Freitag, 8. Mai 2020

Wie die Coronakrise unseren gesellschaftlichen Umgang mit Tod, Trauer und Sterben verändert hat und weiter verändern könnte - Ein Interview aus der Verlagsbeilage "Blick nach vorne" der Neuen Osnabrücker Zeitung vom Freitag, 8. Mai 2020 (hier die ungekürzte Fassung)


Osnabrück - Ich will es ganz ehrlich gestehen: Als mich diese Interviewanfrage erreichte, war das eine wohltuende Abwechslung, über die ich mich sehr gefreut habe. An einem Tag, der mir zwei weitere coronabedingte Absagen von in der nahen Zukunft geplanten Workshops und Vorträgen gebracht hatte, bekam ich eine Mail meines Redakteurskollegen Lothar Hausfelds aus dem Hause NOZ Medien. Die Neue OZ plane eine "Mutmacherbeilage" und ob ich nicht Lust hätte, dafür ein kleines Interview zu geben. Natürlich musste das Original-Interview noch gekürzt und an die in der Beilage zur Verfügung stehende Länge angepasst werden, das gehört dazu. Aber dass ich in Absprache mit der Neuen OZ das ungekürzte Originalinterview hier auf meinem Blog veröffentlichen darf - dafür bin ich sehr dankbar.

Die Beilage ist übrigens in zwei verschiedenen Versionen erschienen - Anfang Mai in der Region Osnabrück unter dem Titel "Blick nach vorne". Und dann am 24. 5. 2020 unter dem Titel "Wir packen das!" in den Emsland-Ausgaben der Tageszeitung für die Regionen Lingen, Meppen und Papenburg. Aber damit jetzt zum Interview von Lothar Hausfeld... 

Neue OZ: Erst einmal vorweg: Wie – und warum – wird man Trauerbegleiter?

Das Warum ist schnell gesagt: Ich war nach vielen Jahren und eigenen Erfahrungen mit Todesfällen – unter anderem der Krebstod meiner Mutter – meine eigene Sprachlosigkeit und die der anderen leid. Ich wollte gerne sprachfähig werden, was die Themen Tod, Trauer und Sterben angeht. Meine Qualifizierung habe ich dann im Haus Ohrbeck absolvieren dürfen. Das hat sich über rund eineinhalb Jahre erstreckt und war ein ungemein wertvoller Prozess. Seither darf ich mich zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des Bundesverbands Trauerbegleitung nennen – ich habe die so genannte Große Basisqualifikation und bin seit einigen Jahren aktiv.

Neue OZ: Wer kann auf Ihre Unterstützung zurückgreifen?

Jeder, der das Bedürfnis hat – ganz egal, wann. Gelegentlich werde ich unmittelbar nach einem Trauerfall angefragt, manchmal erst Monate danach. Manchen reicht ein einzelnes Gespräch oder ein Telefonat als Intervention, andere brauchen ein paar Gespräche mehr. Im Ehrenamt bin ich dazu bei der Trauergruppe für Junge Erwachsene bei Spes Viva aktiv, als einer von zwei Begleitern in der Gruppenleitung. Und ich durfte zwei Bücher schreiben und veröffentlichen.

Neue OZ: Gibt es gewisse Dinge, sozusagen „Standards“, die Sie in jedem Fall einer Trauerbegleitung anwenden, oder ist jeder Trauerfall in Gänze unterschiedlich und individuell zu betrachten?

Tatsächlich ist das immer ein ganz individueller Prozess und bei jedem Menschen anders. Dementsprechend ist auch meine Vorgehensweise immer anders. Zu mir kommen allerdings mehr Männer als Frauen. Und den meisten Männern tut es gut, wenn sie einfach nur reden können. Da arbeite ich so gut wie nie mit Methoden – die kommen bei Frauen dagegen besser an.

Neue OZ: Hat sich Ihre Arbeit als Trauerbegleiter in Zeiten von Corona verändert?

Im Emsland gibt es viel Platz - das gilt auch für die dort erscheinen Zeitungsbeilagen... (Foto: Christiane Adam) 

Ja, massiv. Man kann von Trauerbegleitung leider nicht leben, deswegen mussten diese Aktivitäten in meinem Lebensentwurf immer die Begleitmusik sein. Dafür ist jetzt immer weniger Raum da, nicht bloß organisatorisch, weil meine Frau meinen Raum jetzt braucht für ihr Home Office, sondern auch, weil eine überhaupt nicht ausgelastete Sechsjährige von morgens halb sechs bis abends halb neun durchs ganze Haus wirbelt. Auch das Ehrenamt muss jetzt pausieren. Abends noch Trauergruppen anbieten, das geht derzeit einfach nicht, da ist keine Energie mehr für da. Siehe oben unter „Sechsjährige“ (lacht). Und zwischen März und Mai waren umfangreichere Vortragsreisen geplant, die sind alle ausgefallen. Salzburg, Nürnberg, Oldenburg, Bremen – vielleicht wieder in 2021…

Neue OZ: In vielen Berufen ist es wichtig, dass man nach getaner Arbeit Abstand von dem Erlebten gewinnt. Wie schaffen Sie es, dass Sie in Ihrer Trauerbegleitung die Trauer nicht mit nach Hause nehmen?

