Mittwoch, 24. Juni 2020

Warum Anja Pawlowski immer "... ein Stück untröstlich" bleiben wird und warum es so gut ist, dass ihre Leidensgeschichte mitterweile auch in Buchform vorliegt - wertvolle Einblicke in die vielen Facetten und die ambivalenten Gefühle auf einem Trauerweg

Osnabrück - Es ist eine der wichtigsten Passagen in diesem Buch: Die wenigen Absätze, in denen die Bloggerin Anja von ihrer Wut auf ihren verstorbenen Mann erzählt. Davon, dass er sie manches Mal um Geld betrogen hatte und die für gemeinsame Projekte gedachten Rücklagen manches Mal versackert waren... in einem "magischen Loch". Darf man sowas über Tote sagen? Darf man davon noch berichten? Müssten die Gestorbenen nicht einfach nur in ihrem besten Licht geschildert und betrachtet werden? Zumal Anja soviel Gutes über Andreas, ihren gestorbenen Mann, zu berichten weiß und diese wenigen Worte eine Ausnahme bilden. Hier zeigt sich eindrucksvoll, wie facettenreich und ambivalent sich ein Trauerprozess entwickeln kann. Und genau das ist eines der größten Verdienste von Anja Pawlowskis Blog und dem daraus resultierenden Buch: Dass sie uns so unmittelbar und hautnah teilhaben lässt an dem, was sie innerlich beschäftigt.

Auch so lässt sich inneres Leiden in Worte kleiden: Ein bisschen schnodderig, ein bisschen unangepasst, immer frei nach Schnauze und mit ganz viel Herzlichkeit. Frei von der Leber weg - und direkt aus der Seele geflossen. Genauso schreibt Anja Pawlowski, die oben an der Ostsee wohnt und sich deswegen in sozialen Kanälen "Lübschesprotte" nennen darf. In ihrem Blog "Ein Stück untröstlich" erzählt sie der Welt seit Juli 2017 die Geschichte ihrer Trauer - und die von ihrem Mann Andreas, der 2014 ziemlich überraschend an einem Hirntumor starb. Die ersten 41 Beiträge ihres Blogs liegen seit einiger Zeit auch als Buch vor, hübsch oldfashioned auf Papier und so. Und was dieses Buch so wertvoll macht, ist seine komplett ungefilterte Authentizität. 


Anja Pawlowski im Jahr 2020 (Foto: Andre Leisner, mit freundlicher Genehmigung).

Bei mir zuhause liegt das Buch nun schon eine ganze Weile herum. Nicht ungelesen, aber unbesprochen. Anja hatte es mir auf der Messe "Leben und Tod" im Jahr 2019 persönlich überreicht, da war es gerade ganz frisch erschienen. Wir kennen uns durch unser beider Blogger-Aktivitäten schon länger persönlich und ich hatte zudem das Vergnügen, sie für meinen Blog schon einmal interviewen zu dürfen. Auf der Messe hatte ich ihr eine Besprechung ihres Buches Blog fest zugesagt. Das hat dann allerdings eine Weile gedauert, länger als gedacht, weil erst noch meine eigenen Buchprojekte, Vorträge, Workshops und Lesungen dazwischenkamen. Dann kam Corona, alles auf Halt, das war schlecht. Aber ich hatte endlich genug Zeit für das Schreiben über aktuelle Bücher und das Lesen von frisch erschienen Büchern. Das war gut. Ambivalent, auch das. Wie das ganze Leben, immer. 


Grrrrrrrrrrrr........ ! ! !  Und: Stampf ! ! 


