Mittwoch, 16. Januar 2019

Achtung, Tod, wir kommen Dir jetzt näher - wie sich das Buch "Mein Jahr mit dem Tod" von Heike Fink in lesenswerter Reportageform dem großen Unbekannten zu nähern versucht - eine Besprechung und ein Buchtipp

Osnabrück (eb) - Wenn das Schneewittchen auf seiner Flucht vor der mordwilligen Stiefmutter bei den sieben Zwergen landet, dann ist es dort in Wahrheit im symbolischen Todesreich angekommen, aus dem es wieder herauskommen muss... Oder übersetzt gesagt: Im Übergangsreich zwischen Kindheit und Reife. So jedenfalls sagt es der prominente Märchenforscher Heinz Rölleke. Das war für mich eine der überraschendsten Erkenntnisse des Buches "Mein Jahr mit dem Tod" der Autorin Heike Fink, das ich schon eine Weile hier liegen (und gelesen) habe und das zu besprechen mir jetzt endlich gelingen soll. Heike Fink hatte mir von sich aus ein Buch zuschicken lassen und mich gefragt, ob es mich interessieren würde - und das tut es, natürlich, nicht alleine des Themas wegen. Sondern auch wegen der spannenden Herangehensweise.

Alles begann bei der Beerdigung eines guten Freundes. So, wie es Heike Fink dort erging, erleben das auch viele andere Menschen. Da ist plötzlich dieses merkwürdige und nicht zu fassende Mischmasch im Inneren, das irgendwie bedrohlich und irgendwie auch faszinierend ist. So eine diffuse, undurchschaubare, sehr massive Wand, die undurchdringlich und gewaltig groß zu sein scheint. Alles, was Heike Fink da fühlte, lässt sich zwar unter einem plakativen Etikett zusammenfassen – die Angst vor dem Tod – und ist doch in Wahrheit ein Geflecht aus so vielen einzelnen Gedanken, Gefühlen und Gestalten, dass erst das sehr genaue Hinsehen dabei hilft, dieses Durcheinander wirklich zu entwirren. Das ist oft schon Thema dieses Blogs gewesen, und genau darum geht es auch in diesem Buch: 


(Alle Produktfotos: Thomas Achenbach)

Heike Fink wollte also genauer hinsehen. Also hat sie sich ein ganzes Jahr lang mit Experten rund um den Tod getroffen, jeden Monat mit einem anderen, und ihre Begegnungen in Form einer in mehrere Teile aufgeteilten persönlichen Auseinandersetzung als Buch veröffentlicht. Jedes Kapitel behandelt einen Monat, einen Experten, einen Ort, alles ist verbunden mit dem Thema Tod. Da ist beispielsweise der Physiker, der sich an seinen eigenen (Nah-) Tod nicht mehr erinnern kann, da ist der 14-jährige Junge aus dem Kinderhospiz, der ein großer Darth-Vader-Fan ist, da ist die Trauerbegleiterin mit ihrem Projekt der gesprochenen Lebensbücher, da ist der Tatortreiniger, der so gar nicht seinem TV-Vorbild entsprechen mag… Eine Besonderheit bildet die Reise nach Kairo zu einem der wohl größten bewohnten Friedhöfe der Welt. Und da ist der bereits erwähnte Märchenforscher. Der natürlich von einer weiter entfernteren Perspektive auf das Thema Tod draufschaut. Ich will gar nicht verhehlen, dass mich das Buch am Anfang eher skeptisch machte - alleine schon, weil mich die Frage herumtrieb: Warum die Beschäftigung mit dem Tod, die doch ein Lebensthema sein sollte, auf nur ein Jahr beschränken? Aber dann wurde mir klar, dass das ein komplett unangemessener Gedanke von mir gewesen ist. Und das klingt jetzt hoffentlich nicht zu arrogant oder aufgeladen oder abgehoben. 

Die Autorin Heike Fink.  (Max-Höllwarth-Foto)

Aber: Als Trauerbegleiter und Trauerblogger und als Autor von Artikeln (und bald auch einem Buch) über dieses Thema beschäftige ich mich ja jeden Tag ein kleines bisschen mit dem Tod. Da bin ich also, sozusagen, immer ganz eng dran an diesem Thema. Wenigstens einmal pro Woche bekomme ich ein Schicksal berichtet, das ganz eng verwoben ist mit dem Tod. In meiner Ausbildung habe ich gelernt, eine persönliche Haltung zu entwickeln, die mir dabei hilft - eine Haltung auch dem Thema Tod gegenüber. Das ist aber eben nicht die Perspektive, aus der Heike Fink - und das von ihr angesprochene Publikum - das Thema betrachten wollen. Was für mich also bedeutete: Um diesem Buch gerecht werden zu können, musste ich wieder ein paar Schritte weiter zurückgehen in meiner ganz persönlichen Geschichte. Zurück an den oben beschriebenen Punkt: Als alles, was mit dem Tod zu tun hatte, eine undurchdringliche Wand gewesen ist. Wo man höchstens mal zaghaft hingucken wollte. Dann konnte ich mich gut einlassen auf dieses Buch. Und habe einfach mal geschaut: Was spricht mich an, wie wirkt es auf mich? 


