Samstag, 20. Juni 2020

Selber weiterleben, obwohl die Schwester ermordet worden ist - in Katrin Bibers Buch "Larissas Vermächtnis" erfahren wir, wie so etwas gehen kann und was diesen Weg so schwer und schmerzvoll macht - eindrucksvolle Einblicke in einen Trauer- und Leidensweg

Osnabrück/Innsbruck - Wer Katrin Biber einmal persönlich kennenlernen durfte, der wird sich an eine offene junge Österreicherin erinnern, die viel Positives ausstrahlt. Kaum vorstellbar, dass sich diese lebenslustige Frau, die sich gerne mit "I' bin die Katy" vorstellt, einmal ein Messer an die Pulsschlagadern gehalten und beinahe zugestochen hätte. Dass sie das tun wollte, weil ihr innerer Schmerz so unaushaltbar geworden war, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste. So beschreibt Katrin Bieber es in ihrem frisch erschienen Buch "Larissas Vermächtnis", in dem sie die Geschichte von ihrer ermordeten Schwester erzählt. Und die Geschichte ihrer Trauer darüber. Es ist aus mehrfachen Gründen lesenswert - auch wenn man vorab wissen sollte, was einen in diesem Buch erwartet.

Der Umschlag des Buches ist eher fröhlich gehalten. Pastelltöne in Rosa dominieren das Design, zwei Schmetterlinge zieren die Titelseite. "Papa", sagt meine sechsjährige Tochter überrascht zu mir, während ich in dem Buch stöbere, "du liest ja ein Frauenbuch!" In gewisser Weise hat sie ja sogar recht, hier geht es vor allem um Frauen. Doch darf der Umschlag des Buches nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Inhalt bitterernsten Stoff enthält. Es ist die Geschichte einer erwürgten Frau und die Geschichte ihrer Schwester, die darüber fast den Verstand verliert. Was soll sie auch sonst tun angesichts der Tragik dieser Ereignisse?

(Foto: Thomas Achenbach)

Dass dieser Blogartikel über Katys Buch an einem 20. Juni erscheint, hat sich einerseits zufällig so ergeben, weil ich passend ein paar Tage vorher mit dem Lesen des Buches fertig war - aber es ist auch aus einem zweiten Grund wichtig, dass sich das so gefügt hat. Denn am 20. Juni ist Larissas Geburtstag. Und an diesem Tag hat Katy vor einigen Jahren schon einen gemeinsamen Lauf in Erinnerung an ihre so sportliche Schwester veranstaltet, von dem sie ebenfalls in ihrem Buch berichtet - und der prägend war für ihre neue Lebensphase. Aber dazu später mehr. 


Angelegt wie ein biographischer Roman


Katy hat sich dazu entschieden, ihr Buch mehr wie einen biographischen Roman anzulegen - es gibt beispielsiwese sehr viele Dialoge, die Katy aus der Erinnerung wiedergegeben hat. Warum sie sich für diesen Weg entschieden hat, dazu findet sich ein Hinweis im Prolog zu dem Buch: Katy hat sich schon früher mit dem Schreiben beschäftigt und hat, wie viele andere Hobby-Autoren (und ich), das dazu passende und ziemlich geniale Buch von Stephen King gelesen: "Vom Lesen und Schreiben". Aus dem zitiert sie am Anfang. Passenderweise ist nun auch Katys Buch keine Aufzählung innerer Gedanken geworden, sondern ein fast filmisches Erlebnis von aneinandergereihten Szenen - das ist Segen und Fluch zugleich.


Katrin Biber (Foto: Peter Koren/Pieper-Verlag, mit freundlicher Genehmigung) 

Ein Segen ist es, weil das Buch ein echter "Pageturner" ist. Rasant erzählt, ebenso rasant durchgelesen, nicht eine Sekunde langweilig und trotz einiger - weniger - etwas holpernder Dialoge wirklich gut geschrieben. Zu einem Fluch kann es werden, weil der Leser sich immer wieder selbst daran erinnern muss: Nein, das ist kein Fernsehkrimi, keine Unterhaltung, keine Fiktion. Auch wenn Larissas Todesart dazu passen würde. Mord, das ist Spektakel und Sensation, das ist Gänsehautgrusel und Exotik, das ist Krimistoff und Boulevardpresse. Wenn wir von einem Mord lesen, sind wir ganz automatisch in so einem Zustand flirrender Anspannung - von dem wir uns leicht wieder befreien können, indem wir einfach das Buch zuklappen. Und vielleicht schaudernd die Schultern hochziehen. Katy kann das alles nicht, sie konnte es nie. Für sie ist der Mord an ihrer Schwester bittere Realität. Und bei der Lektüre ihres Buches muss sich der geneigte Leser manches Mal in den Arm kneifen, um sich in Erinnerung zu rufen, dass das hier Wirklichkeit ist. 


Und der Mörder sagt: "Heute ist Waschtag"


Dass der Sensationsfaktor des Geschilderten nie überhandnimmt, ist Katys schriftstellerischer Fähigkeit geschuldet, immer im richtigen Moment wieder ihr Innenleben einzublenden. So hält sich das Erzählte angemessen die Waage. Im September 2013 feiern Katrin Biber und ihre Schwester Larissa gemeinsam mit anderen in einer Bar, bis sich Larissa und ihr neuer Freund in seine Wohnung zurückziehen. Von dort wird Larissa nie wieder lebend zurückkehren. In einem Anfall von Eifersucht hatte Larissas Freund, mit dem die 21-Jährige erst seit kurzem zusammen war, sie erwürgt. Die Leiche hatte er im Inn, also einem Fluss, "entsorgt". Weil er sich anfangs noch an der Suche nach der Toten beteiligt, hat an seiner Unschuld kaum jemand Zweifel, obwohl er immer wieder verdächtige Zeichen hinterlässt. Dass Katy bei dem Mörder ihrer Schwester in der Wohnung gewesen ist, wo sich dieser mit einem "Heute ist Waschtag" aus der Affäre zu ziehen versucht angesichts der Frage, warum die am Todestag aufgezogene Bettwäsche schon frisch gereinigt ist, ist nur eine dieser Szenen, die beim Leser die Kinnlade runterklappen lassen. Und wieder ein Kneifen in den Arm: Nein, es ist kein Krimi. Dass das Leben solche Drehbücher schreiben kann, unfassbar!


(Foto: Thomas Achenbach)

Von diesem Moment an nehmen zwei wie in einer DNA miteinander verwobene Erzählstränge den Leser mit auf die Reise: Einerseits erfahren wir nach und nach, wie der Täter doch noch überführt und schließlich vor Gericht gestellt wird. Andererseits aber efahren wir, was das mit Katy und mit ihrer Familie gemacht hat. Letzteres ist der Teil, der mich persönlich am meisten interessiert hat. Denn ich will nicht verhehlen, dass ich aus meiner Position als Trauerbegleiter heraus mit einer speziellen Fragestellung an die Lektüre herangegangen bin - eine Fragestellung, von der ich mir vorstellen könnte, dass sie noch andere in Therapie und Trauerbegleitung aktive Menschen interessieren könnte: Müssten wir bei Menschen, die wegen eines Mordes trauern, andere Themen und Fragen besprechen als bei, sagen wir, Suizid oder Unfalltod? Oder sind die dadurch ausgelösten Gefühle und ggf. Traumata vergleichbar? Haben wir es mit vergleichbaren Prozessen zu tun? Katys schonungsloser Seelenbericht kann da wertvolle Hinweise liefern. Und, siehe da, vieles ist tatsächlich vergleichbar. Natürlich ist der Trauerweg, den Katy gehen muss, unsagbar schmerzvoll und brutal. Aber nicht bloß für sie.


Das Familiensystem ist völlig überfordert


So nimmt Katy ihre Leser mit zu Therapiesitzungen der ganzen Familie, sie zeigt - mit nachträglichem Verständnis kommentiert -, wie jeder in diesem Konstrukt seine eigenen Themen behandeln muss und seine eigenen Anforderungen an sich selbst und seine Trauer stellt. Alleine schon dieser eindrucksvolle Einblick in ein überfordertes Familiensystem macht das Buch zu etwas Besonderem. Überhaupt ist es gut, dass Katy manches von dem Geschilderten mit einer persönlichen Einordnung versieht - die unerträglichen Gefühle, an dem Mord selbst die Schuld zu tragen beispielsweise, weil sie Larissa aus der Kneipe hat weggehen lassen. Heute weiß Katy, dass solche Schuldgefühle zu einem Trauerprozess fast immer dazugehören und dass sie eine wesentliche Funktion darin haben. Und auch sonst lässt sich viel Wissenswertes in dem Buch entdecken.


Interview auf der Messe Leben und Tod 2018 - Katy (rechts) interviewt Silke Szymura (links) und mich (Youtube-/Achenbach-Screenshot).

Angehenden oder aktiven Notfallseelsorgern, allen Rettungskräften oder Polizeibeamten sei hiermit vor allem jene Passage ans Herz gelegt, in der die Familie vom Kriseninterventionsteam daheim besucht wird und in der sie zum ersten Mal die Nachricht erhält, dass es erstens ein Mord war und dass zweitens Larissas Freund der Täter war - in Katys Erzählung von diesem Besuch wird eindringlich klar, dass alles, was nach dieser Botschaft noch gesagt wird, überhaupt nicht mehr bei den Menschen ankommt, dass es nicht mehr ankommen kann. Dass das Gesagte beim Überbringen einer Todesnachricht nicht das Wichtige ist, sondern das Da-Sein, das Wie, das Seelsorgerische. Was aktive oder angehende Trauerbegleiter aus diesem Buch mitnehmen können, ist vieles, was oft zum Trauerprozess dazugehören kannDer Neid auf das unversehrte Leben der anderen Menschen, selbst derer, die aktiv Hilfe leisten; die krassen körperlichen Reaktionen auf das Trauma, der Haarausfall, der Kraftverlust; die Flucht in den Rausch durch Alkohol, gerne auch schon vormittags;  die überall lauernden Trigger, beispielsweise der Anblick von Flüssen oder die Menschen, die unachtsam mit Worten umgehen ("Ich bin so schnell gejoggt, ich wäre fast gestorben"); das eigene Nacherlebenwollen der Todesart durch ein Sich-selbst-würgen; das Nachsterbenwollen; die verzweifelte Suche nach einem Sinn in dem Geschehen... und viel mehr.


Mystische Erfahrungen brauchen auch Nichtgläubige


Auch jene Leser, die selbst gerade eine Trauer- und Verlustkrise durchleiden, finden Hilfreiches in dem Buch für ihren eigenen Prozess - und sei es nur die Erlaubnis, dass es beim ersten Weihnachtsfest ohne den gestorbenen Menschen (und den folgenden) durchaus auch mal traurig zugehen darf. Oder die Tatsache, dass sich selbst Katy als nichtgläubige Atheistin einen wie auch immer erlebten mystischen Kontakt zu ihrer Schwester zugesteht - oder um es in den Worten des durchlebten Trauerprozesses zu formulieren: Dass sie ihre Schwester anderswo zu verorten versteht, was ein gutes Gefühl sein kann. Sie spürt die Anwesenheit ihrer Schwester und sucht das Gespräch mit ihr, manchmal, und das tut ihr gut. Und dass es gut tun kann, Briefe an die Verstorbenen zu schreiben, ob in einem kleinen Notizbuch, so wie Katy es tut, oder jeweils auf separatem Papier. 


(Foto: Thomas Achenbach)

Am Ende ihres Buchs beschreibt Katy in wenigen Absätzen ihre Wandlung von der nichtsportlichen Alkoholliebhaberin zur Inhaberin einer Firma für Fitnessangebote in seelischen Notlagen, dem von ihr entwickelten "Seelensport" - ein für sich besonders wohltuender Schritt, weil Larissa so sportlich war und weil ein Teil von Larissa in Katys Sportangeboten weiterlebt. Als Erbe auf dieser Welt. Und damit noch einmal zurück zum ersten Eindruck, den man beim Kennenlernen von Katy bekommt: Eine sportliche, durchtrainierte und fröhliche junge Frau. So wie ganz sicher auch Larissa es war. Und wie sie erinnert wird. 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

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