibt oft. Noch ein Jahr. Und noch eins, vielleicht… Und, und, und… Und genau an dieser Stelle beginnt oft das Missverstehen. "Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an mein gestorbenes Kind denke", sagt eine Mutter, die vor mehr als 20 Jahren ihre kleine Tochter bei einem Unfall verloren hat. Und einer der Männer, die ich in meinem Buch "Männer trauern anders" mit ihrer Trauergeschichte zitiere, sagt: "Die Wunde mag über die Jahre vernarbt sein, aber die Narbe ist noch immer da - manchmal bricht sie auf." Beide sind sie keine Ausnahmen.
Ein Mythos: Wer zu lange trauer, wird depressiv
Fakt ist: Trauer darf so lange dauern, wie sie eben
dauert. Auch dafür gibt es jederzeit Erlaubnis. Dass sie zwangsläufig in eine
Depression führt, wenn sie nicht von alleine weggeht, ist ein Mythos, der sich
hartnäckig hält, obwohl er schon oft als nicht korrekt benannt worden ist durch
Wissenschaft und Experten. Denn eine Depression, eine klinische jedenfalls, ist
wie eine innerliche Nullinie, ohne irgendeinen Impuls. Der totale Stillstand im Inneren, kein Antrieb für gar nichts, nicht mal dazu, das Bett zu verlassen. Ja, Trauer kann manchmal so sein, einen Tag lang
oder länger, aber dann ist da auch wieder viel Aufruhr und Verzweiflung und
jede Menge Gefühl. Also gerade keine Nulllinie.
Ja, auch das. Auch wenn es schmerzvoll ist – oder vielleicht: gerade weil es schmerzvoll ist: solange die Trauer einen nicht über mehrere Jahre innerlich komplett lähmt, ist sie ein ganz normaler, vollkommen gesunder Prozess. Und auf keinen Fall eine Krankheit. Man kann sich das vorstellen wie ein physikalisches Gesetz. Die Kraft, die es vorher schon gegeben hat – Liebe, meistens – ist immer noch vorhanden, in der gleichen Intensität wie immer, wenigstens. Nur ihr Zustand hat sich verändert. Vom Plus- in den Minuspol. Aber kraftvoll genug, um lange weiterzuwirken. Und länger. Und länger. Alles normal. Die Gesetze des Lebens, eben.
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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