Sonntag, 19. März 2017

Kreative Tipps für Trauernde - Sammeln Sie täglich ihre "Immerhins"... Eine simple, aber effektive Schreibmethoden für Menschen in einer Krise...- Denn es muss nicht gleich ein "Glückstagebuch" sein

Osnabrück - Sich jeden Tag darauf zu konzentrieren, was es an "Immerhins" gegeben hat, kann hilfreich sein. Ganz oft wird Menschen in einer Krisensituation (oder in jeder anderen Lebenslage) empfohlen, ein "Erfolgstagebuch" oder auch "Glückstagebuch" zu führen. Also: Jeden Tag das Gute oder Erreichte festzuhalten. Und auch wenn ich meine persönlichen Erfahrungen mit dieser Methode - trotz anfänglicher Skepsis - als bahnbrechend erlebt habe, kann ich gut verstehen: Für Trauernde ist dieser Sprung zu weit (Update 2020: In der Coronakrise gewiss auch). Aber es geht auch anders. Hier ein paar Tipps. 

Jedes Jahr am 20. März wird der "Internationale Weltglückstag" begangen. Ist das ein gutes Thema für einen Trauerblog? Glück und Trauer - sollte man das überhaupt zusammenbringen? Ist Menschen in einer Krisensituation überhaupt nach "Glück"? Vermutlich nicht. Muss auch gar nicht sein. Denn ganz o
ft reicht schon ein: "Dafür, dass..." Also: Ein Tagebuch zu schreiben und jeden Eintrag mit einem „Dafür, dass“ zu beginnen. Es ist die Autorin Barbara Pachl-Eberhardt - sie ist durch einen tragischen Unfall von einer Sekunde auf die andere zur Witwe sowie zur zweifach verwaisten Mutter geworden -, die in ihrem Buch "Vier minus Drei" diese wertvolle Empfehlung ausspricht. Das Geniale daran: Es wird zwar der gleiche Mechanismus benutzt, der ein "Glückstagebuch" so effizient macht (dazu später mehr), aber die Erwartungen und die Begrifflichkeiten werden viel niedrigschwelliger angesetzt. Das ist gut so und richtig so. In einer Trauerkrise ist jedes "Dafür, dass.." schon eine Menge wert. Und auch nicht immer leicht zu finden.

Ein leeres Buch, ein Stift und ein paar kleine Immerhins - kann was bringen....  (Thomas-Achenbach-Foto)

Manchmal kann so ein "Dafür, dass" auch gefolgt sein von dem Wort „immerhin“… Dann läst sich also beispielsweise ein Satz aufschreiben wie dieser: "Dafür, dass ich es derzeit fast gar nicht unter Menschen aushalte derzeit, habe ich es immerhin geschafft, einkaufen zu gehen..." Manchmal reicht auch ein zartes "Immerhin" anstelle des "Dafür, dass..." schon aus für einen Eintrag in dieses Tagebuch. Dass dadurch zu einem wirkmächtigen Instrument werden kann. Gerade für Trauernde. Warum das so ist? 


Der Trick dabei: Worauf Du achtest, das verstärkt sich


Wegen des psychologischen Tricks, den sich der Tagebuchautor - unbewusst - zunutze macht. Sich am Ende eines jeden Tages wenigstens drei Dinge notieren, die positiver gewesen sind als gedacht, hilft uns dabei, den Fokus zu verschieben. Es hilft dabei, den Fokus auf das Gute im Leben zu richten. Denn: „Beachtung bringt Verstärkung.“ So sagen es die Psychologen. Soll heißen: Das, worauf ich meinen Fokus richte, verstärkt sich dadurch automatisch selbst. 

Ein "Dafür, dass" als Frucht des Tages


Und so geht es: Man besorgt sich ein Buch mit leeren Seiten und einen Stift - oder einfach nur ein Blatt Papier. Am Ende des Tages lässt man, vielleicht vor dem Schlafengehen, das Erlebte in Gedanken noch einmal Revue passieren und notiert sich einfach alles, was besser gewesen ist als gedacht. Oder was anders gewesen ist als am Tag davor. Man sammelt alle "Immerhins" und "Dafür, dass"'s des erlebten Tages als die Früchte zusammen, die dieser Tag gebracht hat. Aber, und das ist das Wichtige: eben nur das. Das Schlechte bleibt einfach weg. Das Ganze ist also weniger ein Tagebuch als vielmehr eine Art Wahrnehmungsschule. Es hilft aber viel. Denn was dieses Training so effektiv macht, ist schnell gesagt: 

Eine Strategie gegen menschliche Programmierung


Es hebelt eine der menschlichsten Grundprogrammierungen aus, die seit Jahrhunderten in uns Menschen drinstecken. Nämlich die Fokussierung auf alles Negative. Evolutionstechnisch gesehen ist diesse Fokussierung überlebenswichtig: Wer einmal eine richtig schlechte Erfahrung gemacht hatte - zu lange dort gebadet, wo einen die wilden Tiere reißen können und nur mit Müh und Not den Bestien davongekommen -, der lernt dadurch besser. Seine Chancen auf Überlebe steigen also. Leider ist auch der moderne Mensch noch immer so gestrickt, dass er immer zuerst auf die negativen Seiten des Lebens sieht. Was heutzutage nicht mehr ganz so sinnvoll ist wie früher. Und so sind es vor allem die sehr vielen, sehr kleinen, aber irgendwie doch positiven Ereignisse des Tages, die viel, viel schneller, fast automatisch, in Vergessenheit geraten als alles andere. Einmal erlebt, ist es auch schon wieder aus der Wahrnehmung verschwunden. 

Wer nicht weiterkommt, dem helfen die Finger


Der Trick ist also, die Perspektive zu wechseln und diesen Wechsel dauerhaft zu trainieren. Sich die automatische Verstärkung der Wahrnehmung zunutze zu machen. Wer sich mit der konkreten Bewertung von Tagen schwer tut, dem hilft vielleicht eine kleine innere Checkliste, die man sich anhand einer Hand gut merken kann: D steht für Daumen oder für Denken/Lernen: Was habe ich heute Neues gelernt? Z steht für Zeigefinger oder Ziele: Bin ich heute meinen Zielen nähergekommen? M für Mittelfinger oder Mentalität/Motivation: Wann habe ich mich heute okay oder sogar gut gefühlt? Was hat mir gut getan? R steht für Ringfinger oder für Relationen/Ratgeber: Habe ich heute jemanden geholfen? Wurde mir geholfen? Hat mir jemand eine Freude gemacht? Habe ich jemandem etwas Gutes getan? 


Und nach dem Glückstag: Der Tag des Waldes


Und schließlich der kleine Finger für Körper: Was habe ich heute für meine Gesundheit getan? Habe ich mich bewegt, war ich spazieren, habe ich okay oder gut geschlafen, Sport getrieben? Gerade in akuten Krisen ist ein solches „Positiv-Training“ – wie ich es gerne nenne und seit 10 Jahren erfolgreich betreibe - hilfreich: Denn vor allem, wenn es einem gerade schlecht geht, ist es wichtig, das Gute an den Tagen herauszuarbeiten. Und sei es auch nur so etwas wie „Ich habe heute meine innere Unruhe ausgehalten“ - denn dann erst ahnt man, dass einem das vielleicht zukünftig wieder gelingen könnte. Oder wird. Dann ist der Weg zum Glück noch immer weit. Aber er lässt sich aktiver gestalten. Apropos: Jeweils einen Tag nach dem "Weltglückstag", also jeweils am 21. März, ist der "Welttag des Waldes". Vielleicht ein Anlass für einen Spaziergang an der frischen Luft (Update 2020: Solange wir wegen der Coronakrise noch keine Ausgangssperre bekommen haben)? Das könnte dann ein neues Immerhin werden... - und im Fall der Ausgangssperre lauschen wir halt den Vögeln draußen... Auch ein Immerhin.  

Ein paar persönliche Gedanken über die Coronakrise: Auch dieses ganz unnormale Leben in der Krise könnte uns einmal normaler vorkommen als wir uns das vorstellen

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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