Mittwoch, 18. März 2020

Auch dieses ganz unnormale Leben in der Krise könnte uns irgendwann normaler vorkommen als wir es jetzt glauben... Ein paar persönliche Gedanken in diesen Zeiten der Coronakrise - weil ja eh die ganze Welt derzeit über nichts anderes mehr spricht und schreibt

Osnabrück - Dass ich noch vor wenigen Tagen morgens einfach in Osnabrücker in einen Zug steigen und mir in der Hamburger Kunsthalle eine Ausstellung zum Thema Trauer ansehen konnte, um dann am Nachmittag zurückzukehren und pünktlich meine Tochter aus der Kita abzuholen... das ist inzwischen in diesen Tagen der sich jede Stunde verschärfenden Coronakrise absolut undenkbar geworden. Und derweil ich diese Zeilen tippe, ist noch unklar, ob auch in Deutschland bald eine generelle Ausgangssperre verhängt wird. Auf diesem Blog etwas über das Coronavirus zu schreiben - nein, das hatte ich eigentlich nicht vor. Weil ja alle derzeit drüber schreiben und es nur noch dieses eine Thema zu geben scheint. Aber das Coronavirus hat nicht nur meinen Alltag, sondern auch meinen Masterplan für diesen Blog ordentlich durcheinandergewürfelt (ich hatte eine ganze Artikelserie zum Thema Trauer am Arbeitsplatz vorbereitet als Ergänzung meines gerade erschienen Buches). Und das Coronathema brennt mir natürlich auch irgendwie auf der Seele. Jetzt also doch ein paar Zeilen. 

Meine Tochter hat heute ein Hörspiel gehört. Bibi Blocksberg ist mit ihren Eltern in den Italienurlaub geflogen und hatte schon im Landeanflug von den schönen Stränden dort geschwärmt. Ausgerechnet Italien. Ausgerechnet per Flugreise. Inzwischen ist das eine Geschichte wie aus einer anderen Welt. Fast hätte ich gesagt: aus einer verlorenen Welt. So kommt einem das jedenfalls jetzt vor. Vor wenigen Tagen war das noch unsere Welt, so wie wir sie kannten, so wie sie uns ganz normal erschienen ist. Jetzt gibt es diese Welt so nicht mehr und ob sie jemals so wiederkommen wird wie vorher, scheint uns derzeit fast undenkbar. Zu massiv sind die Beschädigungen, mit denen wir uns jetzt jeden Tag auseinandersetzen müssen. Was das alles mit Trauer zu tun hat (denn es handelt sich hierbei ja um einen Trauerblog)? 

Besser mal daheim bleiben... (Foto: Pixabay.de, CC-0-Lizenz)

Sehr viel mehr als man so denkt: Denn genauso kann sich Trauer anfühlen. Das haben mir viele der Menschen, die ich begleitet habe, immer wieder so geschildert. Vielleicht sind ihre Erfahrungen nun auch im Kontext dieser Coronakrise etwas, von dem wir anderen lernen können (dieser Überzeugung - dass wir Nichtbetroffenen von Trauernden etwas lernen können - bin ich ja sowieso). 

Auch an die Ängste werden wir uns gewöhnen müssen


Sich an einen Zustand des ganz Unnormalen (und Irrealen) irgendwann gewöhnen zu müssen und dieses Unnatürliche als seine neue Normalität akzeptieren zu lernen, vielleicht sogar inklusive der dazugehörigen Schmerzen, das zumindest ist eine der Lernaufgaben, die Trauer mit sich bringen kann. Und die Coronakrise ebenfalls. Wobei bei dieser Krise noch die kollektiven Ängste dazukommen. Auch an diese Ängste als unsere neue Normalität werden wir uns irgendwie gewöhnen müssen. Was für eine grimmige Zeit: Alles was wir an vermeintlichen Selbstverständlichkeiten kannten, ist entweder bereits aufgehoben oder weiterhin in Gefahr. Was uns wieder einmal lehrt: Es ist eben nichts selbstverständlich im Leben eines Menschen. Weil Menschsein bedeutet, zerbrechlich zu sein. 

Ein Wort ist in aller Munde... (Foto: Pixabay.de, CC-0-Lizenz)

Dass wir morgens daheim im eigenen Bett aufwachen können, beispielsweise. Dass wir frei atmen können. Dass wir das Haus für einen Spaziergang verlassen können, rausgehen und frische Luft tanken können. Dass unser Bewegungsspielraum auf mehr als nur ein Zimmer ausgelegt ist. Dass wir das, was wir gerne wollen, jederzeit in einem Geschäft kaufen können. Dass wir die Menschen, die wir lieben, unbeschadet wiedersehen können, wenn ein neuer Tag beginnt. Dass wir ins Auto oder in die Bahn oder den Bus steigen und überall hinfahren können, in ein anderes Land, in eine andere Stadt, um die Ecke. All das und so viel mehr. Es gibt viele Menschen, die sich jeden Abend etwas Zeit dafür nehmen, sich die positiven Ereignisse des Tages noch einmal in Erinnerung zu rufen und sie festzuhalten, weil wir Menschen von unserer grundsätzlichen Programmierung stärker auf das Negative fokussiert sind. Ich gehöre dazu und glaube ganz stark an die Kraft einer solchen Technik. Jedenfalls in normalen Zeiten

Jeden Tag die "Immerhins" sammeln, kann hilfreich sein


Denn selbst die totalen Superprofis in Sachen täglicher Positivorientierung haben dabei selten solcherlei vermeintlicher Grundsätzlichkeiten mit berücksichtigt. Ich bin dankbar dafür, dass ich heute frei atmen, mich bewegen und daheim in meiner eigenen Wohnung bleiben konnte - und nichts davon ist selbstverständlich. Das wird in den nächsten Tagen einer der Standardsätze meines täglichen Wahrnehmungstrainings werden. Vor einigen Jahren hatte ich hier in einem Blogartikel empfohlen, während einer Krise statt des täglich erlebten Glücks einfach nur die "Immerhins" eines Tages zu sammeln - und vielleicht ist jetzt die Zeit reif dafür, dass wir uns alle das verstärkt angewöhnen.

Ein leeres Buch, ein Stift und ein paar kleine Immerhins - kann was bringen....  (Thomas-Achenbach-Foto)

Heute um elf Uhr vormittags hatte meine Tochter noch immer ihren Schlafanzug an. Heute hatte sie eine irre Freude daran, sich so einen "Schlumpftag" zu gönnen. Ihr Spaß an diesen simplen Dingen ist ungemein ansteckend. Heute konnten wir trotz Home-Office-Aktivitäten als Familie zusammensein und es ging allen gut. Heute konnten wir alle in unseren eigenen Betten schlafen und aufwachen. Heute waren wir alle gesund. Wir haben sogar eine kleine Radtour unternehmen können (übrigens zum Grab meiner Mutter, weil es meiner Tochter wichtig war, dorthin zu gehen). Immerhin, immerhin, immerhin... Und nichts davon ist selbstverständlich. Oder wie der Benediktermönch und Zen-Meister David Steindl-Rast es formuliert: Alles ist Gabe. Letztlich ist da was dran. Kommt alle gut durch die Krise, bleibt möglichst gesund, und wenn Ihr mögt, dann teilt Eure Immerhins mit uns...

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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