Hat der Tod Dir etwas genommen, dann gib es zurück. Mit diesem Satz auf dem Umschlagtitel hat mich das Buch direkt gepackt. Was uns die dänische Autorin Naja Marie Aidt nach dem tragischen Tod ihres 25-jährigen Sohnes zurückgibt, ist ein kleines Buch mit gar nicht so vielen Seiten - aber jede Zeile darin ist mit soviel Bedacht und Sorgfalt geschrieben, dass sich dieser wenige Text zu einem Destillat verdichtet, das Trauer begreifbar macht. Dieses Buch tut weh beim Lesen - und das ist gut so. Ein eindrucksvolles Werk, das mich genau zum richtigen Zeitpunkt angetroffen hat.
Ich war - passenderweise, könnte man sagen - auf dem Weg zu den verwaisten Eltern, zu ihrem Jahreskongress in Leipzig 2022, als ich das Buch gelesen habe. Nur unterbrochen von meinem Workshop dort und dem Tagesaufenthalt in Leipzig, habe ich das Werk in zwei Zugfahrten nicht einfach nur gelesen, sondern förmlich in mich aufgesogen. "Das Schreiben gab mir die Möglichkeit, etwas Sinnvolles aus etwas Sinnlosem zu schaffen", hatte die Autorin Naja Marie Aidt der Süddeutschen Zeitung zu Beginn 2022 im Interview gesagt (SZ Nr. 303, Silvester und Neujahr 2022, Seite 52 - Link zum Text, allerdings Paywall). Sinnvoll ist das Werk geworden, wie wahr. Weil es Naja Marie Aidt gelungen ist, trotz aller Sprachlosigkeit exakt zu fixieren, wie Trauer sich anfühlen kann.
Vor einigen Jahren hatte die Literatin ihren 25-jährigen Sohn Carl verloren. Er war nach der Einnahme von halluzinogenen Pilzen aus einem Fenster gesprungen. Aus dem vierten Stock. Die Einlieferung ins Krankenhaus, die bangen Stunden der Ungewissheit, sein Tod wenige Tage später, all das erleben wir in "Carls Buch" ganz unmittelbar aus der Perspektive seiner Mutter mit. Geschrieben in einer Mischung aus Tagebuchskizzen, literarischen Verdichtungen und teilweise Passagen in einem einzigen ungestoppten Bewusstseinsstrom ("stream of consciousness"), werden wir Zeuge dieses Prozesses.
Gebrochenes Herz - medizinisch attestiert
Gleichermaßen macht Aidt auf einer zweite Ebene zum Thema, wie unfähig die Sprache doch ist, diesem Schmerz einen adäquaten Ausdruck verleihen zu können.Marie Aidt wird im Verlauf ihres Prozesses das "Broken Heart Syndrome" attestiert, eine besonders schwere Form der Trauer und, wie alles im Kontext von Tod und Sterben, zwar vorübergehend, aber lange anhaltend und tief in die Seele schneidend.
Alles beginnt mit einem Telefonanruf, der in mehreren Wiederholungen wieder aufgegriffen wird und sich dabei immer weiter fortspinnt. Alleine diese literarische Technik ist bemerkenswert, spiegelt sie doch die Unfähigkeit, überhaupt begreifen zu können, was geschehen ist. Eine Unfähigkeit, von der mir manche Trauernde bei unseren Begleitungen berichtet haben. Diese literarische Ebene, das gekonnte Spiel mit Sprache als Werkzeug, ist das Besondere, was dieses Buch aus der immer größer werdenden Masse der "Mein-Trauererlebnis-Berichte" heraushebt.
"Mein Schmerz war zu groß..." - und doch ging es
Es war die Süddeutsche Zeitung mit dem oben bereits erwähnten Samstagsinterview - übrigens eine meiner absoluten Lieblingsseiten in der Wochenendausgabe -, die mich auf das Buch hat aufmerksam werden lassen. Darin beschreibt Naja Marie Aidt ebenfalls, wie sehr sie sich von der Sprache im Stich gelassen fühlte: "Ich habe immer geglaubt, dass mich Sprache retten kann", sagt sie. Aber in der Trauer funktionierte der Mechanismus nicht: "Mein Schmerz war zu groß, um ihn in Worte zu fassen". Umso lesenswerter dieses Destillat, das ihr trotz allem geglückt ist.
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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation).
Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher:
-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)
Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link
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Ebenfalls auf diesem Blog: Ist Trauerbegleitung ein echter Beruf? Kann man von Trauerbegleitung leben? Und wie werde ich
überhaupt Trauerbegleiter?
Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde alles so vermeintlich "Merkwürdiges" tun und
warum das nicht peinlich ist
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