Wenn sich ein Mensch das Leben genommen hat, hinterlässt er meistens ein ganzes System aus Ratlosigkeit und Verzweiflung. Da gibt es die Familie, die Freunde, die Kollegen. Je enger man mit dem Gestorbenen war, je näher man sich war, desto tiefgehender können die inneren Prozesse sein, die sich jetzt in die Seelen dieser Menschen bohren. Was da alles in einem hochkochen kann, dafür fehlt es meistens an Erfahrungen. Also tut man in seiner Ratlosigkeit oft das, was am naheliegendsten zu sein scheint: Zum Beispiel versucht man sich zu verbieten, was einen am meisten erschreckt (Wut, Aggression). Oder man suhlt sich in dem, was alles mit Sch... beginnt (Schuld, Scham). Aber wie soll es gehen - das Umgehen mit dem Suizid eines anderen? Hier sind ein paar Hinweise dazu. Und ein paar, sagen wir, Erlaubnisse. Wie zum Beispiel dieses: Du hast jedes Recht auf Dein Entsetzen, wie hartnäckig es auch sein mag!
Ende Juli stellen die Vögel langsam ihren Gesang ein. Das ist normal: Es ist Hochsommer, ihre Frühjahrskraft ist erschöpft, der Nachwuchs ist aus dem Nest, sie müssen sich für andere Aufgaben vorbereiten. Der Hochsommer ist aber auch noch etwas anderes: Es ist die Hochphase für Suizide. Zwar hält sich hartnäckig die Annahme, dass sich vor allem in den dunklen Monaten die Menschen das Leben nehmen wollen, aber die Statistiken sprechen eine andere Sprache (wie unter anderem die Zeitung "Die Welt" berichtete).
Irreal. Abgekapselt. In einer Blase außerhalb der Welt. So beschreiben viele Hinterbliebene ihren emotionalen Zustand nach einem Suizid (alle Fotos: Thomas Achenbach). |
Kein Wunder also, dass der Sänger Chester Bennington von der Rockband Linkin Park einen Tag im Hochsommer, nämlich den 20. Juli, als Datum für seinen Suizid wählte (was übrigens mein Geburtstag ist, mehr dazu in einem anderen Blogbeitrag zum Thema Suizid und was wir präventiv tun könnten, siehe hier). Er ist nicht der einzige aus der Welt der Rockmusik, der Jahreskalender ist voll von ihren Suiziden: Keith Emerson von Emerson Lake and Palmer wählte den März als Todestag, Kurt Cobain von Nirvana erschoss sich im April, Chris Cornell von Soundgarden nahm sich Mitte Mai das Leben, und, und, und... (ACHTUNG: Wenn Du Dich selbst gerade einsam fühlst und vielleicht daran denkst, Dir etwas anzutun und diese Gedanken nicht loswirst, dann hier ein wichtiger Hinweis: Es gibt Menschen, die mit Dir darüber sprechen können, die extra dafür qualifiziert sind – Du kannst sie jederzeit anrufen oder anmailen: z.B. bei der Telefonseelsorge unter 0800/1110111 - oder online als Chat oder E-Mail-Beratung über die Online-Telefonseelsorge).
Es geht so vielen anderen ganz genauso
Warum ausgerechnet ich mich jetzt berufen fühle, Dir etwas zum Thema Suizid zu erzählen, Dir sogar "Erlaubnisse" zu geben? Weil ich in meiner Tätigkeit als Trauerbegleiter vor allem mit dem Thema Suizid zu tun hatte. Weil der Suizid sehr, sehr häufig vorkommt. Und weil ich auch schon mit den "Angehörigen um Suizid" habe zusammenarbeiten dürfen (ebenfalls passend zum Thema: "In meinem Mann muss es unvorstellbar dunkel gewesen sein", eine junge Frau berichtet in meinem Podcast vom Suizid ihres Mannes)....
Die Statistiken sprechen eine klare Spiele
Werfen wir einen Blick auf die Statistiken, ist der Suizid ein total alltägliches Thema. Alle 53 Minuten nimmt sich in Deutschland ein Mensch das Leben - das sind also rund 27 Tote pro Tag. Experten gehen davon aus, dass sich in Deutschland alle fünf Minuten jemand das Leben zu nehmen versucht (viele weitere Zahlen zum Thema Suizid findest Du in einem anderen Artikel auf diesem Blog). Und doch ist die Scham bei den Hinterbliebenen so groß, dass sie sich oft kaum über dieses Thema zu sprechen trauen. Was schade ist, denn es geht so vielen anderen ganz genau so! So vielen anderen! Und wir würden davon viel mehr erfahren, wenn die Menschen einfach drüber reden könnten. Deswegen ist es mir so wichtig, diese sieben Punkte aufzulisten. Sieben Impulse, die Dir vielleicht ein kleines bisschen dabei helfen zu verstehen, was jetzt gerade alles mit Dir (und in Dir) geschehen kann (aber nicht muss) - oder noch geschehen kann.