Mir hilft enorm, dass ich schon während meiner Qualifizierung eine eigene Haltung entwickeln konnte über all solche und andere Fragen. Wie möchte ich begleiten, was wird mir selbst dabei helfen, wie kann ich anderen ein Halt sein, wie reagiere ich auf Fragen – auch die ganz großen Fragen wie die „Warums“ und solche, all das und mehr. Und natürlich gilt immer der Leitsatz: Wenn es mir selbst zuviel werden sollte, muss ich selbst begleitet sein, um begleiten zu können. Also Supervision und ähnliches.

Neue OZ: Durch die weltweite Corona-Pandemie ist der Tod für viele Menschen deutlich nähergekommen, viele Menschen haben Elternteile, den Partner, Freunde oder Arbeitskollegen verloren. Haben Sie das Gefühl, dass die Corona-Pandemie die Menschen in irgendeiner Weise hinsichtlich des Todes verändert? Haben sie sich vielleicht sogar mehr mit dem Tod beschäftigt?



Darin sehe ich tatsächlich bei aller Tragik auch eine der großen Chancen dieser Krise. Klar, wer seine Angehörigen verloren hat, der steckt jetzt in einem eigenen Trauerprozess, der wieder individuell betrachtet werden müsste. Aber die Frage, was dieses so plötzliche und so viele Sterben mit uns als Gesellschaft macht, darf glaube ich nicht unterschätzt werden. Ich glaube ganz grundsätzlich, dass diese Erinnerung daran, wie zerbrechlich und sterblich wir Menschen doch sind, viel Gutes mit sich bringen kann. Meine Trauerbegleiterkollegin Iris Willecke aus dem Sauerland hat vergangenes Jahr erstmals den „Memento Mori“-Tag für Deutschland eingeführt, einen Tag, an dem wir uns einmal im Jahr ganz bewusst mit unserer Sterblichkeit auseinandersetzen sollten. Fand ich großartig. Ich glaube aber, dieses Jahr brauchen wir den nicht. Wir haben gerade jeden Tag Memento Mori. Solange wir nicht italienische Verhältnisse bekommen, liegen darin auch Chancen für uns.

Neue OZ: Welche denn? Und was würde sich verändern, wenn sich die Krise doch noch verschärfen sollte?

Wenn wir uns unserer Endlichkeit bewusst werden – und vor allem der Tatsache, wie schnell wir aus dem Leben gerissen werden können, übrigens auch ganz ohne das Coronavirus – kann das dazu führen, dass wir bewusster leben. Wir nehmen dann nicht mehr so vieles als selbstverständlich hin. Ist es übrigens auch nicht, es ist in Wahrheit überhaupt nichts selbstverständlich, nicht einmal, dass wir atmen. Das könnte ein Weg sein zu mehr Dankbarkeit und Demut. Und ein Weg raus aus all diesen Wenn-dann-Schleifen.  Also sowas wie: Wenn ich erstmal im Ruhestand bin, dann… Wenn der Impfstoff gegen Covid-19 erstmal gefunden ist, dann… Stattdessen mehr im Jetzt sein können, das kann gut tun. Wenn diese Krise allerdings ins gesamtgesellschaftliche Trauma kippt, wie in Italien geschehen, dann drohen uns auch seelisch gesehen als Gesellschaft wieder Verhältnisse wie nach den Weltkriegen. Das wäre tragisch. Wo wir ja gerade erst begriffen haben: Was eine Gesellschaft an Traumata nicht aufarbeitet, verschiebt sich bis in die Enkelgenerationen.

Neue OZ: In der derzeitigen Situation kommt noch hinzu, dass Beerdigungen nur im engsten Familienkreis stattfinden können, was insbesondere auf dem Land, dort, wo eine Beerdigung ein wichtiges soziales und gesellschaftliches Ereignis ist, den Umgang mit dem Tod noch erschwert. Gab es für Sie zu diesem Thema schon einmal Handlungsbedarf?