Was Heike Fink hier vorlegt, ist in Wahrheit ein einziges, gigantisch großes Reportagestück. Soll heißen: Die Autorin versteht es sehr gut, mit ihren Worten Bilder zu malen, Sinne anzusprechen, den Leser in die jeweilige Szene zu versetzen. Was umso bemerkenswerter ist, als dass das ganze Buch ohne irgendwelche Fotos auskommt. Keiner der Protagonisten ist also wirklich zu sehen. In Erinnerung bleiben dann Szenen wie die vom Besuch eines Hospizes, wo die Mutter einer Freundin ihre letzten Tage verbringt: Nicht wissend, dass es dort als Symbol für den inzwischen eingetretenen Tod gehandhabt wird, hatte Heike Fink einen noch nicht überreichten Blumenstrauß vor der Zimmertür geparkt. Mit dem Resultat, dass eine der Schwestern hereinkommt mit einem Beileid auf den Lippen und der Frage: "Wann ist ihre Mutter denn gestorben?". Und immer mal wieder gibt es ein paar Passagen, die einen berühren und etwas in der Tiefe ins Schwingen bringen.


Wenn die Leiterin des Kinderhospizes davon berichtet, dass es ihrer Erfahrung nach die Kinder selbst sind, die frei über den Zeitpunkt ihres - natürlichen! - Todes entscheiden. Wenn sich Heike Fink nach dem Besuch eines Hospizes eine persönliche Top Ten der schönsten Dinge des Lebens anlegt. Wenn ein Ballettchoreograph den vielleicht intuitiv gelassensten Zugang zum Tod findet und sagt, man müsse ihn vielleicht einfach umarmen. Und am Ende findet auch Heike Fink ein kleines Stückchen Transzendenz. Wie gesagt, mit am eindrucksvollsten für mich war tatsächlich die Passage mit dem Märchenforscher. Was zum einen daran liegt, dass ich selbst in den todesdurchtränktesten Märchen nicht soviele Todessymbole habe sehe können, wie sie doch darin zu entdecken sind. Was sicherlich auch daran liegt, dass ich derzeit viel mit Kindern und dem Vorlesen von Märchen beschäftigt bin (und durch die Buchlektüre feststellen musste, dass Märchen eigentlich überhaupt nicht für Kinder geeignet sind, weil es letztlich oft um Menstruation, Erwachsenwerden und das Überwinden des Todes geht, aber sei' s drum).


Beim Dornröschen steht der Stich mit der Spindel übrigens als Sinnbild für die erste Menstruation. Diese Erkenntnis war selbst mir nicht ganz so neu. Aber dass die dann folgenden 100 Jahre an Schlaf und Stillstand als Symbol für die Pubertät gelten sollen, fand ich faszinierend. Und, ja, das macht irgendwie Sinn: Trotz all der Wirrnis in einem drin und trotz all der hormonellen Sturm-und-Drang-Überflutung und trotz aller tatsächlich stattfindenen Entwicklung im Innen wie im Außen habe ich diese Jahre meines Lebens auch manches Mal so erlebt -als großen Stillstand. Das ist jetzt anders. Auch, und da schließt sich der Kreis - durch die häufige Beschäftigung mit dem Tod. Denn die führt einen unmittelbar zurück ins Leben.

"Mein Jahr mit dem Tod" von Heike Fink ist erschienen im Sommer 2018 im Gütersloher Verlagshaus als Hardcover, gebunden, 317 Seiten, 20 Euro.

Übrigens: Noch ein lesenswertes Buch, das viele weitere Tipps enthält und im lockeren Tonfall existenzielle Fragen rund um den Tod behandelt, ist "The End" von Eric Wrede, hier geht es zu einer Besprechung. 

Transparenzhinweis: Das Buch ist mir auf Bitten der Autorin zur Besprechung vom Verlag als Rezensionsexemplar zugeschickt worden.

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Der Autor dieser Zeilen 
bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung). Er hält auch Vorträge zum Thema Trauer und Umgang mit Trauernden. Mehr Infos gibt es hier

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