Hier sind sie:
1. Es ist normal, wenn Du (heftige) Schuldgefühle entwickelst - das geht fast allen so. In meinen Trauergruppen und in der Zusammenarbeit mit AGUS-Gruppen (den "Angehörigen um Suizid") habe ich immer wieder erlebt, dass massive Schuldgefühle eines der größten Themen sein können, mit denen sich die Betroffenen herumplagen. Nach dem Motto: Ich hätte doch etwas tun können. Ich hätte es doch verhindern müssen. All solche und andere Gedanken können so quälend werden, dass sie - wie die ganze Situation an sich - unhaushaltbar werden. Mir ist dann immer wichtig zu vermitteln, dass diese Schuldgefühle meiner Meinung nach eine ganz andere Rolle spielen. Dass es aber genauso wichtig ist, sie nicht einfach so lapidar beiseite zu wischen: In Wahrheit geht es, davon bin ich überzeugt, dabei um Ohnmacht. Wer sich der Idee hingibt, er habe ja noch etwas tun können, muss sich nicht eingestehen, wie hilflos und ohnmächtig er in Wahrheit (gewesen) ist. Wohlgemerkt: Sich schuldig zu fühlen, ist noch etwas kolossal anderes, als tatsächlich an etwas schuld zu sein. Und eine tatsächliche Schuld festzustellen ist eine Aufgabe, die selbst von einem professionellen Gericht nicht so rasch gelöst werden kann, sonst würden die Prozesse alle nicht so lange dauern. Vor allem aber erfüllen Schuldgefühle, so heftig sie auch sein mögen, in Wahrheit die oben bereits genannte Funktion. Das fühlt sich zwar immer noch, ich bitte um Entschuldigung, richtig kacke an - aber eben nicht ganz so lähmend wie eine reine Ohnmacht (die es auch geben kann). Deswegen kommen die Schuldgefühle auch meistens im Konjunktiv daher: "Ich hätte dies und jenes tun können, ich hätte doch noch diese oder jenes probieren sollen, warum habe ich nicht", und so weiter und so weiter. Wenn Deine Schuldgefühle eine überbordende Macht annehmen, unter der Du viele Monate leidest, kann das immer noch normal sein, aber es kann dann eine gute Idee sein, sich professionelle Hilfe zu holen, zum Beispiel bei Trauerbegleitern.
Das Gefühl, dass alles in Trümmern liegt, das ganze Leben. |
2. Du darfst den gestorbenen Menschen anklagen und beschimpfen, Du musst kein schlechtes Gewissen haben deswegen. Gleichermaßen gilt aber auch: Du darfst eine unstillbare Sehnsucht nach dem gestorbenen Menschen haben. Manchmal hast Du vielleicht sogar beides gleichzeitig. Das geht. Aber wenn es die Wut ist, die gerade überhand nimmt, dann musst Du Dir diese Wut nicht verbieten. Was ein Mensch, der sich das Leben nimmt, anderen Menschen damit antut (plus die vielen anderen Dinge, mit denen dieser Mensch Dich jetzt alleinelässt, Kinder vielleicht, oder Schulden, oder Geheimnisse), ist meistens überfordernd viel. Du hast jedes Recht auf Deine Wut. Wieso auch nicht? Und auf Deine Sehnsucht. Und überhaupt auf alles, was jetzt gerade auf Dich einstürmen mag. Dass Du eine enorme Wut auf diesen Menschen entwickeln kannst, heißt nicht etwa, dass sich deine Zuneigung zu ihm verändern würde, die bleibt genauso unangetastet, wie sie vorher gewesen ist (oder wird sogar noch stärker), es kommen jetzt nur weitere und neue Gefühle zu diesem merkwürdigen Mix dazu. Das gilt es einfach zu akzeptieren und auszuhalten. Oder auch: das auszuleben. Ich kenne Menschen, die sich neben ihr Bett einen Tennisschläger gelegt haben. Damit sie immer dann, wenn die Wut kommt, auf das Bett einprügeln können. Das finde ich eine gute Strategie. Manchen hilft es auch, wenn sie einen Brief an den gestorbenen Menschen schreiben und darin alles rauslassen, was sie gerade fühlen. Diesen Brief kannst Du, wenn Du magst, nachher verbrennen oder vergraben oder an einem versteckten Ort aufbewahren. Und was nach der Wut meistens folgt - auch ganz normal -, ist der Wutkater. Wie bei Alkohol: Wer den Rausch einmal zugelassen hat, im Fall von Alkohol bitte als eine seltene Ausnahme, wird später unter seinen Folgen leiden. Kann trotzdem gut tun.