Nur theoretisch, weil ich einen Artikel darüber für meinen Blog recherchiert und geschrieben habe. Was mir ehrlich gesagt noch viel mehr Kummer macht als die Beerdigungen, sind die radikalen Veränderung im Kontext des Sterbens. Wenn heute immer mehr Menschen dazu gezwungen sind, ganz einsam und ohne jeden Kontakt zu ihren Angehörigen, Sterbebegleitern oder irgendeinem anderen Menschen sterben zu müssen, ohne eine Hand, die hält, dann ist das eine Katastrophe und eine radikaler Abbruch all der Fortschritte, die Hospiz- und Palliativkultur in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut haben. Und auch für die Angehörigen ist das brutal – nicht da sein zu können, obwohl es ginge. Das wird uns in der Zukunft noch stark beschäftigen, vor allem im Kontext von Therapie und Begleitung.

Neue OZ: Lässt sich dennoch aus Ihrer Erfahrung und Ihrer Arbeit etwas schöpfen, das anderen in der Coronakrise Mut machen könnte?

Die Brücke zwischen Trauer und der Corona-Pandemie ist die Ohnmacht. In beiden Situationen müssen wir uns als Menschen eingestehen, dass wir machtlos sind und einfach nichts tun können. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir noch nicht einmal, ob es jemals wirklich einen Impfstoff geben kann. Sich als Mensch an diesen Punkt zu begeben und sich diese Ohnmacht zuzugestehen, das ist hart, aber darum geht es jetzt. Zu gucken: Wie können wir das aushalten? Wie kann das gehen? Was hilft? Und ich bin überzeugt, dass den Menschen genau das helfen könnte, was ihnen auch in der Trauerbegleitung hilft: Wenn sie ihre Ängste und Sorgen, ihre Verzweiflung und Mutlosigkeit und ihre Erschöpfung ins Wort bringen, wenn sie sie irgendwo besprechen und sie irgendwo lassen können. Nichts anderes tun wir in der Begleitung. 

Neue OZ: Mal Hand aufs Herz – schaffen Sie es selbst, in der Krise gelassen zu bleiben?


(Foto Christof Haverkamp, Osnabrück)

Das schaffe ich durchaus nicht immer. Aber ich finde, das ist auch okay so. Das darf jetzt so sein, das ist einer der Sätze, die ich in einer Begleitung oft benutze. Wir dürfen jetzt Angst haben, Zukunftssorgen, dürfen auch mal schlechte Laune haben, dürfen auch mal pessimistisch sein. Ich glaube, es wäre noch kontraproduktiver, sich das nicht zuzugestehen. Und was ich ganz wichtig finde: Wir dürfen jetzt auch ganz egoistisch sein und gucken, wie kann ich mich selbst als Erstes stabilisieren, um dann wieder besser für meine Familie oder andere um mich herum da sein zu können, auch und gerade in diesem sehr dichten Aufeinanderhocken in Zeiten von Quarantänen und Ausgangssperren. Da können kleine Details schon eine Menge ausmachen. Ich habe von einer Familie gehört, die das mit Noise-Reduction-Kopfhörern probiert hat. Wer den Kopfhörer auf hat, ist in seiner eigenen Zone und alle wissen dann: Jetzt nicht ansprechen. Sowas hilft schon. Und vielleicht ist es ja schon am nächsten Tag wieder besser. In meinem Fall ist es das eigentlich immer, wenn ich mal im Loch gesteckt habe. Was durchaus vorgekommen ist in den vergangenen Wochen. 

Neue OZ: Wenn die Corona-Krise überstanden ist – worauf freuen Sie sich dann am meisten, was vermissen Sie gerade ganz besonders?

Ich hoffe, ich kann einen Teil meiner ausgefallenen Vorträge nachholen, das vermisse ich wirklich sehr - vor allem der gemeinsame Austausch und die Diskussion am Ende eines Vortrags, das ist digital nicht ersetzbar. Ganz persönlich vermisse ich vor alllem Kulturerlebnisse. Theater, allen voran. Aber auch Rockkonzerte. Wenn ich irgendwann mal wieder eine Pink-Floyd-Coverband erleben und aus vollem Hals und so schief wie sonstwas „Wish You Were Here“ mitgröhlen darf – dann ist meine Welt wieder in Ordnung!

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Thomas Achenbach bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de


Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 


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Im Trauer-ist-Leben-Podcast zu finden: Warum eine bayerische Behörde mit einer bislang einmaligen Initiative zum Vorreiter in Sachen Trauerkultur wird - ein Interview

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 


Ebenfalls auf diesem Blog: Warum das Sterben in Deutschland seit Januar 2020 nochmal deutlich teurer geworden ist - Die so genannte Leichenschau steht in der Kritik


Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

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