Dienstag, 30. Januar 2018

Eine der schwierigsten Aufgaben in einem Trauerprozess: Überhaupt begreifen zu können, was da geschehen ist - was das so kompliziert macht und was dabei hilft (Tipps für den Umgang mit Trauernden)

Osnabrück - Da gab es einmal diese Tochter, die noch eben mit dem vitalen Vater telefoniert hatte – der dann kurz nach dem Telefonat völlig unerwartet einfach umkippte und starb. Wegen einer Herzgeschichte. Die damalige Lebenspartnerin des Vaters entschied sich für einen kurzen Weg voller Pragmatismus und Hemdsärmeligkeit – als die Tochter ihren Vater wiedersah, war der bereits Asche in der Urne. Kein Wunder, dass sie da gedanklich und emotional nicht hinterherkommen konnte. Dass es kein Begreifen geben konnte. Diese Geschichte, die Barbara Rolf auf der Messe Leben und Tod erzählte, macht auf drastische Weise klar: Um wirklich begreifen zu können, was der Tod eigentlich ist und tut, braucht es ein gutes Be-Greifen. Bloß wie?

So etwas ist besonders schwer: Ein Begräbnis ganz ohne Leiche. Da wird dann nur ein Holzsarg in die Erde gelegt, rein als symbolisch verstandene Tat. Beim Tsunami 2005 habe er das schon einmal so erlebt, erinnerte sich Bestatter David Roth auf der Messe Leben und Tod. Was dann hilft: Andere Rituale finden. Briefe an den Toten mit in den Sarg legen und diesen verbrennen. Aber: „Es ist immer erschwerte Trauer, wenn ich nichts habe, was das Begreifen möglich macht", so formuliert es auch Roth. Dabei muss es gar nicht mal etwas so Extremes sein wie in den beiden geschilderten Beispielen.

In Mechthild Schroeter-Rupiepers lohnendem "Handbuch für Trauergruppen" findet sich diese Schriftenillustration, die die Aufgaben in der Trauer näher beschreibt - dazu bald mehr auf diesem Blog (Thomas-Achenbach-Symbolfoto).

Denn was das Begreifen zusätzlich erschwert: Diese enorme Hektik, mit der heutzutage ein Trauerfall abgewickelt sein sollte und sein muss. Das beklagten beide Bestatter in ihren jeweiligen Vorträgen im April 2016 in Bremen. Denn das ist das Wichtigste, was man zum Thema Begreifen eben begreifen muss: Es braucht Zeit. Viel, viel Zeit. Und viel Geduld. Mit sich selbst und mit der Welt. So sieht das auch der Trauerforscher Dr. William J. Worden.


Was Trauernde leisten, sind Aufgaben, keine Phasen


Sein Modell von verschiedenen Phasen in einem Trauerprozess ist für mich die Überzeugendste der aktuell verfügbaren Beschreibungen. Das liegt alleine schon an der von ihm gewählten Formulierung: Worden spricht nicht von Phasen, sondern von Aufgaben der Trauer. Diese Idee gefällt mir: Der Tod eines lieben Menschen gibt uns Aufgaben auf. Eben kein passives Durchschreiten von sich irgendwie einstellenden Phasen, sondern aktiv zu leistende Aufgaben. So erleben das wirklich viele und es kommt meiner selbst oft erlebten und gefühlten Lebensrealität tatsächlich viel näher. Und die erste Aufgabe, so sagt es Worden eben, ist: Das Begreifen. Was leichter gesagt ist als getan, das sagen auch andere. 


Was der Verstand schon kann, erreicht nicht die Seele


Denn in meinem Interview mit der über ihren eigenen Trauerprozess schreibenden Bloggerin Anja Pawlowski hatte ich sie gefragt: Gab es irgendwann in Deinem Trauerprozess einen Augenblick, wo Du aus vollem Herzen sagen konntest, "Ja, es ist wahr, jetzt habe ich es wirklich begriffen, mein Mann lebt nicht mehr?"... Was sie darauf als Antwort gegeben hat, ist - so glaube ich - mustergültig für ganz viele Prozesse nach dem Tod eines Menschen. Zusammengefasst müsste es heißen: Ja und Nein. Oder wie Anja es formulierte (leicht gekürzt): "Mein Verstand hat begriffen, dass mein Mann nicht mehr lebt, als er aufgehört hat zu atmen. Mein Herz sagt mir: ,Ich verstehe die Frage nicht… wieso soll ich begreifen, dass er nicht mehr lebt? Er ist doch noch immer noch da? Schau, hier, hier tief drin in mir ist er doch noch…?'" Hier lässt sich ablesen, wie schwer das ist mit dem Begreifen. Vielleicht sogar unmöglich. Wenn man sowas wie Glück hat - aber wer hat das schon, wenn es um den Tod geht? -, durfte man ein paar Dinge erleben, die einem das Be-Greifen bei aller Schwere leichter gemacht haben. Zum Beispiel:

- Beim Sterben dabei sein zu dürfen. Es gibt derzeit im Internet eine spannende Diskussion darüber, dass diesem Thema zuviel - vor allem esoterische - Bedeutung beigemessen wird (nach dem Motto: "Ich habe schon drei Menschen sterben sehen dürfen" - "Und was sammelst Du sonst noch so?". Das ist sicher richtig so. Und doch: Wer erleben kann, wie der Tod eintritt, der ist einer Annäherung an ein Verstehen näher als derjenige, für den das eine abstrakte Nachricht ist. 

- Den toten Menschen erleben können. Ihn sehen, anfassen, eben auch greifen zu können. Das kann hilfreich sein, aber es kostet natürlich Überwindung. Und unsere Gesellschaft hat derzeit - das kann sich wieder ändern - das Gespür dafür verloren. In früheren Zeiten waren Aufbahrungen des gestorbenen Menschen im eigenen Zuhause etwas ganz Normales. Instinktiv gesehen geht es dabei eben auch.... - ums Begreifen.

- Den Sterbeprozess als eine sich vollziehende Entwicklung erleben können. Bei langen Krankheiten beispielsweise ist das manchmal möglich. Hilfreich daran ist erstens, dass mit dem Sterben auch ein schleichender, langsamerer Abschiedsprozess einhergeht und zweitens, dass die Erkenntnis vom Sterben des Menschen tröpfchenweise in einen einsickern kann. Angehörige von Unfallopfern oder sich Suizidierenden ist das nicht vergönnt - da fällt das Begreifen ungleich schwerer, weil die Plötzlichkeit und das Abrupte des Todes immer im Mittelpunkt steht. 

- Vorher darüber gesprochen haben zu können. Wie stellst Du Dir Deine eigene Trauerfeier vor? Was ist der Tod für Dich? Glaubst Du, dass es ein Danach gibt? Wer solche und ähnliche Fragen schon vorab hat besprechen können, lässt die Menschen um sich herum nicht mit ganz leeren Händen zurück. Das macht eine Annäherung an das Thema auf einer anderen Ebene möglich. 

Übrigens, ganz am Rande bemerkt: Das Aufgabenmodell von William J. Worden ist auch wegen vieler anderer Aspekte sehr spannend. Ich benutze es sehr gerne in Vorträgen oder im Kontakt mit Trauernden und durfte schon einmal erleben, wie es in einem Seminar über Trauer, das ich geben durfte, zu Aha-Effekten geführt hat. Deswegen war es mir auch einen eigenen Blogbeitrag wert, der sich jetzt unter diesem Link finden lässt. 

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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