3. Du darfst Dich selbst als emotional taub erleben. Du hast jedes Recht auf diese Taubheit. Oder auf die Angst davor, jetzt selbst depressiv zu werden. Deine Taubheit kann eine sinnvolle Reaktion sein auf dieses viel zu große Andere, das jetzt auf Dich einstürmt. Im Schockzustand, den eine solche Situation auslösen kann, werden Dein Körper und Deine Seele irgendwie für sich selbst sorgen. Und beide, im Zusammenspiel, haben ein gutes inneres Sensorium dafür, was sie an Dich heranlassen können und was nicht. Es kann sein, dass diese gewaltige Überforderung nur in homöopathischen Dosen zu Dir durchdringt. Das ist in Ordnung so. Das darf so sein. Zu diesen Gefühlen der Taubheit können sich noch allerlei andere, sagen wir, Symptome dazugesellen: Alpträume, Ängste, unwirkliche oder bedrohliche Gedanken. Außerdem können sich körperliche Begleiterscheinungen zeigen: Schüttelfrost oder Kältegefühl, Apettitlosigkeit, das Gefühl von einer auch körperlichen Erstarrung. So geht es vielen anderen auch. In ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Das kann alles dazugehören, muss es nicht. Kann überraschend lange dauern, kann nach kurzer Zeit vorbei sein. Nicht selten ist es so, dass ein Mensch, der in einer so mächtigen Dunkelheit gelebt haben muss wie jemand, der sich das Leben nehmen möchte, auch sein Umfeld in eine jeweils eigene Form der Dunkelheit hineinschickt, zumindest für einen gewissen Zeitraum. Achte gut auf Dich und auf das, was in Deinem Inneren geschieht und such Dir ohne Hemmungen Hilfe, sobald Du das Gefühl hast, es könnte zu dunkel werden in Deinem Inneren (dann hilft Dir ebenfalls die Telefonseelsorge, wie oben schon beschrieben - 0800/1110111).
4. Du darfst die Welt nicht mehr verstehen. Unwirklich - das ist ein Wort, das im Kontext von Suizid oft fällt. Alles kommt einem unwirklich vor, nicht real, wie ein böser Traum. Es ist manchmal so, als hätte sich eine große, undurchdringliche Glocke über einen gestülpt und jegliches andere Leben ausgeschlossen. In dieser Glockenwelt zu leben ist so, als ob einen die andere Welt da draußen gar nicht mehr erreicht. Parallel dazu kann es sein, dass die Fragen im Kopf zu rotieren beginnen - und dass dieses Rotieren gar nicht mehr aufhören mag. Der Trauerforscher William Worden hat als eine der größten Aufgaben, vor die uns die Trauer stellt, das "Begreifen" definiert. Aber wie soll man begreifen können (aushalten können), was doch so unbegreiflich ist (unhaushaltbar ist)? Wer soll denn da noch die Welt verstehen können? Es ist okay, wenn Du Dich so fühlst. Vielleicht findest Du einen Ort, wo Du es in Worte fassen kannst, es aussprechen kannst oder es aufschreiben kannst. Das könnte ein guter erster Schritt sein, wenn es ginge. Vieles aufschreiben oder ein Tagebuch führen, das ist auch in anderer Hinsicht eine gute Idee: Denn auch Gedächtnislücken, Erinnerungsausfälle und ein Verlust des Kurzzeitgedächtnisses können zu diesem Prozess dazugehören.
