Mittwoch, 11. November 2020

Wie uns die Corona-Pandemie mit dem Konzept der "sozial nicht anerkannten Trauer" in Kontakt bringt - warum Angehörigen und Freunden, die ihre Menschen durch Corona bzw. Covid 19 verloren haben, die Trauer oft nicht zugestanden wird - Die "Aberkannte Trauer" im Corona-Todesfall wird fast zum Normalfall

Osnabrück - Wer jetzt um einen Angehörigen trauern muss - oder einen Menschen aus dem Freundeskreis - der durch das Coronavirus gestorben ist, dem geht es oft so: Anstatt dass die erlebte Trauer im Mittelpunkt stünde und die Frage, wie es einem gerade geht und was das mit einem macht, sehen sich die Menschen allerlei unangenehmen Vorwürfen ausgesetzt. Ihnen wird ihre Trauer abgesprochen. Nach dem Motto: wer sich mit dem Coronavirus infiziert, kann nur selbst schuld sein. Und das Muster dieser Vorwürfe ist vergleichbar mit jenen Prozessen, die wir zum Beispiel bei Krebstoten - vor allem Lungenkrebs - erleben können. In der Trauerforschung gibt es einen Begriff, über den vor ein paar Jahren diskutiert worden ist, und der dieses Phänomen noch auf eine andere Ebene hebt: Es geht um "sozial nicht anerkannte Trauer".

Bei AIDS-Toten; bei Menschen, die sich suizidiert haben; bei manchen Fällen von Krebs; bei Herzinfarkten und neuerdings auch bei Todesfällen entweder direkt durch die Krankheit Covid 19 oder durch verkomplizierte Verkettungen in Folge einer Infektion mit dem Coronavirus - der Prozess ist oft der gleiche: Es steht der Vorwurf im Raum, der gestorbene Mensch sei ja in irgendeiner Form selbst schuld an seinem Tod - beim Thema Suizid zum Beispiel wird oft nicht gesehen, dass es eine schwere Krankheit wie Depression sein kann, die die Menschen in den Tod treibt. Und weil der Mensch nun einmal "selbst schuld daran" sei, weil er eine eigene Verantwortung für seinen Tod trage, sei es auch nicht angemessen, allzu heftig um die gestorbenen Menschen zu trauern.

Trauer kann einsam machen - auch und vor allem in Corona-Zeiten (aber auch sonst). Alle Fotos: Thomas Achenbach

So wird bei Corona, zum Beispiel, gefragt, warum denn der gestorbene Mensch nicht einfach zuhause geblieben sei (Tenor: so wie alle). Oder ob dieser Mensch denn nicht seine Maske getragen habe, sich vielleicht sogar geweigert habe eine Maske zu tragen? Oder bei Lungenkrebs: ob der gestorbene Mensch vielleicht geraucht habe? Vielleicht sogar viel geraucht habe? Bei Herzinfarkten: ob der gestorbene Mensch nicht genug Sport betrieben habe? Ob er vielleicht nicht genug auf seine Ernährung und seinen allgemeinen Lebensstil geachtet habe (auch beliebt bei Magenkrebs). 

Klare Botschaft: "Du hast kein Recht auf Deine Trauer"

Aber warum ist das so? Warum tendieren Menschen zu dieser Form von versteckten oder auch nicht versteckten Vorwürfen - Aussagen übrigens, die den Trauernden sehr weh tun können und die ihnen das Gefühl geben, nicht mehr "ganz richtig" zu sein, wenn sie jetzt ein Gefühl von tiefer Trauer entwickeln. Denn die mit diesen Fragen vermittelte Botschaft lautet ganz eindeutig: Du hast kein Recht auf Deine Trauer! Oder, noch krasser formuliert: Du hast jetzt bitte nicht zu trauern, das ist nicht angemessen! 

Im Grunde ist das Gedankenmuster, das dahintersteckt und das es zu entlarven gilt, eine moderne Form eines mythischen Bannzaubers: Eben weil der Tod an sich uns so sprachlos macht - und so machtlos und ganz und gar ohnmächtig -, versuchen wir, bewusst oder unbewusst, den Tod wieder in die Zone des irgendwie Kontrollierbaren zurückzuholen. Wenn wir das Gefühl haben, dass die gestorbenen Menschen ihren Tod quasi "selbst herbeigeführt haben", zum Beispiel durch ihren Lebensstil, wenn diese Menschen also "selbst schuld sind" daran, dass sie gestorben sind, dann verschafft uns das für einen kurzen Moment eine gewisse Erleichterung - geht doch mit dieser Annahme die Idee einher, dass der Tod uns selbst, die wir uns als kontrollierter und bewusster erleben, dann nichts anhaben könnte. Der Tod ist dann also nur etwas, das die anderen etwas angeht, uns aber nicht. Puh, Glück gehabt. Der Bannzauber wirkt! Der Auslöser für diesen Prozess ist klar: Angst. Ohnmacht. Sprachlosigkeit. Also alles das, was auch die Trauer in uns auslösen kann.