Waaaaassss? Grrrrrr.... Und: Stampf! Nicht selten geht es in Anjas Blog und in ihrem Buch zu wie in einem Comic. Das passt ganz wunderbar in diese Welt, in die wir da eintauchen dürfen. Denn Anjas Motto, so steht es auf dem Rückumschlag zu lesen, lautet: Einfach mal machen, kann ja auch gut werden. Genauso hat sie auch ihren Blog gestartet. Ist gut geworden. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass Anja gleich von Beginn an dieser Spagat gelingt, der ihre größte Qualität ist und bleiben wird: Einerseits durchmessen ihre Texte durchaus die Tiefe ihrer Trauer, andererseits sind sie von einer Leichtigkeit und Lebendigkeit durchzogen, dass das Lesen tatsächlich - und das will mal was heißen bei einem Buch über Trauer - ein lockerleichtes Vergnügen sein kann. "Es geht um Trauer - UND um Lebensfreude", schreibt Anja über ihren Blog. Das muss man auch erstmal schaffen, sowas - Respekt, Anja!

(Dieses und das folgende Foto: Thomas Achenbach)

Drei Jahre sind bereits vergangen seit dem Tod von Andreas, als Anja Pawlowski 2017 ihren ersten Blogbeitrag veröffentlicht. Und schon dieser erste Text macht deutlich, wie gut strukturiert Anja ihre Gedankenwege und Innenwelten bereits durchfahren kann. Was ihr dabei bisher geholfen hat, in diesen ersten drei Jahren, findet sich in einer Liste, mit der Anjas persönliches Bekenntnisbloggen beginnt. Gleichzeitig hebt sie das Thema Trauer damit auf eine Metaebene, indem sie auch für andere umzirkelt, was hilfreich sein kann. Und genauso geht es weiter. Immer mal wieder spricht Anja ihre Leser direkt an und regt sie zum Mitdenken an ("Und was hilft Dir?"), was ihren Blog fast auf Ratgeberniveau hebt. Das mag für manche Leser sicher hilfreich sein, ich persönlich lese allerdings lieber die ganz persönlichen Reiseberichte dieser Nachtfahrten durch Anjas Seelenleben. 


Schuldgefühle, Fassungslosigkeit, Behördengedöns


Und was das angeht, hat sie einiges zu bieten. Eine immer wieder aufploppende Fassungslosigkeit, auch noch vier Jahre nach dem Tod ("Er ist weg, einfach weg, wirklich weg!"). Die sich immer mal wieder zu Wort meldenden Schuldgefühle, zum Beispiel weil der erste Mann, mit dem sie zusammen einen Sohn auf die Welt brachte, ebenfalls starb und weil für sie manchmal die Frage im Raum steht, ob sie eine Art Todesfluch über die Männer bringt. Aber auch die Qualen, die Behörden und der Papierkram bei ihr auslösen: Denn obwohl sie Andreas als ihren Mann bezeichnet, waren die beiden nie offiziell verheiratet. Das war für die Qualität ihrer Beziehung nie ein Problem, ist es aber von behördlicher Seite - denn wer nicht verheiratet ist, darf offiziell auch nicht Witwe sein. Auch wenn es sich tausendmal so anfühlt, auf dem Papier geht das nicht. Jedenfalls auf deutschem Behördenpapier.


All diese Facetten und mehr beleuchtet Anja in mal kürzeren, mal längeren Passagen. Und schließlich reift in ihr eine wesentliche Erkenntnis, die auch für alle anderen Menschen in einer Verlustsituation eine hilfreiche Botschaft darstellen kann: "Ich darf ein Stück untröstlich bleiben! Dieser Satz ist für mich der größte Schatz, den ich während meiner Trauerarbeit erspürt habe." Dass Anja mit dieser Arbeit noch lange nicht fertig ist, wenn auch auf einem guten Weg, zeigt ein Blick auf ihren Blog "Ein Stück untröstlich": Da ist sie noch immer aktiv und berichtet zum Beispiel davon, wie sie den fünften Todestag von Andreas erlebt hat. Gibt es bald also ein zweites Buch? Immer noch - ein Stück untröstlich? Wer weiß. Vorerst ist Anja jedenfalls ebenfalls mit Lesungen und Vorträgen unterwegs, zum Beispiel einer Autorenlesung bei der digitalen Version der Messe "Leben und Tod" 2020.  

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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