5. Du darfst selbst jetzt nicht mehr weiter wissen. Wie solltest Du denn Antworten haben, wo Dein ganzes Leben aus tausend neuer Fragen besteht? Es ist okay und ganz normal, wenn Dein Leben erstmal im Krisenmodus bleibt. Und wenn dieser Modus eine lange Zeit in Anspruch nimmt. Dein Leben darf jetzt Chaos sein und sich verrückt anfühlen, tatsächlich ist ja genau das geschehen: Alles, was einmal gewesen ist, hat sich verschoben, es ist ver-rückt. Versuche gnädig mit Dir selbst zu sein und Dir Zeit zu geben. Was manche Menschen als hilfreich empfinden, ist, ein Skalen-Tagebuch zu führen, in dem Du Tag für Tag festhalten und beobachten kannst: Wie schlimm ist der innere Schmerz heute auf einer Skala von 1 bis 10, wie schlimm ist meine innere Verwirrung auf einer Skala von 1 bis 10, wie schlimm ist meine innere Taubheit heute auf einer Skala von 1 bis 10, und so weiter. Achte auf die feinen Nuancen und die homöopathischen Veränderungen. Jede kleine Veränderung kann ein wichtiges Immerhin sein für Deinen weiteren Weg. Worauf Du Dich aber einstellen solltest: Dass jede Veränderung zum Guten sich auch wieder ins Schlechte verwandeln kann, rasch und unerwartet. Dieses Auf und Ab, diese Wellenbewegung, ist ganz typisch für einen Trauerprozess.
6. Du darfst jetzt alles sein, was auf -los endet: Fassungslos, ratlos, machtlos, orientierungslos, antriebslos, mutlos, haltlos, lustlos, ruhelos, hoffnungslos, kopflos, bodenlos, und sogar rücksichtslos, sogar das. Nur nicht wertlos, auch wenn Du Dir manchmal so vorkommst. Das ist das Gemeine daran, wenn sich ein Mensch das Leben genommen hat: Dass es einem selbst so sehr jedes Selbstvertrauen nehmen kann. Was dann hilfreich sein kann: Sich mit anderen darüber austauschen, beispielsweise bei den Angehörigen um Suizid, die Selbsthilfegruppen betreiben. Erfahren zu dürfen, dass es anderen immerhin genauso geht (und das tut es!), kann gut tun.
7. Du darfst Dich einsam und verlassen fühlen - das geht fast allen so. Wohlgemerkt: Sich verlassen zu fühlen, ist noch etwas kolossal anderes, als tatsächlich verlassen zu sein. Du hast jedes Recht auf dieses Gefühl von Verlassensein. Aber vielleicht gelingt es Dir ja, sich innerhalb einer Gruppe - quasi gemeinsam - einsam zu fühlen, wenn Du eine passende Trauergruppen finden kannst. Deinen Freunden und Deinen Bekannten darfst Du gerne spiegeln, wie gut es Dir tun würde, immer wieder über das Erlebte zu reden (wenn Du das möchtest) und dass sie niemals eine Scheu davor haben sollten, es anzusprechen. Die meisten Menschen sind ängstlich, weil sie glauben, sie könnten damit neue Schmerzen auslösen - mach' Ihnen klar, dass das nicht so ist, wenn Du das Bedürfnis hast, über Dein Erleben zu sprechen.
Was Dir ebenfalls alles geschehen kann, wenn sich ein Mensch das Leben genommen hat: Dass Du Dich als Versager/in in allen Lebensbelangen fühlst. Dass Du alles, was vorher gewesen ist, in Frage stellst. Dass Du das Gefühl hast, alles nicht richtig verstanden zu haben. Dass Du manchmal vielleicht regelrecht besessen bist von der Idee, nach Zeichen zu suchen, die schon vorher auf dieses kommende Ereignis hätten hindeuten können. Dass Du Dich mit allen Fragen quälst, die mit einem W beginnen: Warum gerade ich, warum gerade so, was ist der Sinn dahinter? Und noch vieles mehr. Und genau deswegen, nochmal, das ist mir ganz wichtig: Du bist mit all diesen Symptomen nicht alleine. Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland bis zu 10 000 Menschen das Leben. Zehntausend. Jedes Jahr. Rechnen wir für jeden toten Menschen drei Angehörige und einen guten Freund dazu, mal ganz vorsichtig geschätzt, macht das 400 000 Betroffene jedes Jahr. Das ist eine fette Großstadt voller Betroffene, jedes Jahr aufs Neue.
Ein weiterer ganz wichtiger Aspekt kommt dazu, wenn Du noch Familie hast (Kinder, vor allem): Du kannst - phasenweise oder langfristig - so sehr mit Dir selbst beschäftigt sein, dass Du die Trauer der Anderen nicht selbst mit auffangen kannst. Wer keine eigenen Ressourcen mehr hat, kann für andere Menschen keine Ressourcen aufbauen. Dann ist es Zeit, sich Hilfe ins Familiensystem zu holen, und jede Hilfe sollte dann bei Dir selbst beginnen.
Jede Trauer macht einsam - man kann zusammen einsam sein
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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