Forschung spricht von "nicht anerkannter Trauer"

In der Trauerforschung gibt es noch ein weiteres psychologisches Muster, das in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielt. So hat der Trauerforscher Kenneth J. Doka aus den USA die These entwickelt, dass es einerseits eine Form von Trauer gibt, die sozial ebenso anerkannt wie geduldet ist - aber dass es auf der anderen Seite auch eine Trauer gibt, die den Menschen nicht zugestanden wird. Alleine schon aus sozialen Gründen. Das bekannteste Beispiel ist das der Ehefrau, die um ihren Mann trauert (= allgemein anerkannte Trauer), während der Geliebten, mit dem der Mann eine Affäre gehabt hat, ihre eigene Trauer keinesfalls zugestanden wird (= sozial nicht anerkannte Trauer). 


Diese Gedanken sind Teil eines theoretischen Konzepts, das im Englischen als "disenfranchised grief" bezeichnet wird - übersetzt wird es meistens mit "aberkannter Trauer" bzw. "sozial nicht anerkannter Trauer". 
Geprägt von dem als Trauerexperten geltenden Kenneth J. Doka, der als Professor für Gerontologie an der Universität New Rochelle gearbeitet hat (inzwischen ist er ein Emeritus), hat dieser Begriff rund um das Jahr 2008 in der Trauerforschung für viele Diskussionen gesorgt. Kritiker bemängeln an dem Konzept, dass es wiederum zu festgefahren sei - oder zu simpel gehalten - und dass alle Prozesse, die im Kontext von Trauer geschähen, in Wahrheit wesentlich komplexer seien. Und auch wenn an dieser Kritik sicher etwas dran ist, birgt das Konzept von Kenneth Doka vielerlei Ansätze, die bei Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise zu Aha-Effekten führen können. Und, vor allem, zu dem oft als hilfreich erlebten Gefühl: Ich bin nicht der Einzige, dem es so geht, dass er seine Trauer als nicht anerkannt erleben muss. Anderen geht es oft auch so. Nach meinen persönlichen Erfahrungen geht es sogar vielen, vielleicht fast allen Trauernden so, dass ihnen irgendwann in ihrem Prozess ihre Gefühle abgesprochen werden. Davon wird mir in fast jedem Trauergespräch berichtet. 

Innere Wertekonflikte für die Trauernden: Was gilt?

In Kenneth Dokas Konzept taucht noch ein zweiter Aspekt auf, der nicht zu unterschätzen ist: Auch die Trauernden selbst tragen in sich gewisse Vorstellungen davon, wie Trauer zu sein habe, wann sie angemessen ist und wann nicht. Meistens handelt es sich dabei um allgemeine gesellschaftliche Ideen und Vorstellungen, mit denen diese Menschen quasi aufgewachsen sind. Auch wenn der tatsächliche Trauerfall solche Vorstellungen meist über Bord wirft, weil man als Mensch plötzlich mit der vorher unvorstellbaren Realität von Trauer konfrontiert ist, bleiben diese alten Werte und Normen irgendwo in ihrem Inneren erhalten. Das führt zu einer Art innerem Zielkonflikt, sprich: Die Menschen können dazu neigen, sich selbst ihre Trauer abzusprechen, weil diese Form von Trauer auch nach ihren eigenen Vorstellungen "nicht sein darf". Es kann also durchaus jeder Trauernde selbst sein, der sich als soziales Regulativ seine eigene Trauer aberkennt. 

"Im Extremfall kann das dazu führen, dass sie ihr leidvolles Erleben gar nicht mehr in Zusammenhang mit einem Verlust bringen", schreibt dazu die Diplom-Psychologin Hildegard Willmann in einem Artikel, den sie für das Internetportal "Gute Trauer" verfasst hat (siehe hier). Besonders deutlich werde dies am Beispiel einer Frau, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat und danach sehr darunter leidet. Wenn sie nun selbst der Meinung ist, dass sie eigentlich keinen tatsächlichen Verlust erlitten hat, weil es ihre eigene Entscheidung war, dann gestehe sie sich selbst möglicherweise kaum das Recht zu trauern zu, schreibt Willmann. 

Niemand darf sich seine Trauer ausreden lassen

Wie bei allem, was mit Trauer zu tun hat, sind diese Vorgänge also komplex - aber eben schmerzhaft. Vor allem für die Menschen, denen ihre Trauer aberkannt wird. Wer aber einen Menschen verloren hat, der darf, soll, muss trauern dürfen. Egal, wie sozial erwünscht oder nicht all das sein mag. Egal, mit welcher Art von Tod wir im jeweiligen Fall zu tun haben. Trauer muss sich entfalten dürfen. Genau deswegen gibt es Trauergruppen, Trauercafés - und Trauerbegleiter. 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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