Donnerstag, 16. November 2023

Wo die Zukunft des Friedhofs jetzt schon greifbar wird und das Schicksal mit steinharter Hand alle zu Boden wirft - Der größte Parkfriedhof der Welt als Zukunftslabor und Brücke in die Vergangenheit - Ein Herbstspaziergang über den Ohlsdorfer Friedhof mitten in Hamburg

(Alle Fotos: Thomas Achenbach)

Hamburg - Sie schleift sie mit sich, durch den Dreck, über den Boden, auch wenn sie sich sträuben. Qualverzerrt sind die Gesichter der zwei Menschen dort unten, die ihrem steinharten Griff ausgeliefert sind. Die weiße Dame mit dem verhärteten Gesicht kennt keine Gnade: Sie ist das Schicksal. Ihre nächsten Schläge hat sie bereits geplant. Ihre nächsten Opfer zieht sie darauf zu. Die Skulptur "Das Schicksal" des Künstlers Hugo Lederer steht auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg - und ist eine von vielen eindrucksvollen Stationen an diesem Novembermorgen, an dem ich mir einige Stunden Zeit nehme, um diesen größten Parkfriedhof der Welt richtig kennenzulernen. Stunden? Es hätten Tage sein sollen. Zumal hier an verschiedenen Stellen der Friedhof bereits der Zukunft ausprobiert wird.

So gibt es zum Beispiel die "Trauerhaltestelle", eine Art offene kleine Halle, die aus zwei ineinandergreifenden Betonwänden besteht und teils überdacht ist. In ihrem Inneren finden sich unter anderem kleine Sitzhocker aus Holz, von denen aus sich die an der Wand angebrachten Regale sowie die bemalten Wände ansehen lassen. Bemalt wurden die nicht etwa von Profis, sondern von Friedhofsgästen - im Inneren der Trauerhalle liegt Kreide aus, mit der Menschen ihre Botschaften auf die Wände aufbringen können. Ganz bewusst mit Kreide, weil auch diese kleinen Nachrichten oder Bilder nicht auf eine ewige Haltbarkeit angelegt sind. Neue Gäste werden neue Botschaften anbringen, werden ihre Trauer mitbringen, ihre Zeichen hinterlassen.


Die Trauerhalle von außen - der Baum im Innern liefert im Sommer bestimmt ein schönes Bild. 

An den Wänden ein wohltuendes Durcheinander als Kontrast zum aufgeräumten architektonischen Gesamteindruck. Ausgemalte große Herzen mit Namen darin und der dabei entstehende Kreidestaub am Boden zeugen von Menschen, die ihrer Trauer dementsprechend Ausdruck verliehen haben. Das daneben stehende "Sex..!" von jugendlichen Gästen, die noch nicht allzu viel Erfahrung mit Tod und Trauer zu haben scheinen oder ihre Hilflosigkeit gegenüber diesen Themen auf diese Weise zeigen, was völlig okay ist. Für die Trauerhaltestelle gibt es keine Regeln und keine Empfehlungen, genauso, wie es für die eigene Trauer keine Empfehlungen und Regeln geben sollte. Auf den Regalen im Innern haben Kinder ihre gemalten Bilder abgestellt. Eines zeigt eine riesige Sonnenblume. Darüber steht: "Meine Oma war und ist die Beste".



Die Idee eines solchen öffentlichen Trauerhauses ist ebenso simpel wie unbedingt notwendig: Einen Trauerort zu schaffen, der sich zwar auf einem Friedhof befindet, und dennoch ganz unabhängig davon funktioniert, wo die Toten nun bestattet sind. Gerade in unseren modernen Zeiten wird das immer wichtiger: Wie viele Menschen es wohl alleine in Hamburg wohl gibt, deren gestorbene Angehörige an ganz anderen Orten bestattet sind - weil die Familie gar nicht aus Hamburg stammt, weil man des Berufs wegen hierhergezogen war, während die Eltern im Heimatort blieben (wo sie jetzt liegen) und so weiter und so weiter? Aber wo soll man seine Trauer fühlen können, wenn nicht auf einem Friedhof - und wie soll das gehen, wenn der "eigentliche" Bestattungsfriedhof ganz woanders ist? 




Ein paar Felder stößt der Gast plötzlich einen filigranen Treppenturm, der mitten zwischen den Gräbern steht. Wer ihn hinaufgeht, hat einen schönen Überblick über diesen kleinen Teil des Friedhofs und befindet sich auf der Höhe der Baumkronen - die im November ein reizvolles Farbenspiel abliefern. Ein solcher Perspektivwechsel weckt vielerlei Assoziationsebenen in einem - darunter ist beispielsweise der Gedanke, wie sehr wir Lebenden uns doch oft und ganz unabsichtlich über die Toten erheben, indem wir unsere Lebendigkeit für etwas ganz Selbstverständliches halten. Und mit jedem Schritt die Treppe wieder hinunter auf die Ebene der Gräber wird einem umso bewusster: Das ist es nicht, das ist es nicht, das ist es... nicht.




Der Aussichtsturm gehört zum Projekt „Ohlsdorf 2050“, das den langsamen Wandel des Friedhofs in einen Park unterstreicht – eine Veränderung, wie sie allerorten derzeit stattfindet. Durch den Wegfall klassischer Grabanlagen, durch den Trend zur Urne und zum pflegeleichten Minigrab, durch die womöglich noch kommenden Neuerungen in der Bestattungskultur (deren Vorbote als „Reerdigung“ von sich reden macht) steht auch der Ohlsdorfer Friedhof vor einem großen Wandlungsprozess. Weg von einer reinen Betroffenheitszone, hin zu einem offenen Park, der auch zur Feier des Lebens einlädt ganz außerhalb von Tod und Sterben. Der Treppenturm kündet bereits davon. Gekennzeichnet sind die Projektbausteine für "Ohlsdorf 2050" durch rote Infotafeln, deren offener und quadratischer Aufbau sie wiederum wie Fenster wirken lässt, die allerlei Durchblicke möglich machen.




Aber auch als "klassischer Friedhof" bleibt Ohlsdorf sehenswert. Immer wieder eröffnet der Park wunderschöne Perspektiven, so wie an seinen moorigen Stellen, wo sich beispielsweise ein großer Teich finden lässt. Hierhin zu kommen, mit ganz viel Zeit, das hatte ich schon lange mal vor. Im November 2023 wird es dann endlich Realität: Der Besuch eines Rockkonzerts in Hamburg (= Greta Van Fleet) gibt mir die Möglichkeit, einen halben Tag dranzuhängen. Obwohl ich mir rund dreieinhalb Stunden Zeit nehme und mir keine Pause gönne, schaffe ich nur das nördliche Drittel der gesamten Anlage. Auch die Promigräber, für die es einen eigenen Rundgang gäbe, schenke ich mir (hier liegen u. a. Loki und Helmut Schmid, Roger Cicero, Jan Fedder, Monika Bleibtreu, Inge Meysel oder Heinz Erhardt). Mein Weg führt mich entlang an alten Mausoleen, die sich reiche Familien als ihre eigenen Grab- und Kirchstätten gebaut haben, und an zahlreichen Gräbern von Alt bis Neu. Bis ich vor der Schicksalsgöttin stehe, die mich nachhaltig beeindruckt.



Sich eingefangen und zu Boden geworfen zu fühlen, so ungefähr hat mir fast jeder meiner Gäste seine Trauer beschrieben. Durch den Dreck gezogen in totaler Hilflosigkeit. Auch so kann das sein. Nicht unweit der Skulptur beginnt dann der "Stille Weg", ein kleiner, sich windender Weg, einen Kilometer lang, der als einer der schönsten Durchquerungen des Friedhofs gilt - also jedenfalls seines nördlichen Teils. Entlang seiner Windungen zeigt sich der Park in seiner ganzen Vielfalt: an prachtvollen Grabanlagen... wunderschön. 



Es geht vorbei an prächtigen Grabanlagen, all der botanischen Vielfalt eines vielgestaltigen Waldes, an Christusfiguren und Engeln, teils in stiller Verzweiflung.



Es geht vorbei an kleinen Bächen und Hügeln, durch Waldteile, einmal taucht eine alte Holzbrücke auf, ein romantischer Anblick.


Schließlich endet der Weg am Alten Wasserturm, einem architektonischen Höhepunkt des Ohlsdorfer Friedhofes.



Es gäbe noch so viel zu entdecken, der am Eingang verfügbare kostenlose Faltplan weist auf so viele weitere Höhepunkte hin. Noch gar nicht gefunden habe ich das „Fenster der Erinnerung", das ich in meinem neuen Buch erwähne: eine Art offener Bilderrahmen, der den Blick in die Weite freigibt. Auch dieser Ort ist - wie die bereits gefundene Trauerhaltestelle - besonders für Menschen gedacht, die aus der Ferne um jemanden trauern. In Glasplatten vor einer Muschelkalkmauer kann gegen eine Gebühr der Name des oder der Verstorbenen eingraviert werden. 

Aber Füße und Hüfte tun langsam weh, ein wenig Regen setzt ein und die Abfahrt des Zugs nach Hause rückt näher.

Auf dem Weg zum Ausgang streife ich noch an zwei sehenswerten Punkten vorbei: Der überlebensgroßen Christusfigur nahe des Haupteingangs, malerisch eingerahmt von barock geschnittenen großen Büschen, die eine lange Allee bilden - die Ehrenallee. Eine klassisch schöne Friedhofsanlage, die durch ihre Größe und ihre eindrucksvolle Wucht die beabsichtige Wirkung erzeugt - einen Hauch von Ehrfurcht und Demut.




Und schließlich der Schriftzug "Eingänge sind Übergänge", der die ankommenden Gäste nochmals dafür sensibilisieren möchte, dass sie einen besonderen Ort betreten. Nicht alleine nur den größten Parkfriedhof der Welt, sondern einen Ort in Wandlung. Einen Ort voller Lebendigkeit. Ohlsdorf, ich komme bald wieder.



Denn auch dieser Ausgang ist Übergang.  


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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer" (Patmos-Verlag, Herbst 2023)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag).
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Auf dem Portal der Neuen OZ zu finden: Das ABC der Trauer - wie der Osnabrücker Trauerbegleiter trauernden Menschen Halt geben möchte

Ebenfalls auf diesem Blog: Ein neuer Raum und neue Möglichkeiten - wo ich in Osnabrück jetzt Trauerbegleitung anbieten darf (weiterhin auch als Spaziergang